Warum die Freude am Purim so besonders ist

Am jüdischen Freudenfest Purim feiern die Juden die Errettung durch Gott und die mutige jüdische Königin Esther in der babylonischen Gefangenschaft. Das Fest steht ganz im Zeichen der Lebensfreud. Deshalb wird Purim auch das „jüdische Fasching“ genannt.

Nur wenn alle Gemeindemitglieder fröhlich sind, kann man auch selbst echte Freude erleben© AFP

Von Rabbiner Elischa Portnoy

Kann eine Religion lustig sein? Kann ein tiefgläubiger Mensch fröhlich sein? Diese Fragen scheinen ein wenig komisch. Normalerweise, wenn wir an eine Religion oder einen religiösen Menschen denken, haben wir etwas Ernstes vor Augen, und nicht etwas Freudiges.

Doch gerade im Judentum hat die Freude einen wichtigen Platz. Interessant, aber im Hebräischen gibt es sogar mehrere Ausdrücke dafür: „Sason“ (Freude), „Simcha“ (Glück), „Gila“ (Fröhlichkeit), „Rina“ (Jubel), „Ditza“ (Heiterkeit), „Hedwa“ (Entzücken). Das sind natürlich nicht nur Synonyme, jeder Ausdruck hat eine eigene Bedeutung und ihr Vorkommen im Tanach beeinflusst die Bedeutung des ganzen Verses.

Jedoch kann man natürlich nicht immer fröhlich sein. Es gibt Momente im Leben, wenn sogar Optimisten Sorgen, Trauer oder Wut erleben. Und es ist auch durchaus legitim, wenn es eben nur Momente sind, und nicht die größte Zeit des Lebens. Und, für viele wird es sicherlich sehr überraschend sein, sollte gerade das religiöse Leben eines Juden mit Freude gefüllt werden. „Jiwdu et Haschem beSimcha“ (Dient G’tt mit Freude) fordert König David in seinen Psalmen. Das bedeutet, dass sowohl das Tora-Lernen als auch das Erfüllen von Geboten soll mit Freunde gemacht werden. Und nicht nur solche seltenen und besonderen Gebote, wie Beschneidung, Bar/Bat Mitzwa, Hochzeit, sondern auch die Gebote, die man tagtäglich zu verrichten hat, wie Gebete in der Synagoge, Tfillin-Legen, Segensprüche usw.

Doch wenn man denkt, dass die Freude nur eine schöne Idee, ein passender Zusatz im Judentum ist, liegt falsch. Die Freude ist ein essentielles Element, ohne sie kann es manchmal sogar tragisch sein. Im Buch Dwarim im Wochenabschnitt „Ki Tawo“ verspricht Mosche, dass die Juden fürchterliche Schicksalsschläge erleben werden, wenn sie sich von G’tt abwenden. Und dann (Vers 28:47) steht eine sehr merkwürdige Begründung, warum diese alle Tragödien kommen werden: „Dafür, dass du für HaSchem, deinem G‘tt, mit Freude und Herzenslust bei Überfluss an allem nicht gedient hast“. Das bedeutet, sogar, wenn man G’tt ja dient, aber ohne Freude, kann es schlecht enden. Zuerst scheint das zu viel Gutes zu sein. Man lernt die Tora, hält zahlreiche Gebote, wird aber dafür auch noch bestraft, weil man es ohne Freude machte?! Doch unsere Weisen geben darauf eine sehr gute Antwort: wenn man G’tt ohne Freude dient, dann wird dieser Dienst zuerst zur Routine, dann zur Last und schlussendlich hört man damit irgendwann gänzlich auf. Deshalb bringt die Freude ins religiöse Leben die Lebendigkeit und den Enthusiasmus.

Doch nicht nur beim G’ttesdienst ist Freude, Humor und Lachen wichtig. Ein Holocaust-Überlender hat mal erzählt, dass er nur dank der Freude das KZ überlebt hat. Als er nach Auschwitz geraten war, hat er schnell verstanden, dass er bald vom Leid und Grauen des Lebens dort bald verrückt werden würde. Deshalb hat er mit einem anderen Häftling abgemacht, dass sie während des Tages etwas Komisches bemerken sollen und am Abend haben sie es einander erzählt und oft darüber gelacht. Und nur Dank dieser kleinen Unterhaltungen sind sie beide am Leben geblieben.

 

Die Freude an den Festen

Alle jüdischen Feiertage sind einzigartig und haben ihre Besonderheiten. Langer Seder und Matza am Pessach, das Lesen der Zehn Gebote und Käsekuchen am Schawout, Laubhütte und Strauß aus vier Arten im Sukkot und viele Tanzrunden mit Tora-Rollen am Simchat Tora. Doch es gibt ein Gebot, das alle diese Feiertage verbindet, und das ist die Freude. „WeSamachta beChagecha“ – freue dich an deinen Festen. Unsere Weisen erklären uns, dass an den Feiertagen man noch mehr Freude spüren soll, als sonst. Dafür haben sie sogar Tipps gegeben. Männer sollen an diesen Tagen leckere Gerichte schön serviert bekommen, Frauen sollen von ihren Ehemännern mit neuen Kleidern und Schmuck beschenkt werden und auch die Kinder sollen nicht vergessen werden: sie sollen viele Süßigkeiten zum Feiern bekommen. Und damit es auch an den Werktagen der Festtage Pessach und Sukkot (Chol haMoerd) bei guter Laune bleibt, empfehlen unsere Weisen den Männern ein wenig Wein zu trinken.

 

Die besondere Stellung Purims

Doch das Purim-Fest ist sogar in dieser Hinsicht viel einzigartiger, als andere Feiertage. Wenn es am Pessach oder Sukkot nur empfehlenswert ist ein wenig Wein zu trinken, ist das Trinken am Purim ein Gebot. Und nicht nur das, man muss an diesem besonderen Tag so viel Wein trinken, um den Unterschied zwischen „sei verflucht Haman“ und „sei gesegnet Mordechai“ nicht mehr erkennen zu können! Das ist ein sehr merkwürdiges Gebot. Denn das Berauschen im Judentum ist verboten. Wenn der Mensch betrunken ist, kann er nicht richtig Tora lernen, nicht richtig beten und keine Segensprüche sagen. Warum soll starker Alkohol-Konsum an einem Tag plötzlich nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten sein?! Und das ist ja nicht einfach ein Brauch, das haben unsere Weisen angeordnet, sie sonst das übermäßige Trinken von Alkohol stark kritisieren! Und warum reicht es nicht, auch am Purim eine Freude zu haben, die wir auch an den anderen Feiertagen haben sollen?

Diese spezielle Purim-Freude kann man mit einem Gleichnis verstehen. Ein Mensch wurde krank und nach einer Untersuchung haben die Ärzte festgestellt, dass diese Person an einer unheilbaren Krankheit leidet und nur noch wenige Wochen zu leben hat. Der Kranke ist zutiefst schockiert und kann kaum normal denken. Seine Arbeit, seine Pläne für den Urlaub sind kein Thema mehr, alles woran er denkt, ist, dass er bald stirbt und was er davor noch erledigen soll. Und plötzlich kommt zu ihm ein Arzt und sagt verlegen: „Wissen Sie, lieber Herr soundso, es ist uns wohl ein Fehler unterlaufen. Wir haben ihre Befunde noch mal genauer angeschaut und stellten fest, dass Sie diese unheilbare Krankheit nicht haben und somit absolut gesund sind. Also, Sie werden weiter leben. Es tut uns für die Verwechslung unheimlich leid“. Man kann sich gut vorstellen, wie sich diese Person fühlen wird! Seine Freude wird einfach grenzenlos sein. Er wird noch lange Zeit außer sich sein und diese unerwartete Nachricht feiern. Das ist eine außergewöhnliche und sehr starke Freude, die man sehr selten erlebt. Das heißt in Hebräisch „leipach“ – umgekehrt, absolutes Gegenteil. Es gab etwas Festes und plötzlich, innerhalb von Minuten hat sich alles grundliegend geändert. Und gerade diese plötzliche Umkehr passierte am Purim, und sogar doppelt.

Als der Bösewicht und Judenhasser Haman vom König Achaschwerosch ein Dekret über die Vernichtung aller Juden bekommen wollte, sagte er Folgendes: „Da ist ein Volk, zerstreut und abgesondert unter den Völkern in allen Provinzen deines Königreiches; und ihre Gesetze sind von denen jedes anderen Volkes verschieden, und die Gesetze des Königs tun sie nicht…“. Unsere Weisen deuten diese Worte als Anklage von Satan (Engel-Ankläger) vor G’tt: „schau dir dein Volk an, sie halten deine Gesetze nicht mehr“. Deshalb entstand die Gefahr der totalen Vernichtung des jüdischen Volkes. Und Mordechaj, der damalige Anführer des jüdischen Volkes, hat verstanden, dass es eine sehr reale Gefahr ist. Innerhalb kurzer Zeit schafften es Mordechahj und die Königin Esther die Juden zur Umkehr zu bewegen. Und dann plötzlich war auch die Gefahr für die Juden gebannt: Der Antisemit Haman, der scheinbar mächtige und unantastbare Vizekönig, hat in nur einer Nacht nicht nur seine Macht verloren, sondern wurde sogar exekutiert. Exekutiert von seinem König, der ihn nur Stunden zuvor noch so liebhatte.

Und deshalb war auch die Freude der Juden so groß. Es ist nicht nur die wunderbare und unerwartete Rettung. Es war mehr: Juden haben damals verstanden, dass sogar im Exil (nach Zerstörung des ersten Tempels) G’tt mit den Juden ist und sie weiterhin liebt. G’tt will nicht, dass Sein Volk vernichtet wird, G’tt möchte, dass die Juden zu Ihm zurückkehren und ihre G’ttliche Aufgabe in dieser Welt erfüllen. Es war diese Erkenntnis, welche die Juden so gefreut hat, denn nach der Vertreibung des jüdischen Volkes aus dem Heiligen Land, war diese einzigartige Beziehung mit G’tt für die damaligen Exilanten nicht selbstverständlich.

 

Ist das ein Grund diese Rettung auch heute noch zu feiern?!

Man könnte fragen, warum feiern wir diese wunderbare Rettung immer noch? Es ist schön und gut, dass die Juden damals aus der Lebensgefahr gerettet wurden und damit ihre Verbindung zu G’tt gestärkt haben. Können aber auch wir heutzutage das feiern? Es gab ja schon nach Purim schwere Verfolgungen, Tragödien und den Holocaust! Doch gerade Purim ist unser Hoffnungsmacher. So wie Juden damals vor dem Abgrund standen und doch noch gerettet wurden, so besteht die Hoffnung, dass auch in Zukunft bei allen anderen Krisen das jüdische Volk durch G’tlichen Beistand alles meistert und deshalb auch immer existieren wird.

 

Die Rolle des Weins

Es bleibt immer noch die Frage, warum sollen wir diesen Feiertag mit massivem Alkoholkonsum feiern?! Natürlich spielte der Wein eine bedeutende Rolle in der Purim-Geschichte, doch ist das wirklich der Grund, um übermäßig viel zu trinken? Wäre es nicht logischer eine bestimmte Anzahl von Gläsern zu trinken, wie wir es am Pessach machen (vier Gläser). Was haben also unsere Weisen, die sonst das übermäßige Alkoholkonsum stark verurteilen, mit diesem Gebot bezwecken wollen?

Der Grund dafür ist, dass es für uns sehr schwer nachzuvollziehen ist, dass alles, was uns passiert, auch von G’tt kommt. Und sogar wenn wir rein theoretisch daran glauben, praktizieren wir diesen Glauben in unserem alltäglichen Leben sehr selten. Zum Beispiel passiert uns oft, dass wir von jemandem beleidigt oder gekränkt wurden. Und wir fühlen Wut und Zorn gegen diese Person. Und manchmal suchen wir sogar nach der Möglichkeit es dem Widersacher irgendwie heimzuzahlen. Doch wenn wir tatsächlich überzeugt wären, dass alles vom Himmel kommt, wären wir auch sicher, dass nicht diese Person das Problem ist. Es gab wohl einen guten Grund, warum G’tt uns in diese Situation gebracht hat und der Widersacher einfach ein Werkzeug in G’ttes Händen ist. Also, sehr oft ist für uns der Glaube leider nur die Theorie. Und dann kommt Purim und an diesem Tag haben wir die Chance diesen Glauben tatsächlich zu verinnerlichen. Wir sollen ja einen Zustand erreichen, wo wir nicht mehr zwischen „sei verflucht Haman“ und „sei gesegnet Mordechai“ unterscheiden können. Und genau in diesem Zustand, wenn die Gegensätze in unserem Kopf nicht mehr existieren, gelangen wir zu der Erkenntnis „Haschem Hu haElokim“ (Herr ist auch G’tt). Alles, was uns passiert, sowohl das Gute als auch das nicht so Gute ist vom selbem G’tt. Und das sollen wir uns wirklich zu eigen machen und versuchen danach zu leben.

 

Jeden Tag Alkohol?!

Wenn diese Erkenntnis, so wichtig ist und uns so viel weiter in unserer Einstellung bringen kann, warum trinken wir dann nicht jeden Tag? Warum warten wir auf Purim, um eine so essentielle Weisheit zu bekommen? Und hier muss man nochmal daran erinnern, dass alle jüdischen Feiertage fest an ihr Datum gebunden sind und nur an jenem Datum ihre Wirkung haben. Man kann Pessach nur im Frühling feiern, weil die Juden in dieser Zeit aus Ägypten befreit wurden, man kann Schawuot nur 49 Tage nach Pessach feiern, weil genau an jenem Datum die Juden die Tora am Berg Sinai bekommen haben. Und genauso kann man Jom Kippur nur am 10.Tischrej feiern, weil dem jüdischen Volk genau an diesem Tag die Sünde des Goldenen Kalbes verziehen wurde. Alle diese Ereignisse sind nicht einfach an diesem Datum vorgekommen, sie haben eine bestimmte Spur an diesen Tagen hinterlassen. Freiheit am Pessach, Sühne am Jom Kippur usw.

Das gilt natürlich auch für Purim. Die wunderbare Rettung und die Nähe zu G’tt, die damals am 14.Adar in ganz Persien erlebt wurden, haben ihre Kraft für immer „abgespeichert“. Jedes Jahr nur an diesem Tag kann man dank der Freunde und dem Wein diese Nähe zu G’tt wieder erreichen. Und deshalb gibt es am Purim auch noch andere Gebote zum Erfüllen, als nur Wein-Trinken. Beim Hören der Esther-Rolle am Abend und am Tag erleben wir die Purim-Geschichte noch mal. Wir senden Lebensmittel (Mischloach Manot) an die Nachbarn und Bekannten, um unsere Freundschaft zu stärken. Wir geben Tzedaka (Spenden) an arme Menschen, damit auch sie was zum Feiern haben. Nur wenn alle Gemeindemitglieder fröhlich sind, kann man auch selbst echte Freude erleben. Und dann gibt es die Chance am Tisch beim Wein-Trinken zu den Erkenntnissen zu kommen, die unser tagtägliches Leben schön und lebenswert machen werden.

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