Pessach in Zeiten von Corona

Ironie des Lebens: Ausgerechnet wegen einer Plage fallen die meisten Pessach-Feiern in diesem Jahr aus. Doch aus Prüfungen ist das jüdische Volk schon oft gestärkt hervorgegangen.

Obwohl Winston Churchill für Großbritannien den Zweiten Weltkrieg erfolgreich beendete, wählten ihn die Briten kurz danach aus dem Amt. Diese Niederlage aber nutzte er zur persönlichen Weiterentwicklung.

Von Dovid Gernetz

An Pessach ist es üblich einen Seder (wörtlich „Ordnung“, eine Sammlung von Bräuchen in einer bestimmten Abfolge) im Kreise der Familie zu veranstalten und die Pessach Haggada (Erzählung von den Wundern in Ägypten und dem anschließenden Auszug) zu lesen. Wir danken und preisen G´tt dafür, dass er uns mit zahlreichen Wundern aus der Hand unserer Peiniger gerettet und aus der Knechtschaft befreit hat.

Es stellt sich jedoch die Frage: War es nicht ebenfalls G‘tt, welcher uns überhaupt erst in die Knechtschaft gebracht hatte, wie er es Abraham versprochen hatte (siehe Bereschit 15:13)?

Bei jedem jüdischen Feiertag, der als Erinnerung an ein besonderes Wunder und die Rettung des jüdischen Volkes festgelegt wurde, wie Chanukka und Purim zum Beispiel, stellt sich die gleiche Frage, ob es nicht auch G´tt war, der die Gefahr erst über uns gebracht hatte – und aus welchem Grunde sollen wir ihm dafür danken, dass er uns schließlich gerettet hat?

Um diese Frage(n) zu beantworten, müssen wir zuerst verstehen, warum G´tt uns überhaupt Schwierigkeiten und Prüfungen schickt.

Das hebräische Wort für Prüfung „Nisayon“ ist wortverwandt mit dem hebräischen Wort „Nes“, welches (außer für „Wunder“, auch) für „Erhöhung“ steht (siehe Bamidbar 21:8) – und im biblischen Hebräisch hat eine wörtliche Verwandtschaft stets eine Bedeutung! Die Kommentatoren erklären, dass eine Prüfung, und generell Schwierigkeiten, den Menschen erheben und ihm sein verstecktes Potenzial und seine wahren Kräfte offenbaren.

Solange der Mensch nicht mit Hürden konfrontiert wird, ist er sich selbst nicht bewusst, welche Kräfte in ihm schlummern und zu was er in Wahrheit fähig ist.

Der weiseste Mensch aller Zeiten, König Schlomo, lehrt uns:

„Ki Scheva Jipol Zaddik Wekam“ – „Denn der Gerechte fällt sieben Mal und steht wieder auf.” (Mischlei 24:16)

Viele Menschen denken fälschlicherweise, dass die Bedeutung dieses Verses sei: „Obwohl der Gerechte sieben Mal fällt, steht er sieben Mal wieder auf.“ Rav Yitzhak Hutner (1906-1980, amerikanischer Rabbiner, Philosoph und Denker) schreibt in einem seiner Briefe, dass die wahre Deutung dieses Verses eine ganz andere ist: „Gerade (und nur) weil der Gerechte ganze sieben Mal fällt und wieder aufsteht, ist er zum Gerechten geworden.”

Wäre der Gerechte nicht mit Schwierigkeiten und manchmal auch damit verbundenen Niederlagen konfrontiert gewesen, wäre er für immer auf dem Niveau geblieben, wo er angefangen hat und hätte keinen Ansporn gehabt weiterzukommen. Nur dank der zahlreichen Hürden konnte er letztendlich das erreichen, was er erreicht hat.

Sir Winston Churchill (1874-1964) war zweimaliger Premierminister von Großbritannien und Nobelpreisträger für Literatur. Er regierte während des Zweiten Weltkrieges und führte sein Land gemeinsam mit den alliierten Mächten zum Sieg über Nazi-Deutschland. Trotz seines großen Erfolges wurde er direkt nach dem Krieg abgewählt.

Anstatt aufzugeben, nutze er die freie Zeit und verfasste die große Marlborough-Biografie und „Der Zweite Weltkrieg“ (The Second World War), ein sechsbändiges Werk über seine Kriegserinnerungen, für welche er 1953 den Nobelpreis für Literatur bekam und von der Königin von England, Elizabeth II., zum Ritter des Hosenbandordens geschlagen wurde. Außerdem wurde er zum zweiten Mal zum Premierminister gewählt und regierte weitere vier Jahre bis zu seinem vorzeitigen Amtsverzicht, aufgrund seines gesundheitlichen Zustandes.

Seine Lebensgeschichte ist ein Beispiel dafür, wie eine Niederlage bzw. Hürde, dem Menschen helfen kann, zu weiteren und größeren Errungenschaften zu kommen. Hätte man ihn nach dem Weltkrieg nicht abgewählt, hätten seine großen Werke möglicherweise niemals das Licht der Welt erblickt und der Nobelpreis für Literatur wäre ihm sicherlich verwehrt geblieben.

Sir Winston Churchill fasste diesen Gedanken in einem seiner berühmtesten Zitate zusammen: „Success consists of going from failure to failure without loss of enthusiasm.” (Übersetzung: „Erfolg liegt darin, von Niederlage zur Niederlage zu gehen, ohne die Motivation zu verlieren”).

Doch dies beschränkt sich nicht nur auf spirituelles Wachstum und politische Karrieren, sondern bezieht sich auch auf die physische Kraft des Menschen.

Der amerikanische Comic-Zeichner Jack „King” Kirby (1917-1994) behauptete eine Mutter gesehen zu haben, welche allein ein Auto hochhob, um ihr darunter gefangenes Baby zu retten, und dies inspirierte ihn zu der Erfindung der bekannten Comic-Figur „Hulk”. Diese Erscheinung wird von den Wissenschaftlern als „Hysterische Stärke” (hysterical strength) bezeichnet und beweist, dass wir Menschen zu weit mehr fähig sind, als es normalerweise scheint.

Wiederum war es eine schwierige oder gefährliche Situation, welche dieses Phänomen zum Vorschein brachte – und wenn es nicht dazu gekommen wäre, würden wir niemals erfahren, welche unmenschlichen Kräfte in unseren Körpern schlummern und nur darauf warten, entdeckt zu werden.

Jetzt verstehen wir, warum uns G´tt Prüfungen schickt und mit Schwierigkeiten konfrontiert, denn das ist der einzige Weg, den Menschen zu motivieren und ihn sozusagen dazu „zu zwingen” auf seine verborgenen Stärken zurückzugreifen und sein wahres Potenzial zu entdecken.

Genauso wie ein individueller Mensch dadurch gestärkt wird und für weitere Herausforderungen bereit ist, so ist es auch bei einem ganzen Volk. G´tt kennt die Zukunft und die zahlreichen Herausforderungen, mit welchen das jüdische Volk konfrontiert sein wird. Kriege, unzählige Vertreibungen und ein Leben im ständigen Exil wird das jüdische Volk in der Zukunft durchleben und überstehen müssen.

Die Knechtschaft in Ägypten war eine Simulation, welche die „Familie Jakovs” zum jüdischen Volk machte und sie auf ihre schwierige Wanderung durch die Jahrhunderte und Jahrtausende vorbereiten sollte. Sie stärkte den Zusammenhalt des jüdischen Volkes und brachte sie näher zueinander.

Kommen wir auf unsere ursprüngliche Frage zurück, warum wir G‘tt für den Auszug aus der ägyptischen Knechtschaft und generell für jede Rettung dankbar sein sollen, wenn auch er es war, der uns da hineingebracht hat.

Mittlerweile verstehen wir jedoch, dass natürlich auch die Knechtschaft in Ägypten und alle Schwierigkeiten, mit denen wir, jeder Einzelne von uns und wir gemeinsam als Volk zu kämpfen haben, stets zu unserem Guten sind und nur dafür da sind, um uns stärker zu machen. Nachdem der Zweck der Mission erfüllt ist und wir gelernt haben, was zu lernen war, danken wir G´tt, dass er uns rettet und aus der schwierigen Lage befreit hat.

Dasselbe gilt auch für unsere aktuelle Situation: Die Welt steckt aufgrund der Corona-Pandemie in einer globalen Krise. In vielen Ländern wurden mittlerweile Ausgangssperren verhängt, um die rasante Verbreitung der Pandemie einzudämmen. Manche Länder sind der Herausforderungen nicht gewachsen, Krankenhäuser sind überfüllt und die Ärzte machtlos. Forscher aus der ganzen Welt sind rund um die Uhr damit beschäftigt, eine Impfung gegen COVID-19 zu entwickeln, aber niemand weiß, wann der Impfstoff verfügbar sein wird.

Niemand kann mit Sicherheit sagen, was genau G´tt damit bezweckt und warum er die Welt mit COVID-19 konfrontiert. Aber wie alles andere auch, ist auch dies nur eine weitere Herausforderung für die Menschheit. Vielleicht soll es uns daran erinnern, dass es Menschen gibt, welche unsere Hilfe benötigen und wir diese nicht vernachlässigen dürfen? Bisher hat uns Corona gezwungen, bessere Menschen zu sein und uns gegenseitig zu unterstützen. Vielleicht wird Corona auch stark genug sein, um den Zusammenhalt der Menschheit, unabhängig von Geschlecht, Herkunft und Religion zu stärken und globale Konflikte zu lösen?

Wir werden sehen.

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