Jom Kippur: Die große Versöhnung
Jom Kippur ist der Tag, um mit sich, seiner Umgebung und mit Gott ins Reine zu kommen.
Für viele ist Jom Kippur ein eher anstrengender Tag. Über 24 Stunden fastet man, und steht dann mit wackeligen Beinen den ganzen, langen Tag in der Synagoge - oft, ohne die wahre Bedeutung der langen Gebete zu verstehen. Der Körper wird langsam etwas schwächer, und ab dem Nachmittag geht der Blick immer öfter auf die Uhr: wann ist es endlich vorbei, wann kann ich endlich wieder etwas zu mir nehmen?
Die Mischna im Traktat „Ta`anit“ sagt jedoch genau das Gegenteil. Das ganze Jahr über gibt es keinen glücklicheren Tag als Jom Kippur. Gleichgesetzt wird er sogar mit Tu BeAw, dem jüdischen Tag der Liebe, an dem junge Paare verkuppelt werden. Aber ist Jom Kippur nicht eher ein ernster, ja sogar düsterer Termin? Der Tag, an dem unser Schicksal im Himmel besiegelt wird, nachdem es an Rosch HaSchana bestimmt wurde? Wieso also, hebt ihn die Mischna als Freudentag hervor?
Die Energie des Tages
Ein Blick auf die Entstehung von Jom Kippur hilft, um seine Bedeutung und Wirkungskraft besser zu verstehen. Denn jeder Feiertag im Judentum hat eine innere Energie, in die man eintreten kann, um das Potential eines jeden Tages voll auszuschöpfen. Diese Energie wurde bereits bei der Entstehung der Welt festgelegt, und trat dann zu Bibelzeiten richtig in Erscheinung. So ist zum Beispiel die Zeit von Pessach, eine gute Gelegenheit eine persönliche Befreiung zu erleben, weil wir an Pessach aus der ägyptischen Sklaverei befreit wurden. An Sukkot wiederum kann man sich mit Freude auffüllen, die das ganze Jahr anhalten kann, und an Schavuot ist es möglich, nicht nur auf nationaler, sondern auch auf persönlicher Ebene die Torah zu empfangen. Weil dies der Tag ist, an dem das jüdischen Volk die Torah erhielt. Auch Purim und Chanukka sind Gelegenheiten des spirituellen Wachsens: an Purim durch das Betrinken, bis man nicht mehr zwischen Gut und Böse unterscheiden kann, weil sich in der Purim-Geschichte alles zum Guten wandte, und an Chanukka durch das Kerzenzünden, welches unsere jüdische Identität stärken kann, weil wir uns den Griechen nicht assimilierten.
Was aber genau geschah an Jom Kippur? An diesem Tag wurde uns von Gott vergeben. Für eine der größten Verfehlungen während der vierzigjährigen Wüstenwanderung des jüdischen Volkes. Der Sünde des Goldenen Kalbes.
Die Verzeihung des Goldenen Kalbes
Nach dem Auszug aus Ägypten hatte sich Gott am Berg Sinai dem Volk erstmals offenbart. Diese Erfahrung wurde jedoch sehr intensiv wahrgenommen, und das normale Volk hielt es nicht aus. So wurde Mosche Rabbeinu alleine auf den Berg Sinai gesandt, um als Vermittler die Gebote und die mündliche Überlieferung von Gott zu empfangen. Vierzig Tage und Nächte weilte Mosche auf dem Berg – doch in seiner Abwesenheit sehnte sich das Volk immer nach ihm und fand keinen direkten Zugang zu Gott. Als sich Mosches Rückkehr verzögerte, schuf das Volk einen Ersatz-Vermittler: ein Goldenes Kalb, welches angebetet wurde, und dem sogar Opfergaben dargebracht wurden. Dazu entstand eine frivole Atmosphäre im Volk, die zu Unmoral führte.
Beim Anblick dieser Szenerie zerbrach Mosche bei seiner Rückkehr die Gesetzestafeln. Und Gott wollte das jüdische Volk auslöschen, und stattdessen ein neues Volk erschaffen, welches Ihn auf Erden vertreten sollte. Um dieses Schicksal abzuwenden, bestieg Mosche noch zwei weitere Male für jeweils 40 Tage und Nächte den Berg Sinai und betete um Gnade. Dies dauerte bis Jom Kippur. Da wurde sein Gebet endlich erhöhrt und dem Volk verziehen.
Seitdem ist die Energie der Verzeihung fest in der Natur dieses Tages verankert. Jom Kippur ist somit kein Tag des Leidens und der Selbstkasteiung, sondern Gelegenheit zur Heilung. Es ist die Zeit um mit sich selbst, seiner Umgebung und letztendlich auch mit Gott ins Reine zu kommen. Dazu fasten wir und verbringen den ganzen Tag im Gebet, beginnend mit dem stimmungsvollen „Kol Nidrej“ am Eingang von Jom Kippur.
Selbstheilung durch Kol Nidrej
Das „Kol Nidrej“ wurde ursprünglich dafür konzipiert um alle Schwüre, die wir im Laufe des ganzen Jahres geleistet haben, aufzulösen. Heute ist das Schwören nicht mehr üblich, dennoch erfüllt das Gebet noch immer seinen Zweck: Oft sagen wir etwas, obwohl wir dabei etwas anderes meinen. Oder wir reden anderen nach dem Mund, und sind dabei nicht ganz ehrlich mit uns selbst. Manchmal versprechen wir sogar etwas, was wir letztendlich nicht einhalten können. In all diesen Fällen entsteht in uns eine innere Dissonanz. Unsere Worte stehen nicht im Einklang mit unseren Gefühlen und Handlungen. Das „Kol Nidrej“-Gebet hat die spirituelle Kraft diese Dissonanz zu lösen. Dadurch kommen wir mit uns selbst ins Reine, und können von nun an versuchen, unsere Worte besser auf unsere Gefühle abzustimmen.
Dieser Selbstheilungsprozess bereitet uns für den nächsten Schritt vor - auch mit unseren Mitmenschen ins Reine zu kommen. Dafür müssen wir einzeln auf sie zugehen, und sie schlicht und einfach um Verzeihung bitten. Für alles, was ihre Gefühle im vergangenen Jahr verletzt haben könnte, absichtlich oder unabsichtlich. Die Gemara im Traktat „Joma“ legt nämlich fest, dass der Friede unter den Menschen eine Vorraussetzung ist, um auch von Gott verziehen zu werden.
Verzeihung der Anderen
In Amerika lebte einmal ein Ehepaar in großer Frömmigkeit. Sie dienten Gott von ganzem Herzen, aber warteten schon seit Jahren auf Nachwuchs. Was sie auch versuchten, mittels der modernen Medizin, oder auf spiritueller Ebene durch gute Taten und Gebete, half nicht weiter. In ihrer Verzweiflung wandten sie sich mit einem Brief an den Lubawitscher Rebben. Jedoch fand sich auch in seinem Antwortschreiben kein Hinweis darauf, was zu tun sei. Daraufhin suchten sie den Rabbi persönlich auf und schilderten ihm erneut ihren unerfüllten Kinderwunsch. Doch der Rabbi schwieg noch immer zu dem Thema. Da brach die verzweifelte Frau in Tränen aus und fragte den Rabbi direkt, warum sie trotz ihrer Frömmigkeit, vom Himmel nicht mit Kindern gesegnet werden. Da sagte der Rabbi: „Möglicherweise hat einer von euch in der Vergangenheit einen anderen Menschen verletzt, und dies wurde noch nicht verziehen. Daher sind die Tore des Himmels für euren Wunsch verschlossen.“ Das Ehepaar machte sich sofort daran, in Gedanken ihr ganzes, vergangenes Leben zu durchforschen - auf der Suche nach einer solchen Kränkung. Nach langem Überlegen fiel es dem Mann ein. In seiner Schulzeit hatte er einmal einem Mitschüler einen Streich gespielt und diesen vor allen anderen bloßgestellt. Und der gekränkte Mitschüler hatte geschworen, ihm dieses Vergehen niemals zu verzeihen.
Sofort machte sich der Ehemann auf die Suche nach diesem ehemaligen Mitschüler. Er fand ihn in seiner Wohngegend und stellte ihn zur Rede. „Erinnerst du dich noch daran, was ich dir damals angetan habe?“ fragte er ihn. „Natürlich“, entgegnete dieser, „ich habe geschworen, es dir niemals zu verzeihen!“ Daraufhin erzählte ihm der Mann von seinem unerfüllten Kinderwunsch, und dem Rat des Rebben, und bat ihn aufrichtig um Verzeihung. Der einstige Mitschüler verzieh ihm, und innerhalb eines Jahres wurde dem Ehepaar ein Kind geboren.
Sich an Gott wenden
Mit dieser Kraft der Verzeihung ist es nun möglich, sich direkt an Gott zu wenden. Dabei bildet das „Ne`ila“-Gebet, welches Jom Kippur abschließt, den Höhepunkt einer Epoche von insgesamt vierzig Tagen, von Rosch Chodesch Elul, dem Tag an dem Mosche Rabbeinu den Berg Sinai bestieg, über Rosch HaSchana, bin hin zu Jom Kippur. Der Chassidismus erklärt, dass wir in dieser Zeit mehrere Stufen in unserem Verhältnis zu Gott durchlaufen können. Während dem Elul, dem Monat vor Rosch HaSchana, befindet sich Gott wie ein „König im Feld“. Er hat seinen Palast verlassen, um uns Gelegenheit zu geben, sich direkt an ihn zu wenden, und auf den Pfad der Tugend zurückzukehren. An Rosch HaSchana krönen wir Gott erneut zum König, und Er kehrt auf seinen Thron im Palast zurück, von wo aus er die Welt für das neue Jahr richtet. Nun an Jom Kippur, während des abschließenden „Ne`ila“-Gebets, bittet Er uns in sein intimstes Zimmer, und verschließt die Tür. Damit wir Ihm ganz nahe kommen, und unseren Reinigungsprozess beenden.
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