Daf Yomi – Stellen aus dem Talmud
11923 hat Rabbi Meir Shapira aus Lublin die Initiative „Daf Yomi“ angeregt. Heute befinden wir uns im 14. Zyklus. Als Teil davon können Juden überall auf der Welt dasselbe Blatt aus dem Talmud lernen. Der Beitrag stellt eine Fortsetzung der in der Jüdischen Rundschau im Januar 2022 begonnenen jüdischen Lern-Initiative dar. (JR)
Rabbi Akibas Veranlagung wurde durch das Studium der Tora veredelt © WILIPEDIA
Rabbi Akiba und seine Frau Rachel
Im Artikel der Mai-Ausgabe haben wir über den Tod der 24.000 Schüler von Rabbi Akiba geredet. Diesen werden wir auch heute wieder begegnen in unserer Behandlung der Talmudstelle, welche die Umstände der Heirat des berühmten Rabbi Akiba und seiner Frau Rachel beschreibt. Es gibt hierzu in der rabbinischen Literatur mehrere Ausführungen (z.B. in Nedarim 50a und in Avot de-Rabbi Natan). Aber die bekannteste ist die in Ketubot auf den Seiten 62b bis 63a (die am 6./7. September 2022 gelesen werden).
Eingebettet ist die unten zitierte Stelle in eine religionsgesetzliche Diskussion darüber, wie lange Männer am Stück von ihren Frauen Abschied nehmen dürfen, um im jüdischen Lehrhaus zu studieren – wie lange mit und wie lange ohne Zustimmung der Frau. Und in diesem Kontext gibt es auch narrative Texte über verschiedene Gelehrte und darüber, wie sie diese Frage gehandhabt haben. Dort findet sich folgender Wortlaut (eigene Übersetzung):
„Rabbi Akiba [RA] war ein Hirte im Dienst von Ben Kalba Sawu’a [BKS]. Seine Tochter [die von BKS] sah, dass er bescheiden war und gute Charaktereigenschaften hatte. Sie fragte ihn: ‚Wenn ich dich heirate, wirst du dann ins Lehrhaus gehen?‘ Er sagte ihr: ‚Ja‘. Sie heiratete ihn heimlich und schickte ihn weg [ins Lehrhaus]. Als ihr Vater davon hörte, schmiss er sie aus dem Haus und schwor, dass sie von seinem Vermögen keinen Nutzen haben dürfe. Er ging und lernte zwölf Jahre im Lehrhaus. Als er zurückkam, folgten ihm 12.000 Schüler. Er hörte einen alten Mann zu ihr sprechen: ‚Wie lange noch wirst du zu Lebzeiten deines Mannes wie eine Witwe leben?‘ Sie antwortete ihm: ‚Wenn er auf mich hören würde, soll er noch weitere zwölf Jahr im Lehrhaus lernen.‘ Er [RA] sagte sich: ‚Ich handle mit ihrer Zustimmung‘, drehte um und ging zwölf weitere Jahre ins Lehrhaus. Als er zurückkam, folgten ihm 24.000 Schüler. Seine Frau hörte [von seiner Ankunft] … Als sie zu ihm gelangte … Man stieß sie weg, aber er [RA] sagte ihnen: ‚Lasst sie, denn Meines und Eures ist [in Wahrheit] Ihres.‘ Ihr Vater hörte, dass ein großer Mann in den Ort gekommen ist und sagte sich: ‚Ich werde zu ihm gehen, vielleicht ist es möglich, mich von meinem Schwur zu entbinden.‘ Er kam zu ihm. Er [RA] fragte ihn [BKS]: ‚Hättest du deinen Schwur geleistet, wenn er [der Ehemann deiner Tochter] ein großer Mann gewesen wäre?‘ Er antwortete ihm: ‚Wenn er auch nur ein einziges Kapitel, oder sogar nur ein einziges Gesetz gekannt hätte [hätte ich den Schwur nicht geleistet].‘ Er [RA] antwortete ihm [BKS]: ‚Ich bin derjenige [von damals, der deine Tochter geheiratet und wegen dem du den Schwur geleistet hast]‘. Er fiel auf sein Angesicht, küsste Akiba’s Füße und gab ihm die Hälfte seines Vermögens.“
Erklärung vereinzelter Punkte der zitierten Talmudstelle: Dass Akiba als „Rabbi“ bezeichnet wird, ist natürlich eine zeitliche Vorwegnahme der späteren Situation. – Viele biblische Anführer waren Hirten, allen voran Moses und David, und in rabbinischen Zeiten trifft das auch auf Akiba zu. Die Fürsorge für die Herde hat diese Persönlichkeiten auf ihre späteren Führungsrollen vorbereitet. – Ben Kalba Sawu’a war damals einer der reichsten Männer in Israel. – Akiba’s weise Frau konnte sehen, dass gute Charaktereigenschaften allein nicht ausreichend sind, sondern dass diese Veranlagung noch durch das Studium der Tora veredelt werden muss. Und umgekehrt wird über König David berichtet, dass dieser eine blutvergießende Veranlagung hatte, diese jedoch nicht als Krimineller ausübte, sondern als König mehrere Kriege zur Verteidigung des jüdischen Volkes führte. Veranlagungen sind dem Menschen manchmal in die Wiege gelegt, aber was man daraus macht, ist die Verantwortung eines jeden Einzelnen. – Der reiche BKS war sauer auf seine Tochter, da sie eine Person von einem so niedrigen sozialen Stand geheiratet hat. – Der nächste Punkt zeigt uns, wie sehr man auch während man wütend ist, über seine Worte nachdenken muss. Denn der Schwur, den BKS im Moment des Zorns leistete, bindet ihn rechtskräftig und untersagt ihm die Unterstützung seiner Tochter. Ein Schritt, den BKS später bereuen wird. – Es vergehen zwölf Jahre und zwischenzeitlich ist Akiba vom Schüler ohne Vorkenntnisse zum Lehrmeister mit 12.000 eigenen Schülern aufgestiegen. – Bei seiner Rückkehr nach so vielen Jahren hört er, wie gerade jemand seiner Frau das Festhalten an der Ehe mit ihm ausreden will und wie standhaft sie ist. Es scheint so, als hätte er seine Frau bei dieser Gelegenheit überhaupt nicht getroffen, sondern dass er auf der Stelle umgekehrt ist. – Nach weiteren zwölf Jahren kehrt er endgültig zu seiner Frau zurück, dieses Mal mit den 24.000 Schülern, die wir bereits in der Mai-Ausgabe der Jüdischen Rundschau kennengelernt haben. – Im massenhaften Auflauf, den dieser „Celebrity“ verursacht, wird Rachel schnell zur Seite geschoben, weil man nicht weiß, wer sie ist. – BKS konsultiert den für ihn namenlosen Gelehrten und fragt ihn nach einer juristischen Möglichkeit, ihn von seinem Schwur, den er inzwischen bereut, zu entbinden. Rabbi Akiba findet eine Lücke. Er fragt BKS was seine Intention zum Zeitpunkt seines Schwurs war und ob er darauf bestand, dass der Mann seiner Tochter ein Gelehrter sein soll. BKS antwortet, dass ihm selbst eine minimale Bildung seines Schwiegersohnes ausgereicht hätte. Daraufhin gibt sich Rabbi Akiba zu erkennen und der Schwur ist hinfällig, denn er basiert darauf, dass sein Schwiegersohn ungebildet sei.
Frauen, das Tora-Studium ihrer Männer, und ihr eigenes
Der Verdienst von Akibas Frau in obiger Geschichte besteht in einem Leben voller Verzicht, um ihrem Mann das Studium der Tora zu ermöglichen. Nicht jedoch in ihrem eigenen Studium der Tora. Das mag die Frage aufwerfen, wie es um das Tora-Studium von Frauen steht. In den rabbinischen Quellen finden sich dazu unterschiedliche Aussagen, die generelle Linie ist jedoch die folgende:
Das Tora-Lernen als Selbstzweck ist nur für jüdische Männer verpflichtend. Wobei Selbstzweck bedeutet, dass man auch Teile der Tora lernen muss, die für jemanden nicht anwendbar sind. Unser Tempel wurde seit seiner Zerstörung leider noch nicht wieder errichtet, aber wir warten jeden Tag darauf. Und in diesem Sinne ist selbst die Erlernung der Tempelgesetze relevant. Aber einige Gesetze betreffen nur die Kohanim-Priester, die direkten Nachfahren von Aharon, und sind für alle anderen nicht anwendbar. Aber dennoch sollten sie idealerweise von jedem jüdischen Mann erlernt werden. Oder wenn wir von der idealistischen Situation ausgehen, dass jemand bereits die gesamte Tora sicher beherrscht, so müsste er dennoch wieder von vorne beginnen und dürfte das Studium der Tora niemals vernachlässigen. Nach dem Bestreiten des Lebensunterhaltes haben Männer dazu zumeist ein paar freie Stunden am Tag.
Frauen hingegen, denen in der familieninternen Arbeitsteilung eine andere Funktion zugedacht ist, haben zumeist keine freie Zeit am Stück und müssen für die Kinder immer auf Abruf bereit sein. Daher sind sie vom Tora-Studium ebenso befreit wie von den meisten zeitgebundenen Geboten. Aber natürlich müssen sie die Gebote lernen, die sie selbst betreffen, also koschere Nahrungsgesetze, Gesetze bezüglich Schabbat und Feiertagen, eheliche Angelegenheiten zwischen Mann und Frau und vieles mehr. Außerdem auch Grundsätze des Glaubens und der Moral. Vor allem die Bedeutung der letzten beiden Punkte hat in der Moderne zugenommen, weil man nicht mehr in einer geschlossenen jüdischen Welt lebt, sondern immer mehr fremden Einflüssen ausgesetzt ist und ein gutes Fundament im Glauben braucht, um nicht in die Irre zu gehen. Die notwendigen Kenntnisse im Religionsgesetz sind auch umfangreich, sind jedoch im zeitlichen Vergleich mit anderen Perioden eher konstant geblieben.
In der Februar-Ausgabe haben wir einen Grundsatz erklärt, welcher der natürlichen Intuition widersprechen mag – und zwar „dass eine Person, die eine gute Tat ausführt, die ihm durch das göttliche Gesetz geboten ist, mehr vollbringt als eine Person, welche die gleiche Tat ausführt, ohne dass sie ihm gesetzlich obliegt.“ Und so haben auch Frauen, die über das oben besagte Maß hinaus Tora lernen, einen Verdienst, aber einen geringeren als die Männer (vgl. in der genannten Ausgabe).
Ein weiterer Grundsatz, welcher der Intuition widersprechen mag, findet sich in Bawa Batra 9a und besagt, dass eine Person, die eine andere dazu bringt, ein Gebot zu erfüllen, unter gewissen Umständen Größeres vollbringt als die Person, die das Gebot nun tatsächlich selbst erfüllt. Behandelt wird dieser Grundsatz an der genannten Stelle im Zusammenhang mit dem Geben von Spenden, als Idee lässt es sich jedoch auch auf weitere Themenbereiche anwenden.
Frauen können durch ihre Unterstützung und Ermutigung auch einen Anteil am Verdienst des Tora-Studiums ihres Mannes und ihrer Söhne erwerben. Rachel’s Beitrag am Tora-Studium ihres Mannes ist so groß, dass Rabbi Akiba im obigen Zitat sowohl seinen eigenen Verdienst als auch den seiner Schüler ihr zuschreibt („Meines und Eures ist Ihres“). Und daher sollte man die eigenen Angehörigen und jüdische Freunde stets zum Studium der Tora ermutigen.
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