Warum das jüdische Volk immer existieren wird

Eine Replik auf das allzu resignative und kleingläubige Menetekel von Michael Wolffsohn zum Untergang des jüdischen Volkes. (JR)

© IROZ GAIZKA / AFP

Von Rabbi Elischa Portnoy

Ist das jüdische Volk aktuell in Gefahr, vernichtet zu werden?

Wenn man das jüdische Leben in Deutschland betrachtet, gibt es selten Ansätze für Optimismus. Doch nicht nur innerjüdische Probleme wie Demografie oder Assimilation machen Sorgen, sondern es sind eher Probleme, die von außen kommen. Und vor allem wachsender und immer stärker werdender Antisemitismus. Es sind nicht nur Übergriffe und Pöbeleien auf der Straße, gegen Personen, die jüdisch aussehen, Hebräisch sprechen oder jüdische Symbole tragen. Es ist auch israelbezogener Antisemitismus, der so in die Gesellschaft vordrang, dass er bei manchen Kunstveranstaltungen als ganz normal empfunden wird. So wundern Panzergläser für Fenster für die neu gebauten jüdischen Schulen und Synagogen, sowie regelmäßige Antiterror-Trainings in jüdischen Kitas und Schulen niemanden mehr und werden zum Alltag.

Doch die Probleme gibt es für die Juden nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Tausende fliehen aus der Ukraine vor dem Krieg und aus Russland vom wirtschaftlichen und politischen Kollaps. Jüdische Paraden in Israel am Unabhängigkeitstag werden sogar in der Hauptstadt des Landes massiv von Polizei und Militär beschützt. In fast allen Ländern in Europa müssen Synagogen schwer bewacht werden. Und sogar Juden in den USA fühlen sich wegen der starken Polarisierung der Gesellschaft nicht mehr wohl.

Diese düsteren Betrachtungen haben wohl sogar solch einen standhaften Menschen wie den Historiker Michael Wolffsohn beeindruckt. In seinem Interview in der „Berliner Zeitung“ (vom 1.06.22) meinte der Experte, dass das „Ende des jüdischen Volkes absehbar“ ist. Also, Herr Wolffsohn kann sich durchaus vorstellen, dass alle Juden unter Umständen tatsächlich vollständig vernichtet werden können.

Doch ist das realistisch? Kann es tatsächlich dazu kommen, dass diese Welt ohne Juden bleibt? Um diese Fragen zu beantworten, muss man die jüdische Geschichte vom Anfang an betrachten.

 

Schwierige Befreiung aus Ägypten

Das jüdische Volk stammt bekanntlich von den Vorvätern Avraham, Jitzhak und Jakow ab. Als im Land Kenaan, wo Jakow mit seinen Kindern lebte, eine Hungersnot ausbrach, musste er mit seinen Kindern nach Ägypten übersiedeln. Die Nachkommen von Jakow wurden dort versklavt, jedoch vermehrten sie sich auf wunderbare Weise und wurden zu einem Volk.

Auch wenn G’tt dem Avraham versprochen hat, seine Nachkommen aus Ägypten zu retten, war es sogar für ihn eine Herausforderung. Juden wurden von den ägyptischen Nachbarn zum Schlechten beeinflusst, wurden zu Götzendienern und fielen in den 49.Level der rituellen Unreinheit. Der Überlieferung zufolge wären Juden nur noch einen weiteren Tag in Ägypten geblieben, wären sie nicht mehr zu retten gewesen. Doch weil unsere Vorfahren in Ägypten ihre jüdischen Kleider, ihre Sprache (Hebräisch) und ihre jüdischen Namen beibehalten hatten, haben sie es doch verdient aus der Sklaverei gerettet zu werden. Also, schon damals drohte das Ende des jüdischen Volkes, noch bevor es überhaupt entstand.

 

Rettung nach dem Goldenen Kalb

Doch die Euphorie der Befreiung aus der Sklaverei dauerte nicht lange, schon sehr bald kam es zur ersten existenziellen Krise des jüdischen Volkes. Knapp vier Monaten nach dem Auszug aus Ägypten (am 17.Tammuz, den wir im Monat Juli mit dem Fasten gedenken werden) haben Juden mit der Erschaffung des „Goldenen Kalbes“ einen großen Fehler gemacht. Man kann sich jetzt schwer vorstellen, dass die Menschen, die unglaubliche Wunder wie die Zehn Plagen oder die Teilung des Schilfmeers mit eigenen Augen gesehen haben, nur wenige Wochen danach einen Götzen machen konnten. Und natürlich nicht alle, die mitgemacht haben, waren unbelehrbare Götzendiener. Es gab da sogar diejenigen, die dabei sehr gute und sogar edle Absichten hatten. Und es gab dort auch Menschen, die nicht mitgemacht haben (wie Frauen und der ganze Stamm Levi). Doch niemand hat protestiert und G’ttes Zorn brannte auf. G’tt teilte Mosche mit, dass Er das ganze Volk bis auf Mosche vernichten wird und dass ein neues Volk vom Mosche entstammen wird. Nur die aufopferungsvollen Gebete von Mosche haben die Vernichtung des jüdischen Volkes verhindert. Aus dieser Begebenheit sehen wir aber auch, dass sogar bei dem größten Zorn wird G’tt sie nicht vollständig auslöschen. Auch wenn das ganze Volk, das aus Ägypten befreit wurde, vernichtet worden wäre, wäre Mosche als ein Teil des Volkes geblieben. Und das ist kein Zufall.

 

Versprechen von G’tt

In der Tora gibt es mehrere Hinweise darauf, dass das jüdische Volk nie verschwinden wird. Vor allem ist es der Bund, der G’tt mit unserem Vorvater Avraham geschlossen hat (Bereschit 17:7): „Und ich werde meinen Bund zwischen mir und dir errichten und deinen Nachkommen nach dir für ihre Nachkommen zu einem ewigen Bund, dir zu sein ein Gott und deinen Nachkommen nach dir“.

Ein anderer Hinweis ist, dass die Tora nie vergessen wird (zum Beispiel Dwarim 31:21). Und da es die Juden sind, die die Tora lernen sollen, bedeutet es, dass auch die Juden ewig sein werden und es werden immer Juden sein, die sich mit der Tora beschäftigen. Es sind schon mehr als 3334 Jahre vergangen, seitdem die Tora am Berg Sinai gegeben wurde. Und obwohl große Imperien aufgestanden waren und verschwunden sind, existieren Juden trotz der Verfolgungen und trotz Zerstreuung in der Diaspora immer noch und lernen immer noch die gleiche Tora, die Mosche bekommen hat. In der Tora wurde auch vorhergesagt (an mehreren Stellen), dass die Juden sündigen werden, gegen G’tt rebellieren, Götzen dienen und vieles anderes machen werden, was gegen G’tt ist. Dort wurde auch die Vertreibung der Juden aus Israel vorhergesagt und zahlreiche Unglücke, die dem jüdischen Volk passieren werden. Jedoch ist die Botschaft dort ziemlich klar: auch bei solchen Umständen werden immer Juden überdauern und die Juden werden schließlich nach Israel zurückkehren.

 

Rettung in der Purim-Geschichte

Doch es gab in der Geschichte ein weiteres Mal, dass die Existenz des jüdischen Volkes auf der Kippe stand. Es passierte vor mehr als 350 Jahren vor unserer Zeitrechnung in Persien und ist jetzt als Purim-Geschichte bekannt. Damals befand sich praktisch das ganze Volk in einem Imperium unter der Macht eines Königs. Und als dem Judenhasser Haman der Aufstieg gelang und er zum Vize-König wurde und er fast unbegrenzte Macht bekam, entschied er, dass er jetzt alle Juden auf einmal vernichtet kann. Das war wohl der erste Versuch der „Endlösung“. Haman bestach König Ahaschwerosch (der auch kein Fan von Juden war) durch eine große Summe Geld und bekam die Erlaubnis, mit den Juden das zu machen, was Haman für „richtig hält“. Haman zögerte nicht lange, fand durch Lose-Werfen einen passenden Tag (13.Adar) und verfasste ein Dekret an alle Gouverneure, dass an diesem Tag alle Juden vernichtet werden sollten. Damit gab er so zu sagen Carte Blanche für Pogrome und Plünderungen an den Juden.

Die jüdischen Weisen haben diese Bedrohung sehr ernst genommen. Auch wenn bis dieses Datum fast ein Jahr verblieb, verstand der damalige Anführer des Volkes Mordechai, dass man sehr schnell handeln muss. Er hat auch verstanden, dass diese Gefahr der totalen Vernichtung nicht einfach so entstand. Juden haben mehrere Sünden begangen und damit G’ttes Zorn auf sich gezogen. Deshalb war es vor allem ein Himmlisches Dekret gegen die Juden, der den Erfolg von Haman ermöglichte.

Mordechai ergriff daraufhin mehrere Maßnahmen, unter anderem bat er Königin Esther (die auch Jüdin war) um Hilfe. Er verlangte von ihr zum König zu gehen und sich für die Rettung der Juden einzusetzen. Auch Esther verstand, wie groß die Gefahr für das jüdische Volk war und dass man etwas unternehmen soll. Jedoch konnte sie nicht einfach so zum König gehen: alle Hofleute wussten, dass man zum König nur mit einer Einladung reindurfte. Sollte jemand aus eigener Initiative zu ihm kommen, riskierte er die sofortige Hinrichtung, wenn der König schlecht gelaunt sein sollte. So bat sie den Boten, Mordechai das zu übermitteln und zu erklären, warum sie jetzt nicht zum König gehen konnte: sie wurde schon lange nicht mehr zum König gerufen und deshalb wäre es für sie einfach lebensgefährlich. Doch Mordechai nahm dieses Argument nicht an. Er vermutete, dass Esther nur eine Ausrede erfand, um ihr Leben nicht zu riskieren und wies sie scharf zurecht: „Denke nicht in deinem Herzen, dass du im Hause des Königs allein vor allen Juden entkommen werdest“. Und dann fügt er noch einen Satz hinzu, der für uns wichtig ist: „Denn wenn du in dieser Zeit irgend schweigst, so wird Befreiung und Errettung für die Juden von einem anderen Orte her erstehen; du aber und deines Vaters Haus, ihr werdet umkommen. Und wer weiß, ob du nicht für eine Zeit, wie diese, zum Königtum gelangt bist?“

Mordechai sagt hier immens wichtige Wörter. Er ist absolut sicher, dass die Juden als Volk nicht vernichten werden, auch wenn die Lage hoffnungslos zu sein scheint. Es können einzelne Juden sterben und sogar sehr viele, doch das Volk wird bestehen bleiben. Egal wie, denn G’tt hat es versprochen! Und wie die Rettung in Wirklichkeit aussehen wird, weiß nur G’tt.

Was gibt es bei einer Bedrohung zu machen?

Und das ist eigentlich eine goldene Regel für die ewige jüdische Existenz. Wenn die Juden als Volk oder als eine Gemeinde (wegen ihrer Sünden) in Gefahr sind, sollen sie zwei Sachen machen: zu G’tt beten und für Seine Rettung bitten und versuchen, selbst etwas zu unternehmen, um sich von den Feinden zu retten. Manchmal ist es Fasten, wie in der Purim-Geschichte, manchmal ist es militärischer Kampf, wie in der Chanukka-Geschichte. Und was gerade die beste Option für die Rettung ist, können weder Politiker noch Generäle, sondern große Rabbiner entscheiden. Viele lokale und nationale Tragödien könnten vermieden werden, wenn die jüdischen Anführer die Ratschläge der Rabbiner gehört hätten. Denn die Tatsache ist, auch wenn das jüdische Volk als Nation unzerstörbar ist, gibt es keine Garantie für die Rettung jedes einzelnen Juden. Man muss nicht lange zurückschauen, um die Bestätigung dafür zu finden. Gerade während des Holocaust starben viele, auch sehr gute und würdige Menschen. Viele Menschen haben es auch überlebt. Manche haben es auf so wunderbare Weise überlebt, dass man nicht daran glauben würde, wenn es nicht zahlreiche Zeugen gäbe. Als besonders herausragende und bekannte Beispiele kann man die wunderbare Rettung von Jeschiwat Mir, Brisker Rov, Rabbi Yitzchok Zev Halevi Soloveitchik (1886-1959) und 6.Ljubawitschen Rebben Rabbi Yosef Yitzchak Schneersohn (1880-1950) nennen.

Deshalb, wenn wir die heutige Situation in der Welt betrachten, können wir uns berechtigte Sorgen um die Juden in Russland, der Ukraine, Deutschland oder Israel machen. Doch worüber wir uns sicher sein können, ist, dass auch wenn es in einem bestimmten Land für Juden eng wird, werden sie irgendwo anders das rettende Ufer finden. Denn es gab es seit der Purim-Geschichte nie, dass alle Juden unter einem Herrscher waren. Und wenn es Verfolgungen an einem Ort gab, gab es immer einen anderen Ort, wo Juden nicht verfolgt waren und sie sich dorthin retten konnten. So zum Beispiel retteten sich die Juden von der Vertreibung aus Spanien in die Türkei, Italien, Ägypten, Marokko und sogar nach Indien. Von den Pogromen und Vertreibungen in Frankreich und Deutschland, retteten sich die Juden nach Polen und Osteuropa. Wenn es in Russland für Juden eng wurde, gingen viele nach Amerika.

Ist die erneute Vernichtung des jüdischen Lebens in Israel möglich?

Doch was ist mit der These von Herrn Wolffsohn, dass die Existenz von nuklearen Waffen auch für Israel bedrohlich sein könnte?

Tatsächlich kann man keine Garantie geben, dass das aktuelle jüdische Leben in Israel nie wieder zerstört wird. G’tt hat schon Juden zwei Mal aus dem Gelobten Land vertrieben und kann es theoretisch nochmal machen. Desto mehr, dass die Tora die Existenz der Juden im Heiligen Land daran verknüpft, dass sie dort G’ttes Gebote halten werden. Und wenn man bedenkt, dass sich nur ein Bruchteil der Juden in Israel tatsächlich an die Gebote hält und die Politik auch noch versucht, es ihnen zu erschweren, kann die Bedrohung atomarer Vernichtung sehr real sein. Doch was auch immer und wo auch immer passiert, können wir uns über eines sicher sein: irgendwo werden Juden schon überleben.

Jedoch das befreit uns nicht vom „Ischtadlut“ -Bemühungen uns selbst zu helfen. Wenn wir lokal in Gefahr sind, sollen wir uns auch dagegen wehren. Als Erstes sollen wir uns an unsere Tradition halten, wir sollen an G’tt und Seine Macht glauben und wir sollen auf Seine Rettung hoffen. Jedoch müssen wir auch gegen Antisemitismus und gegen lokale Antisemiten kämpfen, und zwar vom Anfang an, nicht wenn es schon zu spät sein wird. Und das gilt natürlich auch für die Juden in Deutschland, die sich ihrer Tradition oft nicht sehr bewusst sind, und anderseits immer öfter Antisemitismus begegnen, heutzutage sogar als „Kunst“ getarnt.

Eine Legende besagt, dass der Römisch-Deutsche Kaiser Josef II (1741-1790) einmal einen berühmten nichtjüdischen Philosophen fragte, ob er einen Beweis für die Existenz G’ttes hat. Der Philosoph antworte, dass er einen Beweis dafür hat und das sind die Juden: wenn sie trotz allem immer noch existieren, sollte es ja G’tt geben.

Ob diese Geschichte wahr ist oder erfunden wurde, wissen wir nicht. Jedoch werden hoffentlich auch diejenigen Juden, die sich viele Sorgen über die Zukunft des jüdischen Volkes machen, daran denken und mit mehr Optimismus in die Zukunft blicken.

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