Daf Yomi – Stellen aus dem Talmud

Eine Patientenverfügung sollte mit den jüdischen orthodoxen Regeln übereinstimmen.© JACK GUEZ / AFP

In der Ausgabe vom Januar 2022 hat die Jüdische Rundschau damit begonnen, auszugsweise Stellen aus dem Talmud darzulegen und zu erörtern. Die Auswahl der Stellen erfolgt dabei anhand des festgelegten Lesezyklus, der als „Daf Yomi“ bezeichnet wird. Die Serie der letzten Ausgaben wird fortgesetzt. (JR)

Von Patrick Casiano

Sterbehilfe im Judentum – eine Quelle aus dem Talmud

Am 18. Oktober 2022 lernen wir die Seite 104 des Traktats Ketubot. Dort finden wir einen Bericht über den Tod von Rabbi Jehuda ha-Nasi, der ca. im Jahr 220 nach der Zeitenwende verstorben ist. Er war der Verfasser der Mischna – eines Meilensteines in der Geschichte der rabbinischen Schriften und die Vorstufe zum späteren Talmud. Er ist in der Geschichte der rabbinischen Literatur so zentral, dass die Perioden vor und nach ihm sogar anders benannt sind. Alle Gelehrten bis zu ihm (und er eingeschlossen) werden als Tanna’im bezeichnet und alle Gelehrten nach ihm als Amora’im. Rabbi Jehuda ha-Nasi sah in seiner Zeit die Notwendigkeit gegeben, die mündliche Lehre, welche in Gefahr war in Vergessenheit zu geraten, schriftlich in der Mischna zu fixieren. Der spätere Talmud bezieht sich auf die Mischna und fügt ihr noch weitere Erklärungen hinzu. In dem besagten Bericht zu seinem Tod lesen wir folgendes (eigene Übersetzung):

„Am Tag als Jehuda ha-Nasi starb, verhängten die Rabbiner einen Fasttag und sie baten [Gott] um Gnade [für ihn, so dass er am Leben bleibe] … seine Hausangestellte stieg aufs Dach hinauf und sagte: ‚Die oberen Sphären wollen ihn [haben] und die unteren Sphären [d.h. die Menschen] wollen ihn [haben]. Möge es der Wille [Gottes] sein, dass sich die unteren gegen die oberen durchsetzen.‘ Als sie [aber] sah, … wie sehr er litt, sagte sie: ‚Möge es der Wille [Gottes] sein, dass sich die oberen gegen die unteren durchsetzen.‘ Die Rabbiner hörten keine Sekunde auf, um Gnade zu bitten. Die Hausangestellte nahm ein Gefäß und warf es vom Dach auf die Erde. [Die Rabbiner] waren [vor Schreck] [eine Sekunde lang] still und baten nicht um Gnade. Da starb Rabbi Jehuda ha-Nasi.“

Im Talmud erhält die zitierte Stelle keinerlei Wertung und im unmittelbaren Fortgang wird einfach das weitere Geschehen rein faktisch erzählt. In den rabbinischen Auslegungen wird die Tat der Hausangestellten jedoch positiv interpretiert. An sich ist das verwunderlich, da doch eine Hausangestellte als Sinnbild der Naivität und die Rabbiner als Sinnbild der Gelehrsamkeit angesehen werden können. Jedoch stellt die Hausangestellte von Rabbi Jehuda ha-Nasi eine Ausnahme dar und der Talmud erzählt an manch anderer Stelle über ihre Weisheit.

 

Aktive und passive Sterbehilfe

In der allgemeinen Diskussion um die Sterbehilfe wird zwischen zwei Formen unterschieden. Einerseits die aktive Sterbehilfe, bei der ein Arzt einem Patienten ein tödliches Gift verabreicht oder es ihm so vorbereitet, dass der Patient es sich selbst verabreichen kann. Und andererseits die passive Sterbehilfe, bei der die Durchführung lebensrettender oder lebensverlängernder Maßnahmen und die Gabe solcher Medikamente schlicht unterlassen werden und der Patient somit auf eine natürliche Weise stirbt.

Die jüdische Position gegenüber der aktiven Sterbehilfe ist eindeutig. Sie ist verboten und kommt in jeder Hinsicht dem Mord gleich! Selbst wenn der Patient im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte den Arzt darum bittet. Diese Position ergibt sich aus einigen simplen theologischen Grundsätzen. Unter anderem aus den folgenden:

(1.) Mit wenigen Ausnahmen – wie z.B. im Rahmen legitimer Selbstverteidigung – darf nur Gott allein entscheiden, wann ein Mensch stirbt. Dieser Grundsatz untersagt neben der aktiven Sterbehilfe im Krankheitsfall natürlich auch den regulären Selbstmord aus anderen Gründen. Das Leben gehört nicht dem Menschen selbst – das ist die arrogante Annahme der Mehrheitsgesellschaft – sondern es gehört demjenigen, der es erschaffen hat.

(Man könnte zwar auf die Idee kommen, auch gegen das Heilen von Menschen damit zu argumentieren, dass Gott allein Herr über Leben und Tod, über Krankheit und Gesundheit ist, und dass wenn Gott jemanden krank gemacht hat, der Mensch ihn nicht heilen darf – jedoch haben wir in diesem Fall einen Bibelvers, der uns das Heilen ausdrücklich erlaubt/auferlegt. - vgl. die Auslegung in Brachot 60a und Bawa Kama 85a)

(2.) Das Leben ist nicht willkürlich, sondern jeder Mensch hat eine Aufgabe, die er erfüllen muss und der Tod tritt durch göttliche Fügung erst ein, wenn diese Aufgabe erfüllt ist. Daher soll sich der Mensch nicht in die Festlegung des Todeszeitpunktes einmischen. Selbst wenn jemand ans Bett gebunden ist, können wir nicht wissen, zu welchen Gedanken und Taten er möglicherweise, die Leute veranlasst, die mit ihm Umgang haben – z.B. die Einsicht wie kurz und daher wertvoll das Leben ist und dass man es nicht verschwenden soll. Oder welche Gedanken der reuigen Umkehr der Patient noch anstellen muss und welche Gebete er noch zum Himmel erheben muss, bevor seine Aufgabe auf der Welt beendet ist.

(3.) Von Gott geht kein Unrecht aus (der Holocaust war seitens der Täter Unrecht, aber warum es Gott so gefügt hat, können wir als Menschen nicht beurteilen). Daher muss es für die Unannehmlichkeiten, die gewisse medizinische Situationen mit sich bringen einen legitimen Grund geben. Dieser Grund wird darin gesehen, dass der Mensch so von seinen Sünden geläutert wird und reiner in die kommende Welt eintritt. Die körperlichen Leiden haben einen reinigenden Effekt für die Seele und es ist für den Menschen besser, wenn seine Seele noch in dieser Welt gereinigt wird und nicht erst in der nächsten. Ein beschleunigter Tod würde diesen Prozess behindern.

All das Gesagte bezieht sich nur auf Menschen. Bei kranken, leidenden Tieren ist die aktive Sterbehilfe erlaubt. Man mag sich fragen, wie das sein kann, dass man Tiere vermeintlich besser behandelt als Menschen. An sich mag es gute Gründe für die aktive Sterbehilfe geben und diese sind im Fall von Tieren ausschlaggebend. Hier stehen die Pro-Argumente für die aktive Sterbehilfe für sich allein. (Bezüglich Tieren darf der Menschen über deren Todeszeitpunkt entscheiden (z.B. zum Verzehr von Fleisch); ein Tier hat keine individuelle Aufgabe auf der Welt; und da es auch keine guten und bösen Tiere gibt (auch ein beißender Hund ist nicht im moralischen Sinne „böse“), unterliegen sie nicht den Grundsätzen von Lohn und Strafe). Aber im Fall des Menschen werden die Pro-Argumente durch die oben genannten Contra-Argumente mehr als aufgewogen.

Die Position des Judentums gegenüber der passiven Sterbehilfe ist hingegen nicht so eindeutig wie die gegenüber der aktiven. So ist die anfangs zitierte Talmudstelle zum Beispiel ein Fall von gutgeheißener passiver Sterbehilfe. Solange die Rabbiner beteten, konnte die Seele von Rabbi Jehuda Ha-Nasi seinen Körper nicht verlassen und die Hausangestellte hat diese Maschine sozusagen abgestellt. Dennoch sollte man auch hier sehr vorsichtig sein. Je nach der jeweiligen medizinischen Situation, gibt es Behandlungen, die man einem Patienten vorenthalten darf mit dem Ziel sein Ableben zu ermöglichen und andere, die man verpflichtet ist durchzuführen.

 

Praktische Anweisungen für sterbenskranke Patienten, deren Angehörige und medizinisches Personal

Wie gesagt, ist die aktive Sterbehilfe auf jeden Fall strengstens verboten. Kranke und Angehörige müssen ihr widersprechen und medizinisches Personal muss sich weigern an der Durchführung auch nur im Entferntesten teilzunehmen.

Bei Fragen der passiven Sterbehilfe sollte – da der Tod nicht umkehrbar ist – der Patient immer am Leben gehalten werden, bis man den Fall mit einem orthodoxen Rabbiner besprochen hat. Wobei zu erwarten ist, dass sich der Rabbiner mit einer Organisation wie der folgenden besprechen wird:

Das Puah Institut in Jerusalem (www.puah.org.il) befasst sich mit der Schnittstelle zwischen Medizin und jüdischem Religionsgesetz. Am berühmtesten ist es für seine Expertise in Fragen der Unfruchtbarkeit bei Frauen und Männern und religionskonformen Behandlungsmöglichkeiten bei vorliegendem Kinderwunsch. Das Institut setzt sich jedoch noch mit anderen Fragen auseinander und die Abteilung „Keduschat ha-Chayim“ befasst sich damit, wie lange welche lebenserhaltenden Maßnahmen aufrechterhalten werden müssen und wann sie aufgegeben werden dürfen. Die Abteilung unterhält eine 24-Stunden-Hotline (israelische Telefonnummer: 0795555955).

Die in New York basierte Organisation „Chayim Aruchim“ (www.chayimaruchim.com) hat sich ausschließlich auf „end-of-life decisions“ spezialisiert und auch sie unterhält für die Öffentlichkeit eine 24-Stunden-Hotline (amerikanische Telefonnummer: 7182782446).

Es gibt noch weitere Organisationen, die sich mit medizinischer Ethik aus einer jüdisch-orthodoxen Perspektive befassen (z.B. www.medethics.org.il). Aber die beiden obigen Organisationen richten sich durch ihre Beratungshotlines speziell an die Öffentlichkeit.

Da niemand weiß, wann er in eine Lage geraten wird, in der er über seine medizinischen Angelegenheiten nicht mehr selbst entscheiden kann, sollte er in einer Patientenverfügung festlegen, dass er in Übereinstimmung mit den jüdischen orthodoxen Regeln behandelt werden will – zu Lebzeiten und im Tod (keine Autopsie). Und in der Vorsorgevollmacht/Betreuungsverfügung sollte eine orthodoxe Person (in vorheriger Absprache mit ihr) benannt werden, oder falls rechtlich möglich eine der genannten Organisationen im Ausland.

(Die Frage von Organspenden – die über diesen Artikel hinausgeht – erfordert häufig schnelle Entscheidungen noch bevor die Patientenverfügung herbeigebracht werden kann. Daher sollte man Informationen über seinen diesbezüglichen Willen am besten im Geldbeutel tragen. Eine Einleitung in das Thema bietet der kurze Artikel „Organ Donation in Judaism“ von Aron Moss auf der Chabad-Website. Nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen längeren Artikel von Dr. Shlomo Minkowitz auf derselben Website.)

Deutschsprachige Lektüreempfehlung zum Thema der Sterbehilfe: Die Doktorarbeit von Moritz Figdor: „Halacha und Fragen am Ende des Lebens“, LMU, 2015, (https://edoc.ub.uni-muenchen.de/18969/1/Figdor_Moritz.pdf).

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