Megillat Esther – Das Purimspiel der Purimspiele

Die erste erhaltene künstlerische Darstellung der Estergeschichte ist ein Fresko der Synagoge von Dura Europos, etwa 245 n. Chr. Rechts thront König Ahasveros, neben ihm Ester als Königin. Links wird Mordechai geehrt, indem er auf dem Pferd des Königs reiten darf, das von Haman geführt wird.© MOHAMMED ABED / AFP

Die Megillat Esther ist voller Witz, Parodie, Anspielung und Übertreibung, wie eine Komödie von Molière oder Shakespeare, mit karikaturhaften Figuren und absurden Situationen. Wir können das Buch Esther, die Beschreibung der schwersten Stunden und der drohenden existenziellen Vernichtung des jüdischen Volkes, besser verstehen, wenn wir uns bewusst machen, dass diese biblische Erzählung auch gewollt komisch sein kann. (JR)

Von Rabbiner Igor Mendel Itkin

Zwei dramaturgische Elemente sind zentral: Ironie und Übertreibung.

Ironie bedeutet, dass jemand etwas erwartet, aber das Gegenteil eintritt. Für den Leser entsteht Humor in dem Moment, in dem die Person mit diesem Widerspruch konfrontiert wird. Zum Beispiel als der König Achaschwerosch Haman fragt:

»Was soll man dem Mann antun, dessen Ehre der König begehrt?«

Der selbstsüchtige Haman denkt natürlich, dass der König ihn ehren will.

Doch der Schock kommt, als Haman erfährt, dass der König Mordechai, seinen Erzfeind, im Sinn hat. Man spürt, wie Haman das Blut in den Adern gerinnt.

Überspitzt lesen wir, dass Haman deprimiert und tief betrübt ist, weil Mordechai sich weigert, sich vor Haman zu verneigen. Daraufhin baut Haman im Hof seines Hauses einen Galgen, um Mordechai loszuwerden. Der Galgen ist 50 Ellen hoch.

50 Ellen sind etwa 20 Meter. Der Galgen war also so hoch wie ein 7-stöckiges Haus. Im Vergleich dazu war der Tempel von Salomo 13 Meter hoch.

Nun stellt euch vor, wie dieses Gebäude in Hamans Hof steht. Es muss alles in der Stadt überragt haben und war von überall zu sehen, wie der Fernsehturm am Alexanderplatz.

Doch Hamans Plan wurde vereitelt und er fiel in die Grube, die er selbst gegraben hatte, oder besser gesagt, er wurde an dem Galgen erhängt, den er selbst gebaut hatte.

König Achaschwerosch

Die Personen im Buch Esther sind sehr komplexe Wesen. Es würde den Rahmen sprengen, hier alle Personen vorzustellen. Deshalb möchte ich nur den König Achaschwerosch und die persische Staatskultur vorstellen.

Das Buch beginnt mit der Einführung des Königs Achaschwerosch. Dabei erinnert uns der Erzähler immer wieder daran, wie königlich es hier zugeht. In den ersten 4 Versen begegnet uns fünfmal das Wort König, königlich oder Königreich.

1,1 Es begab sich in den Tagen Achaschwerosch - das ist Achaschwerosch, der König war von Indien bis Äthiopien über hundertsiebenundzwanzig Gaue -

2 in den Tagen, da der König Achaschwerosch auf dem Thron seines Königreiches saß, das in der Pfalz Schuschan genannt wird

3 im dritten Jahr seiner Regierung machte er ein Trinkgelage mit allen seinen Fürsten und Knechten, mit dem Heer von Persien und Medien, mit den Fürsten und mit den Fürsten der Gaue, die vor ihm waren

4 und ließ sie sehen den Reichtum seiner königlichen Majestät und die Fülle seiner Pracht und Herrlichkeit, viele Tage, hundertundachtzig Tage.

Nachdem das Trinkgelage von 180 Tagen (das ist ein halbes Jahr!) vorüber war, veranstaltete der König ein kleineres, aber nicht weniger prächtiges Trinkgelage von sieben Tagen. Der König ließ königlichen Wein ausschenken und gab königliche Befehle.

Wir hören von königlichen Provinzen, vom königlichen Palast, vom königlichen Tor, von königlichen Dienern, von königlichen Gesetzen, von königlichen Verwaltern, von königlichen Eunuchen, vom königlichen Schatz, von der königlichen Krone. Der König erweist königliche Gunst, der König selbst ist königlich.

Haman treibt das Königtum auf die Spitze. In der Hoffnung, derjenige zu sein, dem der König die Ehre erweist, verlangt Haman, das königliche Gewand zu tragen und auf dem königlichen Pferd zu reiten. Das königliche Pferd soll dabei die königliche Krone auf dem Kopf tragen. Das Adjektiv "königlich" kommt in dem Buch so oft vor, dass die Ironie nicht zu übersehen ist.

Pieter Lastman, 1624. Der Triumph des Mordechai

Denn der so gepriesene König ist in Wirklichkeit ein Schlimazel, unfähig, selbst zu denken und Entscheidungen zu treffen. Jede Entscheidung im Buch wird immer von jemand anderem als dem König selbst getroffen.

Zuerst sind es die Eunuchen, dann Haman und schließlich Mordechai und Esther, die den König nach ihrer Pfeife tanzen lassen. Die Megilla entlarvt durch Übertreibung.

Als der König am siebten Tag des Trinkgelages im Vollrausch war, oder wie die Megilla es ausdrückt, als vom Wein das Herz des Königs guter Dinge war, da ließ er die Königin Waschti rufen. Sie weigerte sich jedoch, vor den betrunkenen Gästen des Königs zu erscheinen. Achaschwerosch wurde zornig. Als erstes beriet er sich mit seinen Beratern, was nun zu tun sei. Memuchan, ein Berater des Königs, sagte:

»Nicht wider den König allein hat Waschti die Königin vermisst, sondern wider alle Fürsten und wider alle Völker, die in allen Gauen des Königs Achaschwerosch sind, denn die Sache mit der Königin wird zu allen Frauen hinausgehen, ihre Männer vor ihren Augen zu verachten, indem sie sagen: »Der König Achaschwerosch hat befohlen, Waschti, die Königin, vor sein Angesicht zu bringen, und sie ist nicht gekommen!«

 

Die Unzulänglichkeit des Königs

Memuchan prophezeit eine internationale Katastrophe. Alle Frauen in den von Persien kontrollierten Gebieten werden sich gegen ihre Männer auflehnen. Sie werden Waschtis Verhalten als Vorbild nehmen, die Vorherrschaft der Männer stürzen, zur Revolution aufrufen und schließlich ganz Persien in den Abgrund reißen. Der König und sein Hof sind erschüttert, weil eine Frau Nein gesagt hat. Welche weise Entscheidung wurde getroffen, um Waschtis Verhalten zu bestrafen und die ganze Welt zu retten? Ironischerweise ist die Strafe für Waschtis Verhalten nichts anderes als das, was Waschti wollte. Dem König fernbleiben. Sie wollte nicht kommen, also soll sie auch nie wieder kommen.

Der König ist nicht nur unfähig, eigene Entscheidungen zu treffen, er lebt in seiner eigenen Realität, in einem Wolkenkuckucksheim. So lesen wir, dass niemand vor das Angesicht des Königs treten darf, der nicht vom König eingeladen wurde. Sonst droht die Todesstrafe. Sogar die Königin selbst ist davon nicht ausgenommen. Wie kann so ein Narr einen Staat regieren?

Die Unfähigkeit des Königs zu regieren, zeigt sich auch in einer anderen Episode. Als der König nicht schlafen konnte:

6,1 In derselben Nacht verließ den König der Schlaf. Er befahl, man solle ihm das Buch der Erinnerungen bringen, die Ereignisse der Tage, und man las es dem König vor.

Achaschwerosch kümmert sich um die Staatsgeschäfte, weil er nicht schlafen kann? Nein, er beschäftigt sich mit den Staatsgeschäften, um wieder einzuschlafen. Was kann für einen König langweiliger sein, als sich mit Staatsgeschäften zu beschäftigen?

Der König ist unfähig und blind. So übergibt er ungerührt seinen Ring, das Symbol seiner Macht, dem Bösewicht Haman, damit dieser Gesetze erlassen kann. Am Ende des Buches hat der König nichts dazugelernt, denn er übergibt seinen Ring an Esther und Mordechai für ihre Zwecke.

Als Hamans böser Plan, die Juden zu vernichten, bekannt wird, ist der König sehr wütend. Er geht in den Garten, um sich abzukühlen und nachzudenken. Währenddessen fällt Haman der Königin Esther zu Füßen und bittet um sein Leben. Als der König zurückkommt und Haman vor der Königin liegen sieht, missversteht er die Pose. Er denkt, dass Haman die Königin verführen will und sagt:

Auch noch die Königin verführen, in meinem Haus?

Verführung war das Letzte, woran Haman denken konnte. Aber wir wissen ja schon, dass König Achaschwerosch kein heller Kopf ist.

Als das von Haman erlassene Gesetz bekannt wird, sind alle entsetzt, nur der König und Haman setzen sich zusammen und trinken. Wie ist diese Geste des Trinkens zu verstehen? Der griechische Geschichtsschreiber Herodot schreibt in seinen Historien über die Perser:

Die Perser pflegen im Rausch die wichtigsten Angelegenheiten zu verhandeln. Den Beschluss, den man so gefasst hat, trägt der Hausherr, in dessen Haus die Beratung stattfindet, am nächsten Tage, wenn die Beratenden nüchtern sind, noch einmal vor. Ist man auch jetzt damit einverstanden, so führt man das Beschlossene aus, andernfalls lässt man es fallen. Auch wird ein Gegenstand, den sie nüchtern vorberaten haben, in der Trunkenheit noch einmal erwogen.

Mit anderen Worten: Beraten, trinken, beraten oder trinken, beraten, beraten. Purim Sameach!

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