Paraschat Wajikra
Die Tora fordert auch bei einer unbewussten Sünde ein Sündopfer.© GIL COHEN-MAGEN / AFP
Wajikra ist das kleinste Buch der Thora. Sie beinhaltet zehn Paraschot und achthundertneunundfünfzig Verse. Zentrales Thema dieser Abschnitte ist das Opfern.
Das vierte Kapitel des Buches Levitikus handelt ausschließlich von Sündopfern. Es gibt verschiedene Arten von Sündopfern: solche die von einer Privatperson dargebracht werden für unabsichtliche Vergehen (4:2,27-35); solche vom Hohenpriester, der schuldig geworden ist „so dass das Volk schuldig wird“ (4:3-12); solche im Namen der ganzen Gemeinde, wenn diese unwissentlich schuldig geworden ist (4:13-21); und solche von einem Fürsten, der „sündigt und ohne Absicht irgendetwas tut, was nach den Geboten des Ewigen nicht getan werden darf“ (22-26). Alle hier aufgezählten Sünden werden unbewusst (בִּשגָגָה/bischgaga) begangen und trotzdem schreibt die Tora ein Sündopfer vor.
Es stellt sich die grundsätzliche Frage, warum eine Person, die unwissentlich gesündigt hat, ein Opfer bringen soll. Schließlich handelt es sich nicht um eine Person, die absichtlich etwas Böses getan hat und bestraft werden muss, sondern um eine Person, die etwas tut, sei es aus Vergesslichkeit oder aus Versehen, von dem sie später feststellt, dass es verboten war. Warum bestraft die Tora eine solche Person? Welche Logik steckt dahinter, von einer Person, die unwissentlich gesündigt hat, ein Opfer zu verlangen? Viele Rabbiner haben diese Frage diskutiert. Einige ihrer Ansichten zu diesem Thema werden im Folgenden dargestellt.
In 4:2 lesen wir: „Wenn eine Person (wörtlich: Nefesch/Seele) ohne Absicht gegen eines von den Geboten des Ewigen sündigt und irgendetwas tut, was nach den Geboten des Ewigen nicht getan werden darf…“ Nachmanides (geb. 1194 Gerona, gest. 1270 Akko) kommentiert diesen Vers wie folgt:
a der Denkprozess in der Seele stattfindet und sie es ist, die den Fehler begeht, spricht die Schrift hier von Nefesch (Seele). Der Grund für die Opfergaben für die irrende Seele liegt darin, dass alle Sünden, auch die unbewusst begangenen, einen gewissen „Fleck“ auf der Seele hinterlassen und einen Makel darstellen, und dass die Seele nur dann würdig ist, vom Angesicht ihres Schöpfers empfangen zu werden, wenn sie von allen Sünden rein ist. Wäre dies nicht der Fall, würden alle Narren der Welt es verdienen, vor Ihn zu treten. Deshalb bringt die irrende Seele ein Opfer dar, durch das sie würdig wird, zu Gott zu kommen, der sie gegeben hat. Deshalb spricht die Schrift hier von Nefesch (Seele).“
Die Seele des Sünders reinigen
Nachmanides geht davon aus, dass alle menschlichen Handlungen auf das Denkvermögen zurückzuführen sind, das in der Seele wohnt. Auch wenn ein Mensch nicht die Absicht hatte zu sündigen und seine Sünde unwissentlich und unbeabsichtigt begangen hat, ist die sündige Handlung dennoch dem Denken des Menschen entsprungen (was wir heute als „Unterbewusstsein“ bezeichnen würden). Außerdem sind auch unbewusst begangene Sünden ein Schandfleck auf der Seele des Menschen. Das Opfer dient dazu, die Seele des Sünders zu reinigen und ihn auf die Nähe Gottes vorzubereiten, wenn seine Zeit gekommen ist, wie es geschrieben steht: „der Lebensgeist kehrt zurück zu Gott, der ihn gegeben hat“ (Prediger 12:7).
Rabbiner Samson Raphael Hirsch (geb. 1808 Hamburg, gest. 1888 Frankfurt a.M.) bietet eine andere Erklärung:
„Dem שוגג (unbewussten Sünder) liegt im Momente der שגגה (Unwissenheit) die Gesetzmäßigkeit seiner Handlungsweise nicht mit dem gebührenden Ernste am Herzen, er ist in dem Augenblicke nicht חרד על דבר ה׳ (zittert nicht vor Gottes Wort), wie es der Prophet ausdrückt (Jes. 66:2). Eben in diesem Mangel an Achtsamkeit auf den gesetzentsprechenden Charakter seiner Handlungen liegt das Sündhafte des Irrtums…“
Im Gegensatz zu Nachmanides verweist R. Samson Raphael Hirsch die unbewusst begangene Tat nicht auf das Unterbewusstsein, sondern betont das Element der Unachtsamkeit, die Gefahr, unbedacht zu sein, nicht genügend auf jede seiner Handlungen zu achten. Obwohl der Zweck des Opfers darin besteht, eine Sünde zu sühnen und eine unbewusst begangene Tat wiedergutzumachen, dient es einem anderen, nicht weniger wichtigen Zweck, nämlich eine Person dazu anzuhalten, Sünden mit größerer Sorgfalt zu vermeiden und bei allen Handlungen vorsichtig zu sein.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Rabbiner David Zwi Hoffmann (geb. 1843 Verbo, gest. 1921 Berlin):
„Nach der Tradition unserer Weisen gibt es zweierlei Arten von שוגג (unbewusste Sünden), eine in Bezug auf das Gesetz oder den Inhalt des Gesetzes: die Person wusste nicht, dass dies verboten ist. Die andere Art in Bezug auf die Tat: die Person wusste wohl, was das Gesetz verbietet, wusste aber nicht, dass sie mit dieser Tat gegen das Gesetz handle. Selbst ein שוגג (unbewusster Sünder) bedarf der Sühne, denn der Sünder hat es an der nötigen Vorsicht und Achtsamkeit fehlen lassen. Es wurde Israel geboten sich in Acht zu nehmen, Vorsichtsmaßregeln zu treffen, dass sie den Weg Gottes nicht verfehlen. Es muss jeder seine Schritte vorher erwägen und dahin lenken, auf dass er stets auf dem Wege Gottes verbleibe“.
Unbewusste Sünde eine Art Nachlässigkeit
Rabbiner David Zwi Hoffmann geht in seinen Ausführungen von der gleichen Grundannahme aus wie Rabbiner Hirsch: dass die unbewusste Sünde in erster Linie auf mangelnde Aufmerksamkeit des Sünders zurückzuführen ist: entweder auf die Nichtbeachtung des Gesetzes oder auf die Nichtbeachtung der eigenen Handlungen. In jedem Fall ist die unbewusste Sünde eine Art Nachlässigkeit.
Nach der allgemeinen Aussage über die Sündopfer (Vers 2) geht die Tora auf die Sünden ein, die der „gesalbte Priester“ begangen hat. Die Sprache der Tora ist hier ungewöhnlich: „Sündigt der gesalbte Priester, so dass das Volk schuldig wird“. Was bedeutet es, „er sündigt, so dass das Volk schuldig wird“? Ibn Esra (geb. 1089 Toledo, gest. 1164 Rom) erklärt es so: Die Sünde des Hohepriesters bestand darin, dass er falsche Anweisungen gab, die das Volk unwissentlich zur Sünde verleiteten. Mit anderen Worten: Der Hohepriester sündigte selbst, wenn auch versehentlich, indem er dem Volk falsche Anweisungen gab, die es befolgte. Diese Interpretation bürdet dem Hohenpriester eine größere Verantwortung auf: Wenn er nicht sehr vorsichtig ist, könnte er das ganze Volk in die Irre führen.
Sforno (geb. 1470 Cesena, gest. 1550 Bologna) bietet eine ganze andere Erklärung, die genau das Gegenteil besagt: Nicht der Priester ist die Ursache der Sünde, sondern das Volk, das durch seine Schuld ihn sündigen lässt; ähnlich heißt es in der Mischna (Berachot 5:5): „Wenn der Betende irrt, ist es ihm ein schlimmes Vorzeichen. Ist er der Gemeinde-Vorbeter und irrt, ist es ein schlimmes Vorzeichen für die Gemeinde.“
Sforno sagt, dass der Hohepriester wegen des Volkes gesündigt hat. Diese Aussage bürdet dem Volk eine enorme Verantwortung auf: Wenn das Volk nicht richtig handelt, trägt der Hohepriester die Schuld. Auf der anderen Seite wird nach Ibn Esra auch der Hohepriester in die Verantwortung genommen: Es ist seine Aufgabe, das Volk zu führen, es zu warnen, damit es nicht sündigt. Hier wird eine klare wechselseitige Botschaft vermittelt: Es gibt und kann keine Trennung zwischen dem Volk und seinen geistlichen Führern geben. Beide sind untrennbar miteinander verbunden, die eine Seite ist verpflichtet, Führung und Orientierung zu geben, die andere Seite ist verpflichtet, das Böse zu meiden.
Wenn der Vers tatsächlich von der unwissentlichen Verfehlung des Volkes und nicht des Priesters spräche, dann wären die weiteren Verse überflüssig: „Vergeht sich aber die ganze Gemeinde Israels, ohne dass die Versammlung es bemerkt… und werden schuldig“ (4:13). Unsere Weisen interpretieren den Vers so, dass er von einer Fehlentscheidung des Sanhedrins, des höchsten Gerichts, handelt. Das Volk folgt dem Gericht und sündigt.
Anders ist dieser Vers nicht zu erklären. Denn sündigte das Volk oder der größte Teil des Volkes, dann griffen die Gesetze des Einzelnen (4:27-35). Wenn z.B. die Gemeinde versehentlich den Schabbat bricht, müsste jeder Einzelne für sich ein Opfer bringen, da es praktisch unmöglich ist, dass alle Einzelpersonen unwissentlich den Schabbat brechen, es sei denn, sie wurden von jemandem versehentlich irregeführt, in unserem Fall durch eine rechtswidrige Entscheidung des Sanhedrin.
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