Zum Wochenabschnitt „Jitro“ – Was ist das Besondere an den Zehn Geboten?

Dekalog-Pergament von Jekuthiel Sofer, 1768 (heute in der Bibliotheca Rosenthaliana, Amsterdam)© WIKIPEDIA

Die Zehn Gebote, die auch als erste frühe Formulierung der Menschenrechte betrachtet werden können, spielen in der gesamten Hebräischen Bibel eine zentrale Rolle, aber warum eigentlich? Was unterscheidet sie von den restlichen 603 Geboten? (JR)

Von Rabbiner Igor Mendel Itkin

Die Zehnt Gebote, wörtlich zehn Aussprüche, werden unter Feuer, Rauch und Beben am Berg Sinai von Gott offenbart. Im Gegensatz zu den anderen Geboten des Pentateuchs werden die Zehn Gebote nicht durch Moses vermittelt, sondern das Volk hörte sie direkt von Gott. Das Hören der Stimme Gottes versetzte das Volk in Angst und Schrecken und es bat Moses um Vermittlung: „Rede du mit uns, und wir wollen hören. Gott aber soll nicht mit uns reden, damit wir nicht sterben“ (Ex. 20,19). Zusätzlich gab Gott die Gebote auf zwei Tafeln aus Stein verschriftlicht. All dies weist auf die Wichtigkeit der zehn Gebote hin, die auf den ersten Blick nicht offensichtlich ist.

Viele jüdische Denker und Philosophen haben sich mit der Frage nach der Bedeutung der Zehn Gebote auseinandergesetzt. Im Folgenden will ich einige ihrer Antworten vorstellen.

Nach Rabbiner David Fohrman kann man sie anstatt als eine Reihe von zehn Geboten, als eine Reihe von fünf Geboten mit zwei Erscheinungsformen betrachten. Die linke und die rechte Seite spiegeln sich wider und haben im Kern das gleiche Prinzip.

1. Ich bin dein Gott

2. Keine anderen Götter haben

3. Gottes Namen nicht missbrauchen

4.Den Schabbat heiligen

5. Eltern ehren

6. Nicht morden

7. Nicht ehebrechen

8. Nicht stehlen

9. Nicht als falscher Zeuge aussagen

10. Nicht beneiden

Lucas Cranach der Ältere schuf 1516 ein großes Wandbild für den Gerichtssaal in Wittenberg.

So entspricht das 1. Gebot, das vom Glauben an Gott handelt, dem 6. Gebot, dem Verbot von Mord. Ihr gemeinsames Prinzip ist, dass der Mensch im Ebenbild Gottes erschaffen wurde: „Wer einen Menschen tötet, so ist es, als hätte er die ganze Welt getötet“ (Sanhedrin 4:5). Das 2. Gebot, keine anderen Götter anzubeten, entspricht dem 7. Gebot, nicht fremdzugehen. Ihr gemeinsames Prinzip ist die Verletzung einer Beziehung. Das 3. Gebot, den Namen Gottes nicht vergeblich auszusprechen, entspricht dem 8. Gebot, nicht zu stehlen. Nach der jüdischen Tradition bezieht sich das 8. Gebot auf Menschenraub und so wie wir uns in der Welt mit unserem Körper ausdrücken, tut Gott das gleiche mit seinem Namen. Das 4. Gebot, den Schabbat zu heiligen entspricht dem 9. Gebot, vor Gericht nicht falsch auszusagen. Ihr gemeinsamer Grundsatz ist der Schutz der Wahrheit. So wie wir durch Schabbat Zeugnis ablegen von Gottes Schöpfung, „denn in sechs Tagen hat der Ewige den Himmel und die Erde gemacht, das Meer und alles, was in ihnen ist, dann ruhte er am siebten Tag. Darum hat der Ewige den Schabbat gesegnet und ihn geheiligt“ (Ex. 20:11), so sollen wir auch vor Gericht die Wahrheit bezeugen. Das 5. Gebot, die Eltern zu ehren, entspricht dem 10. Gebot, andere nicht zu beneiden. Ihr gemeinsames Prinzip ist die Selbsterkenntnis, denn wer neidisch ist, ist unzufrieden mit sich selbst und will so sein wie die anderen. Aber so wie man mit seinen Eltern zufrieden und dankbar für alles sein soll, was man hat, so soll man auch mit sich selbst und seinem Besitz zufrieden sein.

 

Verschiedene Interpretationen der 10 Gebote

Andere, wie Rabbi Honigwachs, sehen in dieser Entsprechung Wachstumsstufen einer gesellschaftlichen Entwicklung von der Stufe der Anarchie und des Egoismus zur Stufe der Einheit mit allen Menschen und mit Gott. Das 1. und 6. Gebot stellen somit die erste Stufe dieser Entwicklung dar. Sie besteht in der Akzeptanz der Existenz anderer. Die zweite Stufe, das 2. und 7. Gebot, besteht in der Akzeptanz des Bereichs anderer. Die dritte Stufe, das 3. und 8. Gebot, besteht in der rechtmäßigen Nutzung des Eigentums. Die vierte Stufe, das 4. und 9. Gebot, besteht in der Bereitschaft zur Zusammenarbeit, insbesondere durch die Sprache. Die fünfte und letzte Stufe, das 5. und 10. Gebot, besteht in der völligen Einheit.

Es gibt noch viele andere Interpretationen, was das Wesen der 10 Gebote ist, aber wir haben uns bisher mit den Details beschäftigt, wie stehen die 10 Gebote im globalen Kontext?

In den heidnischen Kulturen der biblischen Welt wurden die Götter als mächtige aber nicht als moralische Kräfte oder Naturgewalten angesehen, die in der Natur wirken und menschliche Angelegenheiten beeinflussen, nicht als Ausdruck eines moralischen Willens, sondern als Ausdruck ihrer Macht. Nach heidnischer Auffassung können die Götter durch Opfer oder andere rituelle Handlungen beeinflusst oder besänftigt werden, rituelle Handlungen gelten als das Wesen der Religion.

Die große Revolution der hebräischen Bibel ist die Art und Weise, wie Gott dargestellt wird, als ein moralischer Gott, der Moral fordert. Dies drückt sich in dem ersten Gebot aus, in dem Gott nicht als Schöpfer und Herrscher des Universums, nicht als Gott der Macht, sondern als Gott Israels, als Gott der Offenbarung und Erlösung vorgestellt wird, der das Volk Israel aus Sklaverei und Unterdrückung erlöst hat: „Ich bin der Ewige, dein Gott, der dich herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, aus einem Sklavenhaus“ (Ex. 20:2). Aus der Tatsache, dass Gott in die Geschichte eingreift, um die Kinder Israels aus der Unterdrückung zu befreien, leiten wir ab, dass Gott Moral fordert und diese revolutionäre Vorstellung von Gott wiederum verwandelt das Wesen der Religion von ritueller Praxis der heidnischen Vorstellung in eine moralische Religion. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit gibt es also eine Verbindung zwischen Religion und Moral, in der das Wesen der Religion als Moral verstanden wird.

 

Universelle Gebote

Die zehn Gebote enthalten eher moralische und universelle als rechtliche Gebote. Dabei können wir den Schabbat als Ruhetag für alle Menschen verstehen, aus dem später das Wochenende wurde. Die Gebote sind in der zweiten Person Singular geschrieben, weil sie sich ohne prophetische Vermittlung direkt an das Volk Israel richten und sie sind als absolute Gebote formuliert (z. B. „Du sollst nicht morden“), die nicht von einem bestimmten Fall oder Bedingungen abhängen. Die Gebote, die nach der Offenbarung der zehn Gebote folgen, sind größtenteils in der dritten Person Singular verfasst und werden durch die Vermittlung von Mose überliefert und sie sind gesetzlicher Natur, an bestimmte Bedingungen und Umstände gebunden und von diesen abhängig.

Die Gesetze über die Sklaverei zum Beispiel beginnen mit einem Gebot, das rechtlicher, Natur ist: „Wenn du einen hebräischen Sklaven kaufst, soll er sechs Jahre dienen“ (Ex. 21, 2). Die konditionale Form (wenn, dann) weist darauf hin, dass das Gesetz an einen bestimmten Fall gebunden ist und kein absolutes Gebot darstellt, wie im Fall der zehn Gebote. Das Gesetz verlangt oder verbietet nicht, dass man einen Sklaven besitzt. Vielmehr regelt das Gesetz die Bedingungen, unter denen man einen Sklaven besitzen darf. Solche bedingten Gesetze spiegeln die besonderen sozialen Bedingungen einer alten Agrargesellschaft wider, in der Sklaverei erlaubt war. Die zehn Gebote haben die Form von absoluten moralischen Imperativen, die universell sind und über alle besonderen Bedingungen, Kulturen oder Zeiträume hinausgehen. Sie sind für jeden Menschen von Bedeutung, unabhängig davon, in welcher Kultur oder Zeit er oder sie lebt, auch wenn sie an das Volk Israel gerichtet sind.

Natürlich sind auch die anderen Gesetze der Tora moralischer Natur, wie das Spenden an die Armen oder die Rückgabe eines verlorenen Gegenstandes. Diese waren aber auch im Alten Orient lange vor der Hebräischen Bibel bekannt und finden sich im babylonischen Gesetzbuch des Hammurabi oder in den alten hethitischen Gesetzbüchern. Absolute sittliche Gebote Gottes, wie die zehn Gebote, haben jedoch keinen Vorläufer und finden sich außerhalb der Bibel auch nicht in anderen altorientalischen Gesetzbüchern und Literatur. Genau das macht die zehn Gebote außergewöhnlich, sie sind moralische Gebote eines moralischen Gottes, so etwas war bis dahin der Welt unbekannt.

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