Daf Yomi – Stellen aus dem Talmud
Giovanni Bellini: Die Beschneidung Jesu© JACK GUEZ / AFP
1923 hat Rabbi Meir Shapira aus Lublin die Initiative „Daf Yomi“ angeregt. Heute befinden wir uns im 14. Zyklus. Als Teil davon können Juden überall auf der Welt dasselbe Blatt aus dem Talmud lernen. Der Beitrag stellt eine Fortsetzung der in der Jüdischen Rundschau im Januar 2022 begonnenen jüdischen Lern-Initiative dar. (JR)
Das Gebot der Beschneidung
Auf den Seiten 31-32 des Talmud-Traktates Nedarim, die am 25./26. November 2022 gelesen werden, finden sich mehrere Aussagen zu dem hohen Wert des Gebotes der Beschneidung. Unter anderem wird dort Bezug genommen auf das Kapitel 17 des ersten Buches Moses – der Bundesschluss zwischen Gott und Abraham. Auszugsweise steht an dieser Bibelstelle folgendes (eigene Übersetzung, mit Auslassungen):
„(2) Ich werde meinen Bund zwischen mir und dir errichten und dich vielfach mehren. (4) Dies ist mein Bund mit dir und du wirst der Vater vieler Völker werden. (6) Ich werde dich sehr fruchtbar machen, Völker werden aus dir entstehen und Könige aus dir hervorgehen. (7) Ich werde meinen Bund mit dir errichten und mit deinen Nachfahren nach dir. Ein ewiger Bund, dir und deinen Nachfahren nach dir Gott zu sein. (8) Ich werde dir und deinen Nachfahren nach dir das Land deines Wohnsitzes geben, das ganze Land Kanaan, als ewigen Besitz und ihnen Gott sein.“ (9) Und Gott sprach zu Abraham: „Und du, bewahre meinen Bund, du und deine Nachfahren nach dir, in alle Ewigkeit. (10) Folgendes ist mein Bund, den ihr bewahren sollt, zwischen mir und euch und deinen Nachfahren nach dir: All eure Männer sollen beschnitten werden. (11) Ihr sollt das Fleisch eurer Vorhaut beschneiden und es wird als Zeichen des Bundes dienen zwischen mir und euch. (12) Mit acht Tagen soll jeder eurer Männer beschnitten werden […] (13) […] und mein Bund soll in eurem Fleisch sein zum ewigen Bund. (14) Und ein unbeschnittener Mann, der das Fleisch seiner Vorhaut nicht beschneiden lässt, diese Seele soll von seinem Volk abgetrennt werden, denn er hat meinen Bund übertreten.“
Neben diesem Text, der den Grundstein für das Gebot legt, setzt sich die Talmudstelle auch noch mit anderen Bibelstellen auseinander, die einen Bezug zur Beschneidung haben.
Die Beschneidungsdebatte
Vor einigen Jahren wurde in Deutschland über ein Beschneidungsverbot für Minderjährige diskutiert. Zu einem solchen Gesetz ist es glücklicherweise nicht gekommen, jedoch zeigt es, auf wie wackeligen Füßen das jüdische Leben in Deutschland steht. Ein solches Gesetz einer zukünftigen Regierung würde der jüdischen Existenz in Deutschland den Boden unter den Füßen wegziehen. Noch mehr als das ebenfalls diskutierte Schächtungsverbot, auf das man evtl. noch durch Fleischimporte aus dem Ausland oder durch Fleischverzicht reagieren könnte. In der Debatte wurde die Beschneidung häufig als jüdischer „Brauch“ bezeichnet. Aber das ist irreführend. Es ist kein bloßer Brauch, sondern ein verpflichtendes Gesetz und die Unterlassung der Beschneidung ist somit aus jüdischer Sicht eine Straftat. Jüdische Eltern müssen ihre Kinder beschneiden lassen. Eine Kriminalisierung der Eltern und eine eventuelle Entführung der jüdischen Kinder durch den deutschen Staat unter dem Deckmantel des Kindeswohls nach einer „illegal“ vollzogenen Beschneidung, muss jeden gottesfürchtigen Juden zur Flucht aus Deutschland treiben.
Es ist verständlich, dass eine medizinisch nicht notwendige und nicht umkehrbare Operation an einem Kind, das keine Zustimmung dazu geben kann, generell verboten sein sollte. Jedoch muss es Ausnahmen geben, wenn die Religionsfreiheit der Eltern so extrem betroffen ist, wenn es sich um einen so kleinen Eingriff ohne medizinische Nachteile handelt – (die harmlose Beschneidung an Männern darf nicht mit der desaströsen Beschneidung an Frauen verwechselt werden, die in einigen afrikanischen Ländern praktiziert wird) – und wenn auch die nationale Existenz eines Volkes davon abhängt. Ich verwende den Begriff der „Nationalität“ hier nicht im heute üblichen Sinn der Staatsangehörigkeit, sondern im ideengeschichtlich ursprünglicheren Sinn der Volksangehörigkeit, d.h. der Zugehörigkeit zu einer gewissen Ethnie. Bekanntlich ist das Judentum sowohl eine Religion als auch ein Volk (z.B. Sanhedrin 44a: Auch ein sündigender Jude ist ein Jude) und die Tatsache, dass der deutsche Volksbegriff pervertiert ist, verpflichtet Juden nicht dazu ihren Volksbegriff aufzugeben. Es wäre wünschenswert, dass der deutsche Staat anerkennt, dass es interne jüdische Belange gibt, in die er sich nicht einmischen soll.
Die Beschneidung hat seit Jahrtausenden neben ihrer religiösen Relevanz auch einen nationalen Charakter. In der Talmudstelle in Nedarim 31-32 wird erklärt, dass Nicht-Juden generisch als unbeschnitten bezeichnet werden und Juden als beschnitten – unabhängig von ihrem wirklichen Zustand. Unter verschiedenen Bibelversen, die dies belegen, findet sich, was der noch jugendliche David (bevor er König wurde) dem damaligen König Scha’ul sagte, um als derjenige ausgewählt zu werden, der gegen Goliath zum Duell antritt:
„Sowohl den Löwen als auch den Bären hat dein Knecht geschlagen. Und dieser unbeschnittene Philister soll wie einer von ihnen sein […]“ (1. Samuel, Kapitel 17, Vers 36). Obwohl David natürlich nicht wissen konnte, ob Goliath beschnitten ist oder nicht, hat er diese Ausdrucksweise gewählt, um auf den nationalen Unterschied zwischen den Israeliten und den Philistern Bezug zu nehmen.
Eine Bevölkerungsgruppe in einem kleinen Aspekt von einem Gesetz (hier: die angebliche Körperverletzung des Kindes) auszunehmen, muss für eine Demokratie kein Problem sein. In Ländern wie Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland – alles Länder, die als Teil des ehemaligen britischen Imperiums viele Immigranten aus Indien/Pakistan angezogen haben – wurden Gesetze beschlossen (oder zumindest ernsthaft debattiert), die Angehörige der Sikh-Religion von der Pflicht des Tragens eines Schutzhelms auf Motorrädern freistellen. Denn ihre religiöse Pflicht des Tragens eines voluminösen Turbans hindert sie an der Aufsetzung eines Helms.
Medizinische Aspekte der Beschneidung
Eine jüdische Beschneidung ist nicht identisch mit einer rein medizinischen. Denn es gibt rein medizinische Beschneidungen, bei der nicht alle Teile der Vorhaut entfernt werden, die das jüdische Gesetz vorsieht. Abgesehen davon kommt auch der Intention der Beschneidung eine große Rolle zu.
Jedoch kann man jüdische Beschneidungen unter medizinischen Bedingungen durchführen. So könnte ein jüdischer Beschneider seine Arbeit z.B. in der Praxis eines kooperierenden Arztes und in dessen Anwesenheit durchführen. Außerdem sind einige jüdische Beschneider nebenbei auch selbst Ärzte. Auch die Verwendung von lokaler oder allgemeiner Anästhesie kann ab einem bestimmten Alter ins Auge gefasst werden – bei Säuglingen ist sie jedoch zu gefährlich.
Sollte jemand eine vollständige Beschneidung durchlaufen haben, die aus rein medizinischen Gründen – oder aus anderen religiös-kulturellen Gründen als den jüdischen – vorgenommen wurde, so befreit ihn das noch nicht von der jüdischen Beschneidungspflicht und in diesem Fall muss ein Ritual namens „hattafat dam brit“ durchgeführt werden.
Die Beschneidungspflicht gilt für alle jüdischen Männer ab dem achten Tag, selbst wenn dieser auf einen Schabbat oder Feiertag fällt. Die Verursachung einer Blutung ist an diesen Tagen für gewöhnlich verboten – und es ist bekannt wie streng orthodoxe Juden Schabbat und Feiertage nehmen – aber für eine Beschneidung am achten Tag wird dieses Verbot zur Seite gedrängt. Die besagte Talmudstelle sagt, dass man auch hieraus die Bedeutung der Beschneidung erkennen kann.
Wenn die Beschneidung zur passenden Zeit versäumt wurde (z.B. Verbot der Beschneidung im Ostblock), dann muss sie sogar im hohen Alter nachgeholt werden – solange der Gesundheitszustand diesen Eingriff ohne Gefährdung erlaubt. Abraham war bei seiner Beschneidung 99 Jahre alt (vgl. 1. Buch Moses, Kapitel 17, Vers 24). Auch ob man verheiratet ist oder nicht – oder anders ausgedrückt sexuell aktiv ist oder nicht – spielt keine Rolle, das Gebot besteht in jedem Fall.
Die Verpflichtung zur Beschneidung ergibt sich natürlich aus den zitierten Quellen (wie dem Kapitel 17 des ersten Buches Moses), aber daneben gibt es auch medizinische Vorteile, die sich in der Fachliteratur recherchieren lassen. Eine Beschneidung reduziert für den Mann das Risiko sich mit einer sexuell übertragbaren Krankheit anzustecken. Sie reduziert sowohl für den Mann als auch für die Frau das Risiko an verschiedenen Krebsarten zu erkranken. Außerdem erhöht eine Beschneidung die Ausdauer beim Intimverkehr, also die Fähigkeit länger „durchzuhalten“.
Eltern, ihre Kinder und die Beschneidung
An dem Thema der Beschneidung gibt es nichts Anrüchiges und es wurden hier die größten Anstrengungen unternommen, den Sachverhalt professionell darzustellen. Das Zeichen des Bundes mit Gott befindet sich aus guten Gründen an eben jener Stelle des Körpers. Zum Beispiel sitzt dort das enorme Potential, Leben zu erzeugen. Die Existenz eines jeden Menschen basiert auf dem geschlechtlichen Akt seiner Eltern.
Überhaupt scheint das Verhältnis eines Kindes zu seinen Eltern in jüdischen Kreisen anders angesehen zu werden als in der deutschen Mehrheitsgesellschaft. In letzterer dominiert eine Tendenz zum Individualismus des Kindes (so als wäre es nur rein zufällig eben jenen Eltern geboren worden) und somit ist eine gegen die Selbstbestimmung verstoßende Beschneidung im Säuglingsalter nur schwer zu akzeptieren. In jüdischen Kreisen hingegen dominiert ein Drang zur Kontinuität, dazu dass auch die nächste Generation noch als Juden leben werden – und dazu gehört auch die Beschneidung.
Bitte wenden Sie sich zwecks der Beschneidung Ihres Sohnes oder Ihrer eigenen Beschneidung an einen orthodoxen Rabbiner, der alles in die Wege leiten kann.
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Judentum und Religion