Daf Yomi – Stellen aus dem Talmud

In der Ausgabe vom Januar 2022 hat die Jüdische Rundschau damit begonnen, auszugsweise Stellen aus dem Talmud darzulegen und zu erörtern. Die Auswahl der Stellen erfolgt dabei anhand des festgelegten Lesezyklus, der als „Daf Yomi“ bezeichnet wird. Folgendes stellt eine Fortsetzung dar. (JR)

Von Patrick Casiano

Eines der aktuellen Blätter - Einen Nicht-Juden am Schabbat um einen Gefallen bitten

29. Juni 2022 (Yevamot 114): Die besagte Stelle erwähnt eine Situation, in der ein Nicht-Jude am Schabbat für einen Juden eine Handlung ausführt, die dem Juden aufgrund der Schabbat-Gebote untersagt ist. Ein Konzept, das im jüdischen Volksmund als „Schabbes-Goi“ bekannt ist und einige Fragen aufwerfen kann.

 

Was ist ein „Goi“?

Heutzutage bezeichnet dieses Wort einen Nicht-Juden. Die Annahme, dieses Wort wäre abwertend ist leider weit verbreitet, aber ohne wirkliche Grundlage.

Das Wort „Goi“ kommt in der Bibel über 500 Mal vor und hat dort die Bedeutung eines Volkes. „Volk“ im Sinne einer Gruppe mit religiösen und/oder sprachlichen und/oder ethnischen Eigenschaften, die es von einem anderen Volk unterscheidet. Im 2. Buch Moses, Kapitel 19 Vers 6 wird das jüdische Volk als „goi kadosch“ bezeichnet, also als heiliges Volk. Somit ist das Wort sicherlich nicht pejorativ.

Im Laufe der Zeit hat das Wort zwei Bedeutungsveränderungen durchlaufen. Einerseits der Wechsel von einem Kollektiv zu einem Individuum und damit einhergehend der Verlust einer religiös-sprachlich-ethnischen Bedeutung. Und andererseits die Einschränkung, dass es jetzt nur für Nicht-Juden verwendet wird.

 

Liegt hier ein Widerspruch oder eine Heuchlerei vor?

Man mag sich fragen, was für einen Sinn das Ganze hat. Wenn ich annehme, dass Gott am Schabbat eine gewisse Handlung untersagt hat, warum soll ich dann jemand anderen zu dieser Handlung ermutigen, Gottes Unmut auf ihn umleiten und annehmen, für mich hätte das alles keinerlei Konsequenzen? Die Antwort hierauf liegt in der Tatsache, dass laut jüdischem Glauben die vielen jüdischen Gebote nur für Juden verpflichtend sind und die restliche Menschheit von den meisten Geboten freigestellt ist. Ein und dieselbe Handlung kann somit für den einen erlaubt und für den anderen verboten sein, wobei das Judentum sozusagen gegen sich selbst diskriminiert und den Anderen mehr Freiheiten lässt als sich selbst. Diesbezüglich und darüber „was das Judentum über die Erfordernisse eines moralischen, gottgefälligen Lebens von Nicht-Juden zu sagen hat“ möchte ich auf den Artikel in der April-Ausgabe verweisen.

Abgesehen von dieser Verweisung möchte ich auch auf zwei verschiedene Arten von Gesetzen zu sprechen kommen – „chok“ und „mischpat“. Diese Kollokation erscheint bereits im 5. Buch Moses, Kapitel 4, Verse 5, 8 und 14 und drückt eine Zweiteilung der göttlichen Gebote aus. „Mischpat“ beschreibt ein Gesetz, dessen Sinn dem menschlichen Verstand zugänglich ist, und das es somit in den meisten Gesellschaften auf der Welt gibt. Das Verbot zu Morden ist ein gutes Beispiel dafür. „Chok“ hingegen bezeichnet ein Gesetz, das die Menschheit nicht rational verstehen kann und es sich ohne göttliche Offenbarung auch so nicht entwickelt hätte. Hierunter fallen auch die Gebote des Schabbats. Wenn man auch argumentieren könnte, dass es für einen wöchentlichen Ruhetag eine rationale Erklärung gibt, so entziehen sich die exakten Bestimmungen des Schabbats doch diesem Zugang. Der menschliche Verstand ist hierfür unzureichend. Sie sind uns nur durch göttliche Offenbarung bekannt und diese richtet sich ausschließlich an das jüdische Volk. Und die Handlungen, um die ein Jude einen Nicht-Juden bitten kann, stammen nur aus der Kategorie von „Chok“ und sind übrigens nicht nur auf den Schabbat beschränkt. Wenn ein Jude aus irgendeinem Grund an einem Werktag eine nicht-koschere Mahlzeit für Nicht-Juden kochen muss, dann kann er einen Nicht-Juden darum bitten, probezukosten, ob sie bereits fertig ist. Denn auch die Speisegesetze gehören zur Kategorie von „chok“.

Dass bei dem Konzept eines „Schabbes Goi“ weder Widerspruch noch Heuchlerei vorliegt, können wir anhand der beiden folgenden Situationen eines Kochs veranschaulichen, wobei es egal ist, ob dieser jüdisch ist oder nicht.

Im ersten Fall reden wir von einem überzeugten Vegetarier, der einen Auftrag erhalten hat, der die Bearbeitung von Fleisch beinhaltet. Er könnte nun einen Kollegen bitten, ihm diesen Auftrag abzunehmen. Aber was hätte er damit erreicht? Das Fleisch wird dennoch verzehrt und somit wird die Nachfrage nach weiterem Fleisch bemerkt und weiteres Fleisch produziert werden. Genau das, was ein Vegetarier vermeiden will. Dadurch, dass er den Auftrag einem Kollegen aufdrückt, spart sich unser vegetarischer Koch nur die persönliche Unannehmlichkeit der Fleischbearbeitung, seine ideologische Überzeugung hat er jedoch verraten, dafür hätte er den Auftrag gänzlich boykottieren müssen.

Diese Situation können wir kontrastieren, mit dem Fall eines Kochs der hochgradig (lebensgefährlich) gegen ein gewisses Lebensmittel (z.B. Nüsse) allergisch ist, selbst bei bloßem Hautkontakt. Ein solcher Koch könnte ohne Gewissensbisse und weltanschauliche Widersprüche einen Kollegen um die Übernahme eines Auftrages bitten, der das entsprechende Allergen enthält.

Der Fall eines Juden, der für Nicht-Juden eine nicht-koschere Mahlzeit kochen muss, entspricht dem Fall des allergischen Kochs. Denn am Verzehr von z.B. Schweinefleisch gibt es an sich moralisch nichts auszusetzen. Genau so wenig wie am Anzünden von Feuer am Schabbat, oder Ähnliches. Wobei „an sich“ bedeutet, falls es nicht die göttliche Offenbarung gäbe, die das verbietet. Aber diese Offenbarung verpflichtet wie gesagt nur Juden.

Wenn hingegen ein Jude gezwungen wäre anderen Juden, die sich nicht an das Religionsgesetzt halten, eine nicht-koschere Mahlzeit vorzubereiten, dann würde das dem Fall des vegetarischen Kochs entsprechen, denn hier gibt es einen weltanschaulichen Konflikt.

 

Um was darf man einen Nicht-Juden an Schabbat bitten und worum nicht?

Obwohl Nicht-Juden wie gesagt nicht den Schabbatgesetzen unterliegen, haben unsere Weisen die Möglichkeiten eingeschränkt, sie am Schabbat um die Ausführung von uns verbotenen Handlungen zu bitten. Die Gesetze sind zu umfangreich, als dass man Sie in einem Zeitungsartikel erörtern könnte. Daher sollen hier nur einige Grundlagen erörtert werden.

Der wichtigste Grundsatz ist, dass die Zu-Hilfe-Ziehung eines Schabbes-Gois so weit wie möglich vermieden werden muss. Die absolute Leichtigkeit, mit der Schabbes-Gois in der Praxis eingesetzt werden, widerspricht dem jüdischen Gesetz. Trotzdem muss gesagt werden, dass die Ausführung einer am Schabbat verbotenen Handlung durch einen Nicht-Juden auf Bitten eines Juden hin immer noch besser ist, als wenn der Jude die Handlung selbst ausführen würde.

Für die besagte, weitestgehende Vermeidung ist eine entsprechend vorausschauende Vorbereitung auf Schabbat und jüdische Feiertage erforderlich. Das heißt zum Beispiel, dass man sich im Voraus überlegt, wo Licht brennen soll und wo nicht, dass man die Heizung/Kühlung vorausschauend einstellt, dass man bei alten Kühlschränken die Glühbirne herausdreht und/oder den Sensor abklebt, so dass beim Öffnen der Tür das Licht nicht eingeschaltet wird, etc. Bei modernen, „intelligenten“ Kühlschränken ist es schwieriger. Bei manchen elektronischen Geräten hilft auch die Verwendung von Zeitschaltuhren, die den Strom zu festgelegten Zeiten an- und ausschalten.

Ein weiterer Grundsatz ist, dass man dem Schabbes-Goi nur indirekt zu verstehen geben soll, wobei man seine Hilfe braucht. Wenn z.B. während dem Schabbat-Essen das Licht ausgegangen ist, dann darf man ihm nicht sagen „Mach doch bitte das Licht an“ und auch nicht mit dem Finger oder anderen Körperteilen auf den Lichtschalter, die Glühbirne, den Sicherungskasten – oder wo auch immer das Problem liegen mag – zeigen. Am besten sollte man die Handlung auch gar nicht erwähnen, also nicht sagen: „Mir ist es verboten das Licht anzumachen“. Anstelle dessen kann man z.B. sagen: „Ach wie schade, dass es dunkel ist“ und der Schabbat-Goi versteht dann hoffentlich von allein, wie er behilflich sein kann.

Soweit möglich, ist es gut den Nicht-Juden in die Nutznießung der Handlung miteinzubeziehen. Wenn man ihn z.B. im letztgenannten Fall nicht nur zur Lösung des Problems herbeibittet, sondern ihn zum Essen einlädt, dann würde er das Licht nicht (nur) für Juden anmachen, sondern (auch) für sich selbst. Und das erleichtert den Fall aus einer religionsgesetzlichen Perspektive.

Juden, die ein Geschäft, eine Gesellschaft oder dergleichen besitzen, die am Schabbat und an jüdischen Feiertagen geöffnet sind und durch nicht-jüdische Mitarbeiter betrieben werden, sollten sich an einen jüdischen Gelehrten wenden. Denn es gibt religionsgesetzliche Lösungen dies zu ermöglichen. Aber die Details sind komplex.

Zur weiteren Vertiefung in das Thema empfehle ich das Buch von Rabbi Simcha Bunim Cohen: „The Sanctity of Shabbos: A comprehensive guide to forbidden activities which one may ask a gentile to do on the Sabbath or Yom Tov”, ArtScroll Halachah Series, Mesorah Publications, erstmalig gedruckt 1988, zuletzt 2005. Der Untertitel kann auch erscheinen als: „A comprehensive guide to the laws of Shabbos and Yom Tov as they apply to a non-Jew on behalf of a Jew”. Dort werden unter anderem auch die Gründe dargelegt, die den Einschränkungen der Zu-Hilfe-Ziehung eines Schabbes Gois zu Grunde liegen und für die hier im Artikel kein Platz mehr war.

Auch von Interesse sind zwei Artikel auf (www.chabad.org): „The Myth of the Shabbos Goy“ und „Amirah Lenochri: Asking a Gentile to Do Forbidden Work on Shabbat“

 

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