Tuvia Tenenbom: „Gott spricht Jiddisch – Mein Jahr unter Ultraorthodoxen“

Roboter haben es nicht leicht als Schriftsteller.© KATERYNA KON/SCIENCE PHOTO LIBRAKKOScience Photo Library via AFP

Mea Shearim, die Stadt der 100 Tore, ist Heimat der charedischen Gemeinde, die selbst für viele säkulare Israelis verschlossen bleibt – doch der bekannte und beliebte jüdische Schriftsteller Tuvia Tenenbom hat den passenden Schlüssel: Er spricht Jiddisch. Als junger Mann verließ der Sohn eines Rabbiners das orthodoxe Stadtviertel Jerusalems und suchte in New York nach Antworten auf seine Lebensfragen. Dort studierte er zahlreiche Universitäts-Fächer förmlich rauf und runter, eröffnete ein jüdisches Theater und schrieb mehrere Bestseller wie „Allein unter Deutschen“ oder „Allein unter Juden“, um nur zwei davon zu nennen. Für sein aktuelles Buch „Gott spricht Jiddisch – Mein Jahr unter Ultraorthodoxen“ begab sich Tenenbom wieder zurück auf die Straßen seiner Kindheit in Mea Shearim. (JR)

Von Filip Gašpar

Der israelisch-amerikanische Autor Tuvia Tenenbom hat es wieder getan. Nach den Deutschen, Israelis, Amerikanern, Flüchtlingen und Briten kommt nun sein wahrscheinlich persönlichstes Buch bei Suhrkamp mit dem Titel „Gott spricht Jiddisch“.

Warum Jiddisch und nicht Hebräisch? Die Antwort gibt der Autor in seinem typisch schwarzen Humor: „In welcher Sprache, fragen Sie sich vielleicht, redete Abraham der Patriarch mit seinem weißen Esel? Jiddisch natürlich. In welcher anderen Sprache, seien wir ehrlich, könnte sich ein Schtreimel-bewehrter Jude, der in Ägypten lebt, mit seinem weißen Esel verständigen? Nur auf Jiddisch.“

 

Hühner mit der Machteiner Atombombe

Es ist sein sechstes Buch, aber dennoch anders als die restlichen Werke aus der „Alleine unter...“-Reihe. Für den Dramatiker und Gründer des Jewish Theater of New York, Tuvia Tenenbom, ging es nach Mea Sharim, den Ort seiner Kindheit, wo nicht nur Jiddisch gesprochen wird, sondern die dort ansässigen Hühner mehr Macht als eine Atombombe haben. Im Jerusalemer Stadtteil Mea Sharim, der größtenteils von Ultraorthodoxen bewohnt wird, musste er sich nicht verstellen, seine Identität wechseln oder leugnen und sich als „Tobi der Deutsche“ ausgeben, sondern er durfte bzw. musste gar sein, was er ist: Tuvia Tenenbom, der in eine ultraorthodoxe Familie geboren worden ist, die er später verließ, um nach New York zu gehen, und damit auch diese ultraorthodoxe Welt hinter sich zu lassen. Dabei war Tenenbom eine große Zeit als Rabbi prophezeit worden, nachdem er Tora und Talmud an einer Jeschiwa, also einer religiösen Hochschule studiert hatte. Doch es sollte anders kommen. Mea Sharim bedeutet „Hundert Tore“ und Tenenbom nimmt den Leser mit auf die Reise, nicht nur in seine eigene Kindheit, sondern auch in eine andere Welt.

Jüdische Freunde warnten ihn vor seinem einjährigen Rechercheaufenthalt für das Buch vor den Einwohnern Mea Sharims: „Das hältst du keine Nacht lang aus“, sagte mir ein gläubiger Jude. „20 Charedim werden sich um dein Hotel versammeln, sobald du es bezogen hast, Steine nach deinem Fenster werfen und brüllen: ‚Raus hier, Ungläubiger!‘.“ Dass es ganz anders kam, wird schon auf den ersten Seiten deutlich.

 

Sexuelle Prüderie in New York

Das einst progressive und weltoffene New York, in das Tenenbom flüchtete, ist heute nicht mehr offen und unter seiner Progressivität versteht man eher eine Intoleranz, die viele westliche Leser auf geschlossene Gemeinschaften, wie die der Ultraorthodoxen, projizieren. Tenenbom beschreibt dies am Umgang mit den Frauen und der Metoo-Debatte.: „Und wenn Sie heute in New York City ein Mann sind und Ihren guten Namen behalten wollen, dann vermeiden Sie am besten jeden Kontakt mit den Ladys der Stadt. Wenn meine charedischen Rabbis von einst jetzt nach New York kämen, würden sie sich bei den glühendsten Atheisten der Stadt wie zuhause fühlen. Komische Welt.“

Das Buch ist in Tenenboms typischer Reportageform geschrieben, bei der der Humor nicht zu kurz kommen darf. Er zeigt die orthodoxe Gemeinschaft in all ihren Facetten, aber auch Widersprüchlichkeiten. So begegnen Tenenbom beim Spazieren durch Mea Sharim Graffitis wie „Zionisten – euer Ende ist nah“, „Tod den Zionisten“, „Zionisten sind Nazis“ oder „Wir fordern: Holocaust für die Zionisten“ und das sind nur einige der Graffitis. Das Interesse westlicher Medien an Mea Sharim fokussiert sich, wenn überhaupt auf diesen zur Schau jüdischen Antizionismus. Etwas, das Tenenbom bereits zur Genüge in „Allein unter Juden“ kritisierte, und zwar, dass es für westliche Medien doch nichts Schöneres gibt als sich selbst hassende Juden, die Israel kritisieren. Zum Beispiel der Reb Israel Meir, der zu Hause aufgesucht wird: „Er (Reb Israel Meir) glaubt nicht an den Staat Israel, und die Zionisten sind für ihn ein Ausdruck des Bösen, was ihn zu einem Liebling jener Auslandsjournalisten macht, die Israel verunglimpfen wollen.“

Doch das Buch versucht nicht Kronzeugen gegen den jüdischen Staat zu finden, noch besonders abwegige religiöse Ansichten aufzuzeigen. Der Autor ist mehr daran interessiert, wie die Gemeinschaft heute funktioniert und tickt. Er nimmt die Gastfreundschaft an, taucht bewusst in die Gemeinschaft ein, isst, trinkt, betet und singt mit ihnen und verlässt die Distanz eines Reporters, ohne jemals die kritische Distanz nicht zu wahren. Er schreibt auf, was er sieht und hört – schon lange keine Selbstverständlichkeit mehr unter Journalisten.

 

Fragen über Fragen

Dieses Mal betritt Tenenbom erstmals einen eher homogenen Kosmos und bewegt sich auch örtlich in kleinerem Rahmen, wenn es um eines seiner Bücher geht und nicht wie in früheren Büchern, wo es ihn durch ganze Länder führte, wie beispielsweise nach Deutschland, die USA oder Großbritannien. Auf der einen Seite ist die große Herzlichkeit und Gastfreundschaft der Einwohner von Mea Sharim, auf der anderen Seite irritiert die extreme Frömmigkeit und der teils blinde Gehorsam dem eigenen Rabbi gegenüber, der eine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben manchmal im Wege steht.

Er trifft öfters auf Gelehrte und welche, die sich dafür halten, die ihm aber mitunter simple und doch wichtige Fragen nicht beantworten können, oder nicht beantworten wollen. Er fragt öfters, warum ein Mann eine Frau nicht anschauen dürfe, und wenn als Antwort kommt, dass dies so geschrieben stehe, verlangt Tenenbom, dass man ihm die Stelle zeige. „Diese Fragen, antworteten die Rabbis, sind kfire, ketzerisch, daher sollte man sich auch nie mit solchen Fragen beschäftigen. Nur Ungläubige, sagten sie, schauten Frauen an, und nur Ungläubige würden Fragen zu Glaubensangelegenheiten stellen.“

Oder auch die Frage nach den Kleidungsvorschriften, die ihm keiner so richtig beantworten kann. Es ist halt Tradition: „Ehrlich gesagt liegt die Wahrscheinlichkeit, dass der Patriarch Abraham oder Moses der Gesetzgeber vor Tausenden von Jahren in Ägypten einen Schtreimel trug, unter null, wie ja auch die Bibel oder der Talmud nie einen erwähnen.“ Solche komischen, aber auch teilweise frustrierenden Passagen, ziehen sich durch das gesamte Buch. Tenenbom liefert keine Begründung für diese Theorien und versucht dies auch nicht. Sein Verdienst ist es, den aufmerksamen Beobachter zu geben, der all diese Ungereimtheiten und Widersprüche aufnimmt und mit dem Leser teilt.

 

Neue Einigkeit

Das Buch ist vor dem „Schwarzen Shabbat“, also dem 7. Oktober 2023 fertiggestellt worden und die Reaktionen der Ultraorthodoxen auf den Überfall der Hamas kommen somit nicht mehr im Buch vor. Tenenbom erläuterte bei der Buchvorstellung am 29. November im Roten Salon der Berliner Volksbühne, wie er den 7. Oktober in Israel erlebte und welche Auswirkungen es auf die Einwohner Mea Sharims hatte. Er führte aus, dass diese Ereignisse eine einende Wirkung gehabt hätten, der den Antizionismus aus den Köpfen der Ultraorthodoxen getrieben hätte, was dazu führte, dass sich einige nun sogar zum Militär meldeten. Vorbei werden somit in Zukunft Szenen wie im Buch sein, wenn die israelische Polizei von den Ultraorthodoxen als „Nazipolizei“ bezeichnet wird, während sie diese vor arabischen Steinewerfern beschützt.

 

Am Ende wirft Tenenbom einen versöhnlichen Blick zurück auf seinen Aufenthalt: „Ich fühle mich hier mehr zuhause, als ich es je in New York oder Berlin getan habe, und würde das auch nie bestreiten. Hier ist der einzige Ort auf Erden, wo niemand mich hasst, weil ich ein Jude bin. Nicht nur das, sondern man liebt es sogar, dass ich jüdisch bin, was sich fantastisch anfühlt.“ Wir können alle nur hoffen, dass es so bleibt.

 

Tuvia Tenenbom, „Gott spricht Jiddisch. Mein Jahr unter Ultraorthodoxen“,

575 S., Suhrkamp, 2023, ISBN:

978-3-518-47335-1, 20 Euro,

E-Book 16,99 Euro

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