Die sieben Weltwunder

Nach der Zerstörung kommt immer der Wiederaufbau© WILIPEDIA

Das neue jüdische Jahr beginnt mit wichtigen spirituellen Stationen: Jom Kippur, Sukkot und Simchat Tora.

Es ist auch eine Zeit der inneren Einkehr. Nach Rabbi Nachman aus Breslev kann ein Mensch mit einem guten Wort, einer einzigen kleinen Tat oder sogar einem Gedanken die ganze Welt wieder aufbauen. (JR)

Von Rabbiner David Kraus

Als jemand, der in Deutschland aufgewachsen ist, erinnere ich mich noch sehr gut an die Tage, als wir in der Schule über die „Sieben Weltwunder“ unterrichtet wurden. Meine Lehrerin erklärte damals, dass das „eine sehr wichtige Sache zu lernen und zu wissen“ sei.

Eine Gruppe von Schülern wurde damals gebeten, die sieben Weltwunder zu benennen.

Es gab einige Meinungsverschiedenheiten unter ihnen, aber die meisten Studenten nannten Dinge wie die Pyramiden oder die Chinesische Mauer.

Während die Lehrerin alle Notizen einsammelte, bemerkte sie, dass eine Schülerin ihre Arbeit noch nicht beendet hatte.

„Brauchst du Hilfe?“, fragte sie.

Die Studentin bejahte und sagte: "Ich konnte mich nicht entscheiden, weil es so viele Wunder gibt."

"Dann", sagte die Lehrerin, "erzähl uns doch bitte, welche Möglichkeiten es aus deiner Sicht gibt."

Die Studentin zögerte ein wenig und las dann doch, was sie geschrieben hatte:

„Ich denke, die sieben Weltwunder sind:

Sehen

Hören

Berühren

Schmecken

Fühlen

Lachen

Lieben"

…eine unglaubliche tiefe Stille erfüllte das Klassenzimmer, es war so still, dass man fast die Herzschläge der Anwesenden hören konnte…

Stille hat etwas Magisches, wer es schafft, den inneren Lärm zu unterdrücken und das Bewusstsein für das Wesentliche zu schärfen, der kultiviert Achtsamkeit, erfährt Anerkennung und Wertschätzung des gegenwärtigen Moments.

Der innere Lärm lenkt uns alle sehr stark ab. All die Dinge, die wir im Leben übersehen, weil sie uns als einfach, gewöhnlich oder schlicht offensichtlich erscheinen, sind in der Tat echte Schätze!

Zu viele von uns, erkennen diesen Reichtum nicht an. Doch sobald das Leben uns unerwartet stark herausfordert, mit Krankheit, Trauer, Kummer und Sorgen, es also still im Inneren wird, fällt uns plötzlich sehr schnell auf, was die wirklichen Schätze im Leben sind.

Die „sieben jüdischen Weltwunder“ erinnern sanft daran, dass die wertvollsten Dinge im Leben weder gebaut noch gekauft werden können. Denke daran, wenn du das nächste Mal deine Kinder, deinen Ehepartner, deine lieben Familienmitglieder, deine Freunde, die dich lieben, und alles, was dir lieb ist, ansiehst.

Wer sich ständig vor Augen hält, dass er wirklich reich ist, und dafür dankbar ist, dem geht es gut, körperlich und geistig. Haschem geht es in diesem “wundervollen” Monat Tischrey genau um diese Idee. Es ist an der Zeit zu spüren, welchen Schatz wir besitzen und wie unwichtig doch all die anderen Dinge sind, die wir vermeintlich für wichtig halten.

Wir leben in einer lauten Welt. Wir haben das Gefühl, dass es immer lauter wird. Aber wenn das Gehirn fast nie zur Ruhe kommt, kann es sich nicht erholen und regenerieren, und deshalb können wir nicht klar denken.

 

Wichtige Stationen

Der Monat Tischrei markiert den Beginn des jüdischen Jahres. Er steht für eine Zeit der Besinnung, der Selbstbeobachtung und der Erneuerung. In diesem besonderen Monat werden vier jüdische Feiertage begangen. Rosch haSchanah (das jüdische Neujahrsfest) und Jom Kippur (der Versöhnungstag) sind der Besinnung und der Gewissenserforschung gewidmet. Diese beiden Feiertage, die sich über zehn Tage erstrecken, sind die so genannten Hohen Feiertage. Die anderen, Sukkot (das Laubhüttenfest) und Simchat Tora (Freude an der Tora), sind Feiertage der Freude und des Feierns. Sie sind gefüllt mit bedeutungsvollen Bräuchen, Ritualen und natürlich köstlichem koscheren Essen.

Ein jüdischer Feiertag heißt auf Hebräisch: Jom Tow, was übersetzt „ein guter Tag“ bedeutet. Es stellt sich die Frage, warum ein jüdischer Feiertag automatisch auch ein guter Tag ist?

Rabbi Nachman aus Breslev verbindet die Bedeutung der Stille mit den jüdischen Feiertagen und erklärt, dass der jüdische Feiertag, - im übertragenen Sinne -, an jeder Straßenecke steht und die Botschaft in die Welt hinaus ruft: „Wisse, dass Haschem diese Welt führt und nicht die Natur“.

Rabbi Natan erklärt weiter, dass dies den Aspekt der Offenbarung des göttlichen Willens symbolisiert, „dass alles durch Seinen Willen geschieht“.

All die Zeichen und Wunder die unsere weise Schülerin von eben als die Sieben Weltwunder bestimmte, sind in Wahrheit die Antwort auf all die weisen Aussagen der Naturwissenschaften, die versuchen, die gesamte Realität allein durch die Dimension der Natur zu erklären, jene die behaupten, dass es nichts darüber hinaus gibt.

Wenn meine Tochter Zahnschmerzen hat, dann suche ich den besten Zahnarzt für sie. Wenn eines meiner Kinder krank ist, suche ich den besten Arzt auf. Aber wenn es darum geht, Jüdischsein zu leben – die Seele aller Seelen, die Ewigkeit aller Ewigkeiten für meine Kinder – dann suche ich für sie den einfachsten Menschen der Welt.

Der Jom Tov ruft uns allen also herzlich zu: Glaube an Haschem! Und je mehr wir unser Herz dazu trainieren diesen himmlischen Ruf der Feiertage zu hören, umso deutlicher wird uns, dass Gott die Welt führt.

Aber wie schafft man es, diese Rufe richtig wahrzunehmen?

Vor jedem Feiertag muss man sich in Nächstenliebe üben und Spenden für die Armen geben. Auf diese Art trainiert man seine Ohren, verfeinert sein Gehör bis zu dem Punkt, dass man am Feiertag Haschem sprechen hört: „Wisse, es gibt nur einen Gott.“ Wenn unsere Ohren aber nicht offen für die Schreie der Armen sind, sind wir dann nicht auch taub für Gottes Rufe?

Mit den Worten vom Schweizer Psychiater C. G. Jung kann man den jüdischen Feiertag vielleicht auch mit dieser Offenbarung beschreiben: »Wer nur rausschaut, träumt; wer reinschaut, wacht auf.«

Wie man jüdisch träumt und aufwacht beschreibt ein schöner Ausschnitt aus dem Buch von Rabbiner Chaim Kramer: "Durch Feuer und Wasser: Das Leben des Rabbi Nathan aus Breslev“.

 

Der Mensch kann immer zu Gott zurückkehren

Rabbi Nathan veröffentlichte Rabbi Nachmans Werk und nach dessen Tod führte er die Bewegung der Breslever Chassidim fort.

Rabbi Nathan sagte einmal: "Die Hauptsache des Rebben (also von Rabbi Nachman) ist Rosch haSchana. Meine Hauptsache ist Jom Kippur."

Rabbi Nathans ganze Mission bestand darin, zu zeigen, dass der Mensch immer zu Gott zurückkehren kann, egal, was er getan hat, egal, wie sehr er gesündigt hat. Dies war die Mission, die Rebbe Nachman ihm wenige Tage nach ihrer ersten Begegnung in Aussicht stellte: der "untere Punkt" des Aleph zu werden, um Leben, Vitalität und Glauben in alle unteren Ebenen zu bringen. Selbst als er diese Welt verließ, war sich Rabbi Nathan seiner Mission bewusst und wiederholte immer wieder: "Chanun ha-marbeh lislo'ach - der Gnädige, der reichlich vergibt" (aus dem Segensspruch des Shemoneh Esrei). Es gibt Hoffnung für alle: Gott wird verzeihen! Immer!

Reue und Vergebung für ganz Israel waren das eigentliche Wesen von Rabbi Nathan. Die Buchstaben der Worte Chanun ha-marbeh lislo'ach haben den Zahlenwert 500, den gleichen wie die hebräischen Buchstaben von Nathan.

Rabbi Nathan verstarb kurz vor Schabbat am 20. Dezember 1844. Er war 64 Jahre und 11 Monate alt und war bis zum Schluss ganz mit Gott verbunden.

Es waren die Tage vor der Erfindung des Telegrafen, und es war unmöglich, die Nachricht von seinem Tod vor dem Schabbat zu übermitteln. Trotzdem wusste sein Freund Reb Naftali, der sich in Uman aufhielt, an diesem Freitagabend bereits, dass Rabbi Nathan nicht mehr lebte. Auf die Frage, woher er das wusste, antwortete Reb Naftali:

"Ich hatte einen Traum, in dem ich Rabbi Nathan schnell rennen sah. Ich sagte: 'Rabbi Nathan! Wohin rennst du?' – 'Ich?', sagte er. 'Direkt zum Rebbe!'"

Die Vollendung der Schöpfung

Nach jüdischer Tradition wird an Rosch Haschana der Vollendung der Schöpfung des Universums und der Anerkennung von Gottes Souveränität über die Welt gedacht. Dies sind auch die Tage, an denen Gott die Taten der Menschen während des Jahres beurteilt und über ihre Zukunft für das kommende Jahr entscheidet - Tod für die Sünder, Leben für die Frommen und eine Bußzeit bis Jom Kippur für Menschen, deren Status unsicher ist.

Die Zeit zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur wird als "Zehn Tage der Reue" bezeichnet, in denen die Menschen die Möglichkeit haben, für ihre Sünden zu büßen.

Der Versöhnungstag - Jom Kippur - ist der heiligste Tag im jüdischen Kalender. Er wird mit Gebet und Fasten verbracht, um das neue Jahr mit einem reinen Gewissen zu beginnen. Ein zentrales Konzept für die zehn Tage, die in Jom Kippur gipfeln, ist T'schuwa, ein aktiver Prozess der Rückkehr zu den Wegen Gottes.

Jom Kippur markiert das Ende der "Zehn Tage der Reue" und bietet den Juden eine letzte Gelegenheit, Vergebung und Absolution für ihre Sünden im vergangenen Jahr zu erlangen. Nach jüdischem Glauben wird an Jom Kippur über jeden Menschen das Urteil für das kommende Jahr gefällt. Um der Vergebung der Sünden würdig zu sein, ist dieser Tag der geistigen Reue und der Verpflichtung gewidmet, das neue Jahr mit einem reinen Gewissen zu beginnen, in der Gewissheit, dass Gott jedem Menschen vergibt, der seine Verfehlungen aufrichtig bereut.

Als ich mal das Buch "Simply Love" von Rabbi Shlomo Carlebach aufschlug, fand ich Folgendes: "Rabbi Nachman aus Breslev sagte: 'Wenn du glaubst, dass es möglich ist, zu zerstören, dann glaube, dass es möglich ist, zu reparieren.'

Glaube an den Wiederaufbau

Gehen wir mit diesem Gedanken in den Wald. Man sagt, dass es nur einen Idioten mit einem Streichholz braucht, um einen ganzen Wald niederzubrennen. Mit anderen Worten: Die Kraft der Zerstörung ist schnell, stark und überwältigend. Ein einziges böses Wort oder eine einzige Tat hat die Macht, viele Jahre harter Arbeit und Mühe zu zerstören. Aber Rabbi Nachman weist auch auf Folgendes: Diese Vorstellung ist sehr alt. Der neue, bessere Weg ist, zu glauben, dass ein Mensch mit einem guten Wort, einer einzigen kleinen Tat oder sogar einem Gedanken die ganze Welt wieder aufbauen kann. Deshalb verwendet Rabbi Nachman das Wort "glauben". Wenn ein Mensch zu seinem Freund sagt: "Glaube mir, ich war gerade in der Synagoge, und sie steht noch genau an der gleichen Stelle wie gestern" - das würde sich seltsam anhören. Für Dinge, die einfach sind, die leicht zu verstehen sind, brauchen die Menschen keinen Glauben. Um an die Zerstörung zu glauben, muss man kein großer "Gläubiger" sein, das liegt einfach in der menschlichen Natur. Aber der Glaube an die Kraft des Reparierens, des Wiederaufbaus - das ist es, woran wir arbeiten müssen.

Daran zu glauben, was der Verstand nicht so leicht begreifen kann: dass die Kraft des Reparierens größer, bedeutungsvoller ist. Die meisten Gerechten, unsere Tsaddikim, lehrten uns, den Wald nicht niederzubrennen. Das ist wahr, aber Rabbi Nachman lehrt uns etwas Neues: Man kann Wälder pflanzen! Die Kraft des Wiederaufbaus ist größer als die Kraft der Zerstörung. Das ist es, was Glaube ausmacht."

 

Rabbiner David Kraus ist Paar- und Familientherapeut und Autor von: “Der fröhliche Rabbi und die verschlungenen Wege zum Glück”, Knaur 2021

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