Was am Pessach-Seder das Wichtigste ist und auf keinen Fall verpasst werden sollte

Beim Backen von Matze (ungesäuertes Brot) in einer Bäckerei in der Stadt Bnei Brak, in der Nähe von Tel Aviv© MENAHEM KAHANA / AFP

Wenn es um das Pessach-Fest geht, kann es ruhig mit dem Wort „groß“ beschrieben werden. Denn alles, was mit Pessach zu tun hat, ist umfangreich und riesig. (JR)

Von Rabbiner Elischa Portnoy

Aufwendige Vorbereitung

Schon die Vorbereitung zum Fest hat es in sich. „Sieben Tage soll Sauerteig nicht gefunden werden in euren Häusern; denn so jemand Säuerndes isst, so soll diese Person ausgerottet werden aus der Gemeinde Jisrael, sei es Fremdling oder Eingeborener des Landes. Nichts Säuerndes dürft ihr essen, in all euren Wohnsitzen sollt ihr ungesäuert Brot essen.“ (2.Buch Moses 12:19-20)

Deshalb ist der Fix-Punkt der Vorbereitung alles, was mit Gesäuerten zu tun hat, wegzuschaffen. In vielen orthodoxen Familien beginnt diese Vorbereitung gleich nach Purim, ein Monat vor Beginn des Pessachs. Auch wenn die Verhältnisse der jüdischen Haushalte von heute nicht vergleichbar mit den Verhältnissen vor 200 Jahren sind, ist es trotzdem eine große Herausforderung, vielleicht sogar eine noch größere, als sie es je war. Vor vielen Jahren lebten die meisten Familien in 1-Zimmer Wohnungen mit Boden aus Erde, der Essenreste absorbierte. Es gab ganz wenig Geschirr und eine sehr kleine Auswahl an Lebensmittel, die für Pessach geeignet waren. Und sogar Matza  – das „Pessach-Brot“, das Hauptessen während des Festes, musste man selbst backen. Heutzutage ist es ja komplett anderes: nach ordentlicher Reinigung findet man auf dem Parkett-Boden kaum noch einen Krümel, viele, nach jüdischer Tradition lebende Familien, haben nicht nur mehrere Geschirr-Sets, sondern sogar separates Geschirr nur für Pessach und online kann man heutzutage in koscheren Versand-Shops alle möglichen „koscher lePessach“ Lebensmittel kaufen von „Pessach“-Coca Cola bis „Pessach“ Cornflakes und Kuchen. Und Matza wird natürlich auch gekauft, und nicht mehr selbst gebacken. Doch gerade heutzutage den ganzen Haushalt auf Pessach-Betrieb umzustellen und dabei für die Familie normale Ernährung bis zum Fest-Anfang zu gewährleisten, ist eine riesige Herausforderung. Und wenn man noch viele kleine Kinder und eine große Wohnung hat, könnte es sogar mit einmonatiger Vorbereitung knapp werden.

 

„Großer“ Schabbat

Interessanteweise haben unsere Weisen verordnet, dass man die Gesetze von Pessach bereits am Purim zu lernen beginnt. Und viele große Rabbiner halten das so. Denn gerade vor Pessach muss viel beachtet werden: Weizen für Matza sollte nicht zufällig nass (und damit unbrauchbar) werden, Matza sollte schnell, innerhalb kürzer Zeit gebacken werden, Geschirr sollte richtig gekaschert werden, alles Gesäuerte (Chametz) sollte rechtzeitig und vollständig entfernt werden. Und wie es Rabbi Israel Meir Kagan, der berühmte Verfasser von „Chafetz Chaim“ auf den Punkt bringt: „es ist deshalb so wichtig und so aufwendig, weil sollte es alles nicht vor Pessach gemacht werden, kann man am Pessach selbst nicht mehr reparieren“.

Doch nicht nur die Vorbereitung zum Pessach ist groß. Sogar der Schabbat vor Pessach heißt „haGadol“ (Großer Schabbat).

Laut der Überlieferung, als die Juden noch in Ägypten waren und die Befreiung aus der Sklaverei nah war, hat G’tt ihnen befohlen ein Lamm zu nehmen, nach Hause zu bringen und es in vier Tagen als Pessach-Opfer zu opfern. Und das Nehmen vom Lamm sollte ausgerechnet am Schabbat sein, was eine große Herausforderung für damalige Sklaven bedeutete. Lamm war von Ägyptern als Götze verehrt und die Nachricht, dass ihre Götzen bald geschlachtet werden sollten, sollte ziemlich schlecht ankommen. Die Hauptherausforderung bestand darin, dass die Beschaffung von Lämmern vor Ägyptern nicht verheimlicht werden konnte: alle wussten, dass Juden Schabbat ausruhen und ihre Tiere an diesem Tag nicht berühren. Deshalb fiel die Tatsache, dass viele Juden an einem Schabbat plötzlich Lämmer zu sich nach Hause brachten, sehr wohl auf. Und es konnte für Juden richtig gefährlich werden, denn die Ägypter hatten nach neun vernichtenden Plagen sehr schlechte Laune und es konnte zu Pogromen kommen. Doch die Juden atmeten tief durch und brachten Lämmer an jenem Schabbat zu sich. Für diesen Mut wurden sie von G’tt mit einem Wunder belohnt: Ägypter sahen zähneknirschend zu, es wurde jedoch kein Jude angegriffen. Und auch wenn diese Ereignisse am 10.Nissan (nach jüdischem Kalender) stattfanden, wird diesem Wunder jedes Jahr nicht am 10.Nissan gedenkt, sondern am Schabbat vor Pessach (auch wenn er nicht auf 10.Nissan fällt). Und deshalb heißt dieser Schabbat auch Großer Schabbat (haGadol). Unsere Weisen bemerken, dass dieser Schabbat direkt vor Pessach seinem Namen auch in unseren Generationen gerecht ist: an diesem Schabbat soll der Gemeinderabbiner während des Morgengebets oder vor dem Nachmittagsgebet in der Synagoge einen Vortrag (Drascha) halten, wo die Gesetze von Pessach erklärt werden und die Gemeindemitglieder für den kommenden Feiertag inspiriert werden. Und weil man an diesem Schabbat viel mehr Zeit in der Synagoge verbringt als sonst, fühlt sich dieser Schabbat auch auf diese Weise groß an.

Ereignisvoller Vortag von Pessach

Deshalb passt die „Größe“ dieses Schabbats sehr gut in das Gesamtkonzept von Pessach rein. Denn wenn es zum Fest selbst kommt, wird es auch nicht kleiner. Schon der Vortag des Festes ist sehr ereignisvoll. Am Vorabend des Festes soll nach den Resten von Gesäuertem (Chametz) gesucht wird. Und diese Suche ist vor allem für die Kinder eine große Attraktion. Der Brauch ist, dass die Eltern zehn kleine Stückchen Brot (in Alufolie gewickelt) zu Hause in verschieden Räumen verteilen. Kinder sollen in Dunkelheit mit einer Lichtquelle (Kerze oder elektrischer Taschenlampe) nach diesen Stückchen suchen. Und auch wenn diese Suche normalerweise nicht sehr lange dauern soll, darf man nicht vergessen, dass Chametz auch im Auto, Büro, Keller und anderen Orten, die man besitzt, auch gesucht werden muss. Und dann, wenn man mehrere solche Orte hat, kann auch schon die Suche nach Chametz groß werden.

Am Morgen danach, weniger Stunden vor dem Pessach-Anfang geht es mit dem ereignisvollen Programm weiter. Eigentlich müssen die erstgeborenen Männer an diesem Tag fasten („das Fasten der Erstgeborenen“). Doch schon vor vielen Jahren entstand der Brauch, dass in den Synagogen nach dem Morgengebet ein Traktat aus dem Talmud zu Ende gelernt wird und dann sollen alle Anwesenden an einer festlichen Mahlzeit teilnehmen. Auf diese Weise entfällt die Pflicht an diesem Tag zu fasten. Danach werden die letzten Stückchen von Chametz (normalerweise im Hof der Synagoge oder Gemeinde) verbrannt. Auch das ist einer der Höhepunkte der Pessach-Vorbereitung für die Kinder.

Noch vor dem Pessach-Abend soll der Tisch gedeckt werden, wo der Pessach-Seder abgehalten wird. Auch hier soll alles „groß“ sein: am Pessach sollen wir die Befreiung der Juden aus ägyptischer Sklaverei selbst nacherleben und uns als freie Menschen fühlen. Deshalb haben unsere Weisen verfügt, dass man den Tisch für den Seder-Abend schön und reichaussehend macht. Es sollen die besten und teuersten Teller, Gläser, Besteck, Stühle, Decken verwendet werden, die man zu Hause hat. Und natürlich, die Gerichte, die man am Ende des Seders genießen wird, müssen auch festlich und besonders schmackhaft sein. Als Letztes werden an diesem großen und langen Tag Matzot vorbereitet und Weinflaschen geöffnet, damit der Seder so früh wie möglich beginnen kann.

 

Die große Pesssach-Nacht

Und dann kommt (nach dem Abendgebet in der Synagoge) der langerwartete Pessach-Seder. Den Pessach-Abend kann man ruhig als „groß“ bezeichnen, denn er dauert bis spät in die Nacht. Vor allem Haggada, die Erzählung über den Auszug aus Ägypten sollte viel Zeit in Anspruch nehmen. In der ersten Pessach-Nacht gibt es eine Deadline: die Matza soll bis zur halachischen Mitternacht gegessen werden, was in Europa wegen der Sommerzeit kurz nach ein Uhr nachts ist. In der Diaspora feiern wir alle jüdischen Feiertage doppelt, deshalb gibt es auch in der zweiten Nacht von Pessach einen Seder. Da gibt’s es nach vielen Meinungen keine Deadline für Matza-Essen, deshalb dauert der 2.Seder in vielen orthodoxen Familien bis zwei oder sogar drei Uhr nachts. Doch woran liegt das? Die Haggada bleibt die Gleiche und wird nicht länger. Worum dauert dann der Seder bei manchen kurz und bei manchen sehr lang?

 

Vier Fragen und vier Söhne

Nachdem, wie am Anfang jedes Festes, Kiddusch am Anfang von Pessach Seder gemacht wurde, gibt es noch ein paar kleine Zwischenschritte, um die Aufmerksamt der Kinder zu wecken. Und dann kommt man zu Hagadda, die mit dem berühmten „Ma Nischtana“-Lied („Was ist Unterschied…?“) beginnt. Es werden vier Fragen gestellt, die dann während des Seders beantwortet werden müssen. Doch warum sind es genau vier Fragen, nicht mehr und nicht weniger? Die einfachste Erklärung ist, dass es ein Hinweis auf die berühmten „vier Söhne“ ist, die dann in Haggada gleich auch erscheinen.

„Keneged arbaa Banim dibra Tora“  – „Die Tora spricht von vier Kindern: Einer ist weise, einer ist böse, einer ist einfältig, und einer weiß nicht, wie er fragen soll“, so steht es in Haggada. Also, über diese vier verschiedenen Charaktere wissen wir aus der Tora, denn es gibt vier Verse, die auf diese „Söhne“ hinweisen. Interessant ist, auf welcher Weise diese Söhne in Haggada definiert sind, und zwar durch ihre Fragen. Der weise Sohn fragt nach den Gesetzen von Pessach, möchte wissen, wie man alles richtig macht. Die Frage des bösen Sohnes ist eher provokativ, rhetorisch, er möchte nicht etwas erfahren, sondern offenbart sein Zweifel, ob das Ganze überhaupt Sinn macht. Der einfältige Sohn hat keine Meinung und interessiert sich auch nicht für Details. Er staunt über den ungewöhnlichen Abend und möchte einfach nur wissen, was hier vor sich geht. Der vierte Sohn kommt nicht mal darauf, etwas zu fragen. Auch wenn er komische Dinge, wie Matza, Maror (bittere Kräuter) und anderen Gegenstände des Seders sieht, auch wenn er spannende Erzählungen über den Auszug aus Ägypten hört, berührt ihn alles nicht. Dieser vierte Sohn kann den Seder sogar interessant und schön finden, spürt aber kein Bedürfnis sich daran zu beteiligen.

Es ist auffällig, dass diese „Söhne“ in der Haggada in bestimmter Reihenfolge platziert sind. Und die Platzierung des „bösen Sohnes“ ist ein wenig unpassend. Eigentlich sollte er ganz am Ende der Liste stehen, schließlich ist er der absolute Gegensatz zum „weisen Sohn“. Doch seine Platzierung gleich nach dem weisen Sohn ist sehr richtig. Auch wenn die Frage des „bösen Sohnes“ provokativ ist, die Hauptsache ist, dass er fragt. Ja, er lehnt die jüdische Tradition ab, aber sie bewegt ihn, sie ist für ihn nicht egal! Und deshalb besteht die Hoffnung, dass dieser „rebellierende Sohn“ doch noch zu seinen Wurzeln zurückkehrt. Unser größtes Problem ist nicht der „böser Sohn“, sondern der vierte Sohn, der „nicht weiß, wie er fragen soll“. Wie begeistert man einen Menschen, der kein Interesse hat?!

 

Das Größte ist das Fragen

Das zeigt, wie wichtig das Fragen ist! Nur wenn man fragt, hat man Interesse und kann „erreicht“ werden, egal wie viel er von der Tradition kennt. Auch deshalb haben unsere Weisen verfügt, dass am Seder-Tisch nur Ehemann und Ehefrau (ohne Kinder) sitzen, sie sollen sich gegenseitig „Ma Nischtana“-Fragen stellen. Und sogar wenn der Mensch den Pessach alleine feiert, soll er diese Fragen sich selbst stellen. Denn ohne Fragen wird der Seder sinnlos sein, denn ohne Interesse an der Geschichte der Haggada, kann man stattdessen eine Zeitung oder ein Fachbuch lesen mit gleichem Effekt.

Und deshalb dauern die Pessach-Sedorim bei religiösen Juden so lange. Dort wird die Haggada nicht einfach durchgelesen, um schneller an Matza und leckere Mahlzeit zu kommen. Die Haggada wird hinterfragt, diskutiert und ausführlich besprochen. „Warum ist der erste Absatz in der Haggada auf Aramäisch verfasst und nicht auf Hebräisch, wie der Rest“? „Warum wird im ganzen Haggada kein einziges Mal der Name von Mosche Rabejnu erwähnt“? „Warum hätte es gereicht (dajenu), wenn unsere Vorfahren zum Berg Sinai gekommen wären, aber die Tora nicht bekommen hätten“? Das sind nur ein paar Fragen, die man zu Haggada stellen könnte. Kinder in religiösen Familien beginnen schon Wochen vor Pessach interessante Frage zur Geschichte des Auszuges aus Ägypten zu sammeln, um dann beim Seder diese Fragen zu stellen. Und wenn man daran denkt, dass in solchen Familien nicht weniger als 4-6 Kinder sind, braucht der Familienvater ein gutes Zeitgefühl, um das Fragen rechtzeitig zu stoppen, damit man doch noch rechtzeitig zum Matza-Essen und zur Mahlzeit kommt.

Der 7.Ljubawitscher Rebbe, Rabbi Menachem Mendel Schneersohn (1902-1994) hat immer betont, dass wir verpflichtet sind zum Seder auch den „fünften Sohn“ zu bringen. Der „fünfter Sohn“ ist ein Jude oder eine Jüdin, die weit von jüdischer Tradition entfernt sind, dass sie nicht mal wissen, dass gerade Pessach gefeiert wird, dass man Seder durchführen soll und Matza essen muss. Wir müssen, laut dem Rebbe, solche Juden finden und sie zum Seder einladen. Doch womit wollen wir diese „fünften Söhne und Töchter“ beeindrucken? Mit einem schön gedeckten Tisch? Mit Matza und köstlichen jüdischen Gerichten? Werden diese sehr säkularen Menschen dann plötzlich religiös?! Natürlich nicht. Schöne Tische und köstliche Gerichte werden für sie nur amüsant und exotisch erscheinen. Unsere Hoffnung ist, dass diese Menschen beginnen Fragen zu stellen! Nur dann können sie ihre Tradition kennenlernen und die Schönheit und das Reichtum des Judentums entdecken. Nur wenn das Interesse in ihr geweckt wird und sie beginnen zu fragen, werden sie auch Antworten bekommen.

Das gilt aber nicht nur für den „fünften Sohn“, das gilt für uns alle. Der Pessach-Seder wird für uns alle nur dann zum Erlebnis, wenn wir ihn richtig verbringen. Und auch wenn ein chametz-freies Haus, schöne Teller und handgebackene Matza wichtig sind, ist es auch wichtig die Haggada nicht wie eine alte Geschichte aus Geschichtsbüchern zu lesen, sondern sie zu erleben. Wenn man sich ein wenig Zeit vor Pessach nimmt, um die Haggada aufmerksam zu lesen, sicherlich findet man etwas Interessantes, wo man nachhaken kann. Und dann wird das Haggada-Lesen beim Seder ganz anders sein.

Ein berühmter jüdischer Wissenschaftler wurde mal vom Interviewer gefragt, wie er es geschafft hat, so viele erstaunliche Entdeckungen zu machen? Der Wissenschaftler antwortete, dass es seine Mutter war, die ihn inspiriert hat. Als er noch ein Schuljunge war und von der Schule nach Hause kam, fragte ihn seine Mutter nie was er gelernt hat. Sie wollte von ihm nur wissen, was er im Unterricht gefragt hatte…

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