Daf Yomi – Stellen aus dem Talmud

© BEHROUZ MEHRI / AFP

1923 hat Rabbi Meir Shapira aus Lublin die Initiative „Daf Yomi“ angeregt. Heute befinden wir uns im 14. Zyklus. Als Teil davon können Juden überall auf der Welt dasselbe Blatt aus dem Talmud lernen. Der Beitrag stellt eine Fortsetzung der in der Jüdischen Rundschau im Januar 2022 begonnenen jüdischen Lern-Initiative dar. (JR)

Von Patrick Casiano

Eines der aktuellen Blätter – Der Übertritt zum Judentum

23. April 2022 (Yevamot 47): Die besagte Stelle und die Blätter zuvor und danach handeln vom Übertritt zum Judentum. Jedoch nicht allumfassend. Wie im Talmud üblich, ist ein Thema auf verschiedene Stellen verteilt. In Yevamot 47 heißt es unter anderem:

„Wenn jemand zu dieser Zeit kommt, um zum Judentum zu konvertieren, dann sagen wir ihm: ‚was hast du gesehen, das dich veranlasst hat, zum Judentum zu konvertieren? Weißt du denn nicht, dass das jüdische Volk zu dieser Zeit elendig, verstoßen und verfolgt ist und dass Leiden über es kommen?‘ Wenn er erwidert: ‚Ich weiß es und bin es nicht würdig [aufgenommen zu werden]‘ dann soll man ihn sofort [als Kandidaten] akzeptieren. Man unterweist ihn in einigen leichter wiegenden und einigen schwerer wiegenden Geboten. […] Und man unterweist ihn in den Strafen der Gebote. Man sagt ihm: ‚Wisse, dass du bisher […] wenn du den Sabbat-Ruhetag übertreten hast nicht straffällig warst, aber jetzt […] wirst du straffällig sein. Und so wie man ihm die Strafen der Gebote mitteilt, so sagt man ihm auch den Lohn […] die kommende Welt […].“

Dieses Zitat klingt einladend, aber generell hat das Judentum eine ambivalente Haltung zu Personen, die konvertieren möchten.

Einerseits haben wir biblische Gestalten wie Ruth die Moabiterin, welche ihr Volk verlassen und sich dem jüdischen Volk angeschlossen hat (vgl. das erste Kapitel des biblischen Buches Ruth). Ruth ist eine Vorfahrin von König David, und damit vom zukünftigen Messias, der ein Nachfahre König Davids sein wird. Sie ist die bekannteste Person, die zum Judentum konvertiert ist, aber nicht die erste. Bereits die Stelle im 1. Buch Moses Kapitel 12 Vers 5, verschiedentlich übersetzt als „die Seelen/Leute, die sie in Haran erworben/gemacht haben“, wird in der jüdischen Tradition dahingehend ausgelegt, dass Abraham und Sarah weitere Personen in den Glauben aufgenommen haben. Gemäß jüdischer Tradition sind auch Jitro (Moses‘ Schwiegervater, vgl. 2. Buch Moses) und Rachav (vgl. Josua/Jehoschua Kapitel 2 und 6) zum Judentum konvertiert. Auch unter den Nachfahren besonders böser Gestalten in der Bibel macht die jüdische Tradition Konvertiten aus. Die Liste der bekannten Konvertiten setzt sich auch in der nachbiblischen Zeit fort. Shemaya und Avtalyon, die beiden größten rabbinischen Gelehrten ihrer Zeit, waren Konvertiten oder die Kinder (1. Generation) von Konvertiten. Auch der bekannte Rabbi Akiva hat Konvertiten in seinem Stammbaum. Im dreimal täglich gesprochenen Hauptgebet wird Gott auch um das Wohlergehen der Konvertiten ersucht.

Trotz dieser Erfolgsgeschichten hat das Judentum jedoch auch negative Erfahrungen mit Konvertiten gemacht. Sei es, dass man sich durch die Aufnahme von Konvertiten in gefährliche Konflikte mit den jeweiligen Herrschern brachte, oder dass sich die Konvertiten später wieder vom Judentum abwandten und ihre erworbenen Kenntnisse dafür nutzten, um den Juden zu schaden (z.B. durch Missionierung). Die zögerliche Haltung Nicht-Juden zu konvertieren, ergibt sich u.a. hieraus.

 

Legitime Motive und der Übertritt zum Zweck der Heirat

Und die negativen Erfahrungen haben keineswegs in der Vergangenheit geendet. Bekanntlich lässt das Judentum nur Ehen unter Juden zu. Das wird zwar häufig kritisiert, hat sich aber als Erfolgsmodell für das Überleben des Volkes in der geographischen Zerstreuung über einen Zeitraum von 2.600 Jahren hinweg unter den schwersten Umständen herausgestellt. Diese Praxis hat also zusätzlich zu einer religiösen Legitimation also auch eine historische.

Die Motivation, die heute die meisten Interessenten dazu treibt, konvertieren zu wollen, ist eine negative, da sie auf einem Hintergedanken beruht, nämlich einen jüdischen Partner zu heiraten. Es ist somit kein Selbstzweck, anders als Rachav’s Einsicht darin, wer der wahre Gott ist – das ideale Motiv eines Übertritts.

Da auch bei nicht-religiösen Juden das kulturelle Bewusstsein meistens stärker ausgeprägt ist als bei den Christen der Mehrheitsgesellschaft, ist es häufig die nicht-jüdische Seite, die sich bereit erklärt sich der Religionsgemeinschaft des jüdischen Partners anzuschließen. Dies führt jedoch zu einem Teufelskreis des Widerspruchs.

(1) Wenn ein jüdischer Partner sich überhaupt auf eine Beziehung mit einem nicht-jüdischen Partner einlässt, dann zeugt das davon, dass er seine Religion nicht besonders ernst nimmt, denn ansonsten sollte er nur unter anderen Juden nach einem Partner suchen. (2) Und wenn dann der nicht-jüdische Partner konvertiert, um mit eben jenem jüdischen, aber nicht religiösen Partner zusammenzuleben, dann zeugt das davon, dass er die Konversion nicht besonders ernst nimmt, denn ansonsten würde er sich einen religiösen Partner suchen. Wie soll die konvertierte Person die Gebote einhalten, wenn der Partner dabei nicht mitmacht?

Und wozu das alles? Man möge sich ansehen, wie viele Ehen in Deutschland geschieden werden. Und nicht-eheliche Beziehungen miteinbeschlossen ist die Trennungsrate nochmals höher. Die allermeisten Beziehungen halten nicht. Mir ist in Deutschland persönlich ein Fall bekannt, in dem eine nicht-jüdische Frau für ihren jüdischen Partner konvertiert ist. Und wie statistisch zu erwarten, hat die Ehe nicht gehalten. Sie trennten sich und die Frau lernte einen neuen Mann kennen, der nicht jüdisch ist und bekam mit ihm Kinder. Ihre Jüdischkeit hat sie natürlich schnell wieder vergessen. Aber diese Kinder sind nun natürlich jüdisch, da Jüdischkeit durch mütterliche Abstammung bestimmt wird (oder durch orthodoxe Konversion). Die Tatsache, dass diese Kinder jüdisch sind, ist negativ anzusehen! Denn wenn sie keine Gebote einhalten (aufgrund der fehlenden Erziehung oder im vorliegenden Fall evtl. sogar aufgrund des fehlenden Wissens, dass sie jüdisch sind und was das bedeutet) schadet das dem Kollektiv, auch wenn man den Kindern keinen Vorwurf machen kann. Der viel zitierte Satz „Alle Juden sind füreinander verantwortlich“ (kol israel aravim ze le-ze) wird heutzutage häufig dahingehend interpretiert, dass ein Jude für das Wohlergehen eines anderen Juden Sorge zu tragen hat. Aber das ist eine Entstellung. Die ursprüngliche Verwendung dieses Satzes betrifft nicht das Wohlergehen, sondern die Befolgung des Religionsgesetzes. Wenn also ein Jude dem Religionsgesetz zuwiderhandelt, dann beeinflusst dies das ganze Volk negativ, so auch im obigen Beispiel mit den Kindern.

Was ist also die richtige Herangehensweise. Am besten verhindert man solche Situationen von Anfang an, in dem man romantische Fantasien à la Hollywood zumindest auf den zweiten Platz verschiebt und bei der Partnerwahl auch mit Verstand handelt. Man stelle sich vor, man lernt jemanden kennen, den man ganz toll findet. Aber dieser will wieder zurück in seine japanische Heimat, während man selbst zu einem solchen Umzug nicht bereit ist. Welche Optionen bleiben dann? Entweder die nächsten fünfzig Jahre lang eine Fernbeziehung führen oder die rationale Konsequenz ziehen, dass diese Beziehung keine Zukunft hat. Eine ebenso rationale Entscheidung ist es, innerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft zu heiraten.

Ein Übertritt zum Ziel einer Beziehung ist ein unlauteres Motiv. Dennoch will ich nicht ganz dagegenreden. Einige Contra-Argumente habe ich bereits dargelegt. Wenn sich nun jemand bereits in einer gemischten Beziehung befindet und diese aus seiner Sicht nicht auflösbar ist, dann kann es trotz der oben beschriebenen langfristigen Probleme, dennoch einen legitimen Grund geben, eine Konversion anzustreben. Und zwar geht es darum, für das Hier und Jetzt dem Verbot einer gemischten Beziehung zu entgehen. Im 5. Buch Moses Kapitel 18 Vers 13 steht, dass man in religiösen Fragen „tamim“ sein soll, ein Wort, das man vielleicht am besten als positive Naivität übersetzt.

Zur Erklärung können wir uns ansehen, welche weiteren Informationen zu der Krankheits- und Heilungsgeschichte des Königs Chiskijahu aus dem 2. Buch der Könige Kapitel 20 im Talmud in Brachot 10 berichtet werden. Der König hat das Gebot „seid fruchtbar und mehrt euch“ nicht befolgt und der Prophet Jeschajahu erklärt ihm nun, dass seine Krankheit eine Strafe für dieses Vergehen ist. Chiskijahu rechtfertigt sich damit, dass er in Prophetie vorausgesehen hat, dass seine Kinder böse sein werden und dass er daher ihre Zeugung unterlassen hat. Aber Jeschajahu erklärt ihm, dass solche Sorgen nicht ihm obliegen, sondern alleinig die Angelegenheit Gottes sind, und das Chiskijahu ohne solche Kalkulationen anzustellen einfach das Gebot „seid fruchtbar und mehrt euch“ erfüllen muss.

Welches Bedenken soll also in unserem Fall den Vorrang genießen? Jetzt und mit Sicherheit dem Verbot der Mischehe durch die Konversion des Partners zu entgehen? Oder später und nur eventuell zu den beschriebenen Problemen zu führen? Diese Entscheidung sollte man nicht alleine treffen, sondern den jeweiligen Fall einem jüdischen Gelehrten schildern und sich beraten lassen.

 

Die Sieben Gebote von Noah

Aber auch wenn jemand ein aufrichtiges Motiv ohne Hintergedanken hat, um zum Judentum zu konvertieren, sollte er kurz innehalten und sich folgendes bewusst machen:

Wenn jemand von der Wahrheit des Christentums (in welcher Version auch immer) überzeugt ist, dann ist ein Übertritt zum Christentum eine logische Konsequenz. Denn gemäß der christlichen Selbstauffassung richtet sich das Christentum an die gesamte Menschheit! Es geht bei dem Gesagten nicht um moderne Gedanken der Toleranz für Andersgläubige, sondern darum, was sich aus der klassischen Lehre ergibt. Die Gebote des Christentums sind im Vergleich zum Judentum zwar weniger der praktischen Art und in der Lebensführung weniger einschneidend; und bestehen vor allem in der reinen Akzeptanz der christlichen Lehre und im Glauben an die theologischen Grundsätze, aber dazu ist ausnahmslos jeder Mensch verpflichtet. Somit ist ein Übertritt nur eine Anerkennung einer bereits zuvor bestandenen Verpflichtung! Und daher gibt es keinen Grund, warum man nicht zum Christentum übertreten sollte, wenn man denn daran glaubt.

Im Gegensatz dazu ist das Judentum gemäß jüdischer Sichtweise ausschließlich für das jüdische Volk verpflichtend. Nur jemand der von einer jüdischen Mutter geboren wurde, oder orthodox konvertiert ist, unterliegt dem jüdischen Gesetz, das für seine vielen Beschränkungen bekannt ist. Im Judentum wird durch den Übertritt somit eine Verpflichtung erst erzeugt!

Dies kann zu einer Situation führen, die man vielleicht als paradox bezeichnen kann und in der jemand von der Wahrheit des Judentums überzeugt sein mag, aber dennoch nicht übertreten möchte.

Für solche Leute ist es interessant, sich anzusehen, was das Judentum über die Erfordernisse eines moralischen, gottgefälligen Lebens von Nicht-Juden zu sagen hat, welches zum Leben in der kommenden Welt führt. Die Antwort darauf findet sich in den sieben Geboten von Noah. Diese Gesetze richten sich an die gesamte Menschheit. Sie umfassen das Verbot von (1.) Götzendienst und Polytheismus, (2.) Blasphemie, (3.) Mord, (4.) Ehebruch und anderen sexuellen Verbrechen, (5.) Diebstahl, (6.) keine Fleischstücke von noch lebenden Tieren zu essen (und generell Mitleid mit allen Geschöpfen zu haben). Das siebte Gebot stellt kein Verbot dar, sondern umgekehrt eine Verpflichtung dazu etwas zu tun, und zwar (7.) die Errichtung eines Gerichtssystems, welches die Einhaltung der Gesetze überwacht.

Diese Gesetze mögen sehr minimalistisch klingen, aber natürlich gibt es Verästelungen und verschiedene Themen und Fälle subsumieren sich unter diese Überkategorien. Gemäß Punkt eins sind z.B. Esoterik und andere „Spiritualitäten“ verboten, und auch der Glaube an das Horoskop. Unter Punkt drei fallen zum Beispiel die Abtreibung (es sei denn es besteht durch die Schwangerschaft eine Lebensgefahr für die Mutter), Sterbehilfe, Selbstmord und die sinnlose Selbstgefährdung (man könnte hier zum Beispiel an einige Extremsportarten mit hohen Todesraten denken). Was in unserer internationalen Wirtschaftswelt, deren Produktions-, Handels- und Finanzabläufe nicht mehr zu überblicken ist, als Diebstahl gilt, erfordert auch eine Erörterung.

Einige dieser sieben Gebote erfordern eigentlich keine religiöse Legitimierung und auch eine säkulare Gesellschaft könnte sich auf diese Gesetze verständigen. Aber man soll sich in seinem Handeln dennoch auf die religiöse Grundlage stützen, auch wenn es praktisch gesehen keinen Unterschied macht. In der Februarausgabe haben wir

„… den Grundsatz erklärt, dass eine Person, die eine gute Tat ausführt, die ihm durch das göttliche Gesetz geboten ist, mehr vollbringt als eine Person, welche die gleiche Tat ausführt, ohne dass sie ihm gesetzlich obliegt. Also sagen wir, jemand hilft einer alten Frau die schwere Einkaufstasche zu tragen, einmal in einer Situation, in der er dazu gesetzlich verpflichtet ist und einmal in einer Situation ohne eine solche Verpflichtung. Welche Situation ist moralisch hochwertiger? Intuitiv würden sich die meisten wohl für die zweite Situation aussprechen. Der als „gadol ha-metzuwe we-ose…“ bekannte Grundsatz geht jedoch vom Gegenteil aus. Und der Grund dafür ist, dass ein Mensch [oder eine Gesellschaft] in der zweiten Situation nur seinen eigenen Willen erfüllt. Auch wenn dieser im genannten Fall zufällig ein guter Wille ist, könnte er in einer anderen Situation ein schlechter Wille sein und somit ist es ein Problem, dass der eigene Wille handlungsanweisend ist. Im ersten Fall hingegen spielt der eigene Wille keine oder eine nur untergeordnete Rolle und man unterstellt sich dem Willen Gottes.“

Die deutschsprachigen Quellen zu den sieben Geboten Noahs sind in Quantität, Zugänglichkeit und manchmal auch in Qualität beschränkt. Zur Vertiefung muss ich den Leser daher auf englischsprachige Materialien verweisen. Der eine liest lieber online, der andere ein gedrucktes Buch und noch einer sieht sich lieber ein Video an. Für jeden ist etwas dabei. Unter den Internetseiten ist vor allem (www.asknoah.org) hervorzuheben. Unter den gedruckten Büchern rate ich zu: Ginsburgh: „Kabbalah and Meditation for the Nations”, auch wenn die Beschäftigung mit diesem Thema nicht aus dem Titel ersichtlich ist. Als Videos empfehle ich „What does Noahide mean? Rabbi Chaim Richman“ und „7 Commandments, Rabbi Chaim Richman“, beide im Youtube-Kanal „NoahideWorldCenter“.

 

www.intellectual-services.com

Sehr geehrte Leser!

Die alte Website unserer Zeitung mit allen alten Abos finden Sie hier:

alte Website der Zeitung.


Und hier können Sie:

unsere Zeitung abonnieren,
die aktuelle oder alte Ausgaben bestellen
sowie eine Probeausgabe bekommen

in der Druck- oder Onlineform

Unterstützen Sie die einzige unabhängige jüdische Zeitung in Deutschland mit Ihrer Spende!

Werbung


Alle Artikel
Diese Webseite verwendet Cookies, um bestimmte Funktionen zu ermöglichen und das Angebot zu verbessern. Indem Sie hier fortfahren, stimmen Sie der Nutzung von Cookies zu. Mehr dazu..
Verstanden