Daf Yomi – Stellen aus dem Talmud

11923 hat Rabbi Meir Shapira aus Lublin die Initiative „Daf Yomi“ angeregt. Heute befinden wir uns im 14. Zyklus. Als Teil davon können Juden überall auf der Welt dasselbe Blatt aus dem Talmud lernen. Der Beitrag stellt eine Fortsetzung der in der Jüdischen Rundschau im Januar 2022 begonnenen jüdischen Lern-Initiative dar. (JR)

Eine kunstvoll verzierte Ketuba


Von Patrick Casiano

Ein neuer Abschnitt des Talmuds – jüdische Eheverträge

Am 8. Juli 2022 beginnt der Lesezyklus ein neues Kapitel oder Buch des Talmuds, das uns bis zum 26. Oktober 2022 beschäftigen wird. Das Buch „Ketubot“ behandelt gemäß seinem Namen Eheverträge. Aber wie für den Talmud kennzeichnend, gibt es in den Diskussionen viele assoziative Abweichungen und somit finden sich noch andere Themen in diesem Buch. Im vorliegenden Fall sind das vor allem Anforderungen für das korrekte Verfassen anderer juristischer Dokumente und für die Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen vor Gericht.

Die Institution der Ehe ist für das Judentum zentral. Nur durch klare Grenzen, wen man heiraten kann, konnte diese Minderheit 2.000 Jahre lang unter verschiedenen Völkern leben, ohne sich durch Assimilation in Luft aufzulösen. Diese Bedeutung drückt sich an vielen Stellen aus. So beschäftigt sich zum Beispiel die Tora-Lesung an Jom Kipur (3. Buch Mose, Kapitel 18), dem heiligsten Tag überhaupt – nach dem Mincha-Gebet und kurz vor dem Ne’ila-Gebet, dem Höhepunkt des Jahres – aus allen möglichen Themen eben genau mit verbotenen Geschlechtsbeziehungen. Und als säkulare und religiöse Juden in den Jahren der Staatsgründung Israels Kompromisse eingehen mussten, achteten die Religiösen darauf, dass gerade das Ehewesen gemäß ihren Vorstellungen gestaltet wird. Dieser Status Quo gilt in Israel bis heute – wenn er auch stark umstritten ist. Die Liste ließe sich fortsetzen. Jedenfalls erfordert die zentrale Bedeutung der Ehe eine Regulierung eben dieser, und dies ist das Anliegen des Buches Ketubot.

Eine Ketuba ist ein juristisches Dokument im jüdischen Recht, das die Pflichten – vor allem finanzielle, aber auch intime – des Ehemanns gegenüber der Frau festhält. Trotz dieser Einseitigkeit (es werden keine Pflichten der Frau erwähnt) hat sich im Deutschen die Übersetzung als „Ehevertrag“ eingebürgert. Auch der Umstand, dass die darin genannten Bedingungen heutzutage meistens standardisiert, und nicht etwa in jedem Fall individuell ausgehandelt sind, lassen die Übersetzung als „Vertrag“ eigentlich als unpassend erscheinen. Das in der Ketuba Geschriebene ist einfach jüdisches Gesetz und würde den Ehemann sogar binden, wenn dieser seiner Frau keine Ketuba ausgehändigt hätte.

Während des Bestehens der Ehe sind finanzielle und intime Pflichten betroffen. Nach Auflösung der Ehe durch Scheidung oder Tod des Ehemanns geht es nur um die finanzielle Absicherung der Ehefrau. Das Ziel der Ketuba ist zweierlei. Das Judentum erkennt zwar die Notwendigkeit von Scheidungen an, aber nur als allerletzte Lösung nachdem bereits alles andere zur Rettung der Beziehung unternommen wurde. Ein Ziel der Ketuba ist es, durch die Zahlungsverpflichtung Ehemänner von überschnellen Scheidungen abzuhalten. Das andere Ziel ist die finanzielle Absicherung der Frau, falls es letzten Endes doch zu einer Scheidung kommen sollte.

Eine bekannte Kontroverse betrifft folgenden Umstand. Im Fall einer Jungfrau – was in der damaligen gesellschaftlichen Realität einfach einer noch nicht verheirateten Frau entsprochen hat – steht ihr im Fall der Scheidung ein Betrag zu, der ungefähr ausreichend ist, um die Lebenshaltungskosten eines Jahres abzudecken. Im Fall einer geschiedenen oder verwitweten Frau ist es die Hälfte davon. Dies wird häufig von feministischer Position aus kritisiert, wobei fehlerhafterweise angenommen wird, die Beträge würden irgendeine Wertschätzung ausdrücken. In Wahrheit wird diese Unterscheidung aber getroffen, weil eine geschiedene oder verwitwete Frau bereits durch die Ketuba seitens ihres ersten Ehemannes finanziell gut dastehen dürfte.

Abgesehen davon erhalten die Frauen die Vermögenswerte, die sie in Ehe eingebracht haben, zurück. Und in jedem Fall gehen die Ansprüche der Frau den Ansprüchen anderer Gläubiger voraus, sollte das Vermögen des Ehemanns nicht zur Begleichung aller Ansprüche ausreichen.

Natürlich sind die Vorschriften der Ketuba und der Inhalt des danach benannten Buches des Talmuds noch sehr viel umfangreicher. Aber andererseits gibt es auch spätere Entwicklungen im jüdischen Recht, welche diese Vorschriften relativieren. So hat z.B. Rabbi Gerschom (angenommene Lebensdaten: 960 Metz bis 1040 Mainz) – der dafür berühmt ist, die bis dahin in Aschkenas ohnehin nicht praktizierte Polygamie auch religionsgesetzlich per Dekret abgeschafft zu haben – auch verfügt, dass ein Mann seine Frau nicht ohne deren Zustimmung scheiden kann. Da dies das Kräfteverhältnis zwischen den Partnern verändert hat, blieb es auch für die Frage der Ketuba nicht ohne Folgen. Die Frau bedarf nicht mehr eines ganz so starken Schutzes wie zuvor. Dies kann Einfluss darauf haben, wie rabbinische Gerichte die Frage der Zahlung handhaben.

Die Geschichtsschreibung der Frauenrechte beginnt in den meisten Darstellungen erst 1791 mit der „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ im revolutionären Frankreich. Man mag sich fragen, ob so viele Geschichtsschreiber die Ketuba dabei einfach übersehen haben, oder ob diese Auslassung einem linken Antisemitismus geschuldet ist. Je nach dem was man unter Feminismus versteht, bewegen sich die Akteure in ähnlichen politischen Kreisen.

 

Die Ketuba als Kunstobjekt

Aus früheren Jahrhunderten sind uns viele reich dekorierte Ketubot erhalten geblieben. Die Verzierung hängt mit einem interessanten, aber umstrittenen Brauch zusammen. Es geht hierbei um die Frage, ob man die Ketuba zur Zierde im Haus aufhängen kann.

Dafür spricht, dass es sich bei der Ketuba um eine religiöse Pflicht handelt und somit kann ihre stolze Ausstellung eine Wertschätzung dieser Pflicht ausdrücken. Eventuell könnte man auch argumentieren, dass das Aufhängen der Ketuba an einer zentralen Stelle im Haus den Ehemann an seine Pflichten erinnert und daran, wie viel er zu zahlen hat, wenn er sich von seiner Frau ohne deren Verschulden scheiden ließe. Wie dem auch sein mag, auf jeden Fall hat der besagte Brauch dazu geführt, dass man früher manchmal in Ketubot investiert hat, die von Künstlern verziert wurden.

Dagegen spricht, dass das Dokument der Ketuba, um seinen Zweck des rechtlichen Schutzes der Frau erfüllen zu können, am besten außerhalb der Reichweite des Ehemannes aufbewahrt werden sollte, damit dieser es nicht vernichten kann. Normalerweise hinterlegt die Frau sie im Haus ihrer Eltern. Und da die Ketuba auch intime Pflichten des Ehemanns seiner Frau gegenüber enthält (wenn auch in einer standardisierten Form) sollte sie am besten nirgendwo aufgehängt werden, auch nicht im Haus der Eltern. Ein weiterer Grund gegen die Zur-Schau-Stellung der Ketuba ist, dass eine Beschäftigung mit ihr nur für den Fall der Scheidung oder beim Tod des Mannes vorgesehen ist und dass diese Zweckentfremdung zu Pech und zum Eintritt der genannten Fälle führen kann. Und abgesehen von der Frage des Pechs würde sich wohl auch keine Frau die Police der Lebensversicherung ihres Mannes einrahmen und ins Wohnzimmer hängen, um jedem Gast zu zeigen, wie viel sie kassieren wird, wenn ihr Mann endlich stirbt. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Gründe gegen eine Präsentierung der Ketuba überwiegen. Und tatsächlich ist dieser Brauch heute weitestgehend ausgestorben. Damit ist eine ganze Kunstrichtung aus unserer Mitte verschwunden, wobei jedoch heutzutage im Zeitalter des Drucks eine verzierte Ketuba auch nichts so besonderes mehr wäre.

Das Buch von Shalom Sabar, ins Deutsche übersetzt unter dem Titel: „Masel Tow – Illuminierte jüdische Eheverträge aus der Sammlung des Israel Museum“ (Jüdische Verlagsanstalt, 2000) ist eine empfehlenswerte Lektüre bezüglich des kunsthistorischen Aspektes von Ketubot. Von den 199 Seiten des großformatigen Buches finden sich auf 61 Seiten farbige Fotografien von Eheverträgen aus der gesamten jüdischen Welt, beginnend mit einer Ketuba aus Venedig aus dem Jahr 1612. Die Bildqualität und die Größe der Schrift ermöglichen dem hebräisch kundigen Leser in vielen Fällen die Lektüre des Originals.

Aber nicht nur kunstgeschichtlich ist das Buch bedeutsam. Wir erfahren auch viel über Sozialgeschichte, wenn wir uns die bildlichen Motive der Ketubot ansehen und sie im Rahmen ihrer Entstehungsumstände analysieren. Zum Beispiel fällt auf, dass in der islamischen Welt Darstellungen von Tieren und Menschen weitestgehend fehlen. Ein Umstand, der mit dem islamischen Bilderverbot zusammenhängt. Es gibt zwar auch ein jüdisches Bilderverbot, aber es bestehen Unterschiede zum islamischen. Eine bedeutende Ausnahme stellt die Darstellung von Löwen auf Ketubot aus dem Iran des 19. Jahrhunderts dar. Und auch dieses Phänomen wird sozialgeschichtlich verankert und mit der beginnenden Selbstidentifizierung mit dem entstehenden iranischen Nationalstaat in Verbindung gebracht, dessen nationales Symbol ein Löwe war.

Online können Sammlungen von Ketubot eingesehen werden z.B. auf den englischen Internetseiten des Israel Musuems (https://museum.imj.org.il/imagine/ketubot/en/) und der israelischen Nationalbibliothek (www.nli.org.il/en/discover/manuscripts/ketubot).

 

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