Ki Tisa – Warum zerbracht Moses die Tafeln des Bundes?

Nicolas Poussin: Die Anbetung des Goldenen Kalbes (1633–1634)© WIKIPEDIA

Als Moses nach 40 Tagen vom Berg Sinai herabstieg und den wiedererwachten Götzendienst als auch die Ausschweifungen seines Volkes erblicken musste, zerschmetterte er die Vertragsurkunde zwischen Gott und Israel. Der Abschnitt Ki Tisa erklärt, warum ein Volk, das 400 Jahre in Sklaverei lebte und nur die Vielgötterei der Ägypter kannte, mit der Vorstellung eines einzigen körperlosen Gottes haderte. (JR)

Von Rabbiner Igor Mendel Itkin

Moses stieg auf den Berg Sinai und blieb dort 40 Tage. Gott gab ihm Anweisungen, wie er das Stiftszelt bauen, wie er dort Opfer darbringen sollte und andere Einzelheiten. Zum Schluss erhielt Moses von Gott zwei Tafeln, auf denen die zehn Gebote eingraviert waren. Sie waren sozusagen die Vertragsurkunde zwischen Gott und Israel.

Während Moses auf dem Berg Sinai verweilte, standen die Israeliten um den Berg herum und beschlossen dann, ein goldenes Kalb aus Gold zu gießen und ihm zu opfern. Wie konnten sie so tief fallen? Schließlich haben die Israeliten so viele Wunder gesehen, wie die Spaltung des Meeres, die zehn Plagen, sie haben Gott die zehn Gebote verkünden hören, und jetzt beten sie ein Götzenbild an?

 

Monotheismus war Herausforderung für Vorstellungsvermögen

Wir müssen verstehen: Diese Menschen haben ihr Leben lang als Sklaven in Ägypten gelebt. Und nicht nur sie, auch ihre Eltern, Großeltern und Urgroßeltern wuchsen in einer Kultur des Götzendienstes auf, mit einem Pantheon von Göttern und ihren Tempeln. Jetzt, wo sie drei Monate frei waren, sollten wir ihnen nicht verübeln, dass ein körperloser Gott für sie nur schwer zu begreifen war. Man könnte einwenden, die Israeliten hätten gegen das Gebot verstoßen „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir (Ex. 20:3)“, dieses Verbot haben sie von Gott persönlich erst kürzlich gehört, da hilft keine Rechtfertigung mit einer schwierigen Kindheit und mangelndem Vorstellungsvermögen. Doch was genau die Israeliten verbrochen haben und was sie mit dem goldenen Kalb vorhatten, ist alles andere als klar. Einerseits wollten sie mit dem goldenen Kalb nicht Gott, sondern Moses ersetzen, wie aus dem Vers hervorgeht: „Das Volk aber sah, dass Mose lange nicht vom Berg herabkam. Da versammelte sich das Volk um Aaron, und sie sprachen zu ihm: Auf, mache uns Götter, die vor uns herziehen. Denn dieser Mose, der Mann, der uns aus dem Land Ägypten heraufgeführt hat, wir wissen nicht, was mit ihm geschehen ist“ (Ex. 32:1).

Ohne Moses' Führung war das Volk verzweifelt, das Kalb sollte nicht Gott, sondern Moses ersetzten und sie durch die Wüste führen, wie auch immer sie sich das vorstellten. Dass dies ihre Sünde war, ist die Position einiger Kommentatoren (Ibn Ezra, Ramban). Andere (Jehuda Halevi) meinen, dass sie Gott durch eine Statue veranschaulichen wollten, wie sie es aus Ägypten kannten und was in den Zehn Geboten nicht ausdrücklich verboten ist. Doch die Grenze, das goldene Kalb mit einer fremden Gottheit selbst zu verwechseln und es zu vergöttern, ist offensichtlich schmal, und diese Gefahr ist einer der Gründe für das Verbot, Kultbilder oder Ähnliches zu schaffen.

Den Israeliten erschien ihr Handeln jedenfalls nicht falsch. Sie waren noch nicht zu Monotheisten umerzogen worden. Aber Gott ging hart ins Gericht mit seinem Volk und während die Israeliten unten Opfer darbrachten, informierte Gott Moses über ihre sündigen Taten und seinen Wunsch, das Volk zu vernichten. Moses trat für das Volk ein, bat um Vergebung und Gott vergab: „Da reute es den Ewigen, dass er seinem Volk Unheil angedroht hatte“ (Ex. 32:14). Darauf stieg den Berg hinab, sah Volk und Kalb, zerbrach die Tafeln, zerstörte das Kalb, mischte es mit Wasser und ließ es die Israeliten trinken.

 

Die Tafeln am Fuße des Berges zerschmettert

Warum brachte Moses die Tafeln vom Berg hinab, als er hörte, wie die Israeliten gesündigt hatten und zerbrach sie im Lager? Es wäre angemessener gewesen, sie auf dem Berg zu lassen oder sie dort zu zerbrechen, denn das sündige Volk war es nicht wert, sie zu empfangen. Was nützte es, die Tafeln vom Berg herabzubringen, wenn er sie am Fuße des Berges zerschmettern würde?

Die jüdischen Kommentatoren geben verschiedene Antworten: 1) Moses wurde zornig, als er sah, was vor sich ging, denn Sehen ist nicht wie Hören, und in seinem großen Zorn zerbrach er die Tafeln (Raschbam). Dem wird entgegengehalten, dass es einem Mann wie Moses nicht gut ansteht, sich von seinen Gefühlen leiten zu lassen, schon gar nicht, wenn es um die heiligsten Dinge geht. 2) Es war ein demonstrativer Akt, der sich an Israel richtete. Er tat dies, um ihnen die Schwere ihrer Sünde und das Ausmaß ihres Verlustes bewusst zu machen (Abarbanel). 3) Indem Moses die Vertragsurkunde zerstörte, schützte er das untreue Volk vor dem Zorn Gottes, der von ihm betrogen wurde. 4) Moses hoffte, dass das Volk Buße tun würde, wenn es ihn mit den Tafeln herabsteigen sähe (Sforno). Doch man fragt sich bei dieser Erklärung, wann das Volk die Gelegenheit gehabt hätte, Buße zu tun, da er die Tafeln zerbrach, sobald er sich dem Lager näherte.

Rabbiner Dr. Menahem Ben-Jaschar (geb. 1924 Berlin, gest. 2022 Jerusalem) machte folgende Beobachtung: In der Beschreibung der Einweihungsfeier des Goldenen Kalbes heißt es: „Sie opferten Brandopfer und brachten Heilsopfer dar, und das Volk setzte sich, um zu essen und zu trinken. Dann standen sie auf, um sich zu vergnügen (letzahek)“ (Ex 32:6). Sowohl in der rabbinischen Literatur wie auch in der modernen Bibelwissenschaft wird das Wort letzahek (vergnügen, lachen) mit sexueller Zügellosigkeit in Verbindung gebracht, die im alten Vorderen Orient tatsächlich mit religiösen Feiern, vor allem Fruchtbarkeitsriten, einherging und bei denen die Figur des Kalbes für die Fruchtbarkeit der Natur stand. Das sah Moses, als er vom Berg herabkam. Joschua, sein Gehilfe, traf ihn am Berghang, hörte Schreie aus dem Lager und deutete sie entsprechend seiner früheren Kriegserfahrung: „Im Lager ist Kriegslärm“ (Ex. 32:17). Moses korrigierte ihn: „Das klingt nicht wie ein Siegeslied und auch nicht wie ein Klagelied; ich höre einen anderen Gesang“. Das sah Mose, als er sich dem Lager näherte: „als er sich dem Lager näherte, sah er das Kalb und die Reigentänze“ (Ex 32,19). Moses sah das Kalb, von dem er bereits wusste, und den Tanz, von dem er nichts wusste, weil er erst vor seinen Augen begann. Es waren die orgiastischen Tänze der sexuellen Ausschweifung, die ihn veranlassten, die Tafeln zu zerschlagen. Er entdeckte nicht nur theologische Verirrungen bei den Israeliten, sondern auch ein damit einhergehendes verdorbenes Sexualverhalten.

Wir können das Volk verstehen: Ein Volk von Sklaven, das vom Joch der harten Arbeit befreit worden war und dem ein Fest in der Wüste versprochen worden war, feierte nun ein Fest des unersättlichen Essens und Trinkens und der völligen Zügellosigkeit. Daran zerbrach Moses, und auch die Tafeln des Bundes, die Vertragsurkunde zwischen Gott und Israel, zerbrachen.

Die Weisen verglichen die von Moses befohlene Handlung, die Israeliten Wasser trinken zu lassen, das mit der Asche des verbrannten Kalbes vermischt war (Ex. 32:20), mit dem Ritual einer untreuen Frau (Sota): Die Frau war ihrem Mann untreu, die Israeliten ihrem Gott. Beiden Ritualen liegt ein Element sexueller Ausschweifung zugrunde. Moses brauchte weitere vierzig Tage des Flehens (Deut. 9:18-19), um für diese doppelte Sünde Sühne zu erbitten.

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