Daf Yomi – Stellen aus dem Talmud

1923 hat Rabbi Meir Shapira aus Lublin die Initiative „Daf Yomi“ angeregt. Heute befinden wir uns im 14. Zyklus. Als Teil davon können Juden überall auf der Welt dasselbe Blatt aus dem Talmud lesen und lernen.

© WIKIPEDIA

Von Patrick Casiano

In der Ausgabe vom Januar 2022 hat die Jüdische Rundschau damit begonnen, auszugsweise Stellen aus dem Talmud darzulegen und zu erörtern. Die Auswahl der Stellen erfolgt dabei anhand des festgelegten Lesezyklus, der als „Daf Yomi“ bezeichnet wird.

Folgendes stellt eine Fortsetzung dar.

 

Eines der aktuellen Blätter – Das „Hakhel“-Gebot

12. Februar 2022 (Chagiga 3): Die besagte Stelle handelt unter anderem von dem „Hakhel“-Gebot. Dies ist eine alle sieben Jahre wiederkehrende Verpflichtung, sich in Jerusalem zu versammeln. Die Zeit für diese Versammlung ist das Sukkot- oder „Laubhütten“-Fest (anlässlich dessen man sowieso nach Jerusalem pilgert) nach Ende eines „Schmitta“-Jahres. Zurzeit befinden wir uns gerade in einem Schmitta-Jahr und auch ein solches kehrt nur alle sieben Jahre wieder. Im Schmitta-Jahr darf im Lande Israel nicht angepflanzt werden und auch andere landwirtschaftliche Arbeiten sind stark eingeschränkt. Wovon sich die Bevölkerung ernähren soll, auch dafür hat die Tora eine Antwort, aber dies ist ein Thema für einen eigenen Artikel. Jedenfalls wäre Hakhel im Oktober 2022. „Wäre“, weil das Hakhel-Gebot in Abwesenheit des Tempels nicht erfüllt werden kann. Aber verschiedener Orts gibt es Veranstaltungen, die an Hakhel erinnern und sich der Thematik des Gebots widmen.

Die biblische Grundlage für Hakhel findet sich im 5. Buch Moses, Kapitel 31, Verse 10-13:

„[…] sollst du diese Weisung in Gegenwart von ganz Israel vorlesen. Versammle das Volk, die Männer und die Frauen und die Kleinkinder, und auch den Fremdling, der in deinen Toren ist, damit sie hören und damit sie lernen und den Ewigen, euren Gott, fürchten und bedacht sind, alle Worte dieser Weisung zu üben. Und ihre Kinder, die unkundig sind, sollen hören und lernen […]“

Wie auch andere Gebote wird Hakhel im Talmud und der rabbinischen Literatur weiter erläutert. Der Kernpunkt des Gebots besteht darin, dass der jüdische König dem versammelten Volk aus der Tora vorlesen soll. Die vorzulesenden Stellen stammen aus dem 5. Buch Moses und umfassen unter anderen die Wiederholung einer Vielzahl von Geboten, die bereits in den früheren Büchern erwähnt wurden, inkl. auch der zehn Gebote. Aber auch narrative Texte wie der Einzug des jüdischen Volkes ins Land Israel werden hier wiederholt.

Ebenso wie das häufig anzutreffende Thema der Weitergabe an die kommende Generation (vgl. z.B. 5. Buch Moses, Kapitel 4, Verse 9-10) – ein Kernaspekt von Hakhel. Auch das „Schma Israel“, der wichtigste jüdische Grundsatz überhaupt, findet sich unter den vorzulesenden Stellen.

Die Interpretation, die sich an der genannten Stelle (Chagiga 3) findet, ist die folgende: Warum weist uns die Tora an, auch die Kleinkinder mit zur Versammlung nach Jerusalem zu nehmen?

 

Nur auf den ersten Blick ein Widerspruch

Einerseits sind Kinder bis zu einem bestimmten Alter bekanntlich von Geboten freigestellt und müssten so gesehen gar nicht nach Jerusalem. Andererseits ist es logisch, dass man Kleinkinder nicht allein lassen kann und Babysitter gibt es auch keine, da diese selbst nach Jerusalem müssen. Das Judentum geht jedoch davon aus, dass jedes Wort in der Bibel, jede Feinheit der Formulierung, eine Bedeutung hat und dass in der Bibel nichts Unnötiges steht. Somit kann es nicht sein, dass uns die Bibel hier nur die Selbstverständlichkeit mitteilt, dass wir die Kleinkinder nicht allein lassen sollen. Also stellt sich die Frage, warum die Bibel sich so ausdrückt. Der Talmud an der genannten Stelle antwortet hierauf: „Um diejenigen, die sie mitbringen, zu belohnen.“ Und auch dies ist wiederum verwunderlich. Kleinkinder auf eine Reise mitzunehmen ist sicherlich beschwerlich und es gibt zwar den Grundsatz, dass der Lohn proportional zu den Mühen und Strapazen ist, die ein Gebot mit sich bringt („le-fum …“, vgl. Ende des fünften Kapitels von Pirkei Avot). Aber so gesehen könnte man sich einen Sack voller Steine auf den Rücken laden und damit mühevoll nach Jerusalem laufen, um so seinen Lohn zu vergrößern. Jedoch ist die Unsinnigkeit einer solchen Handlung offenkundig. Vielmehr geht es darum, dass die Kleinkinder, selbst wenn sie nichts von dem Geschehen verstehen und sich später auch nicht daran bewusst erinnern werden, dennoch dem spirituellen Einfluss dieses besonderen Ereignisses ausgesetzt sind und in späteren Jahren davon positiv in ihrer Gesetzestreue beeinflusst werden.

Die Prägung, welche die Hakhel-Zusammenkunft bei den Anwesenden hinterlassen hat, können wir heute nicht mehr nachvollziehen. Unser fehlendes Verständnis liegt vor allem darin begründet, dass wir heute das Wesen des Tempels nicht fassen können. Ein Aspekt, den wir uns jedoch vor Augen führen können, ist z.B. die Demonstration der Einheit des jüdischen Volkes, die durch Hakhel in Erscheinung tritt. Das gemeinsame Antreten zum Hören der Tora weckt auch Assoziationen zum erstmaligen Empfang der Tora am Berg Sinai. Der Moment, der den eigentlichen Anfangspunkt des jüdischen Volkes darstellt, durch Gottes Erwählung Israels einerseits, und Israels Verpflichtung, Gottes Gebote zu halten andererseits.

Aber ungeachtet der Bedeutung der jüdischen Erziehung der nächsten Generation und des spirituellen Einflusses, der von der Hakhel-Versammlung ausgeht, stehen wir immer noch vor dem Problem, dass die Eltern ihre Kinder sowieso hätten mitnehmen müssen, auch wenn die Tora das nicht angewiesen hätte. Und dies scheint sich damit zu widersprechen, dass in der Tora nichts Überflüssiges steht.

Dies wird durch den Grundsatz erklärt, dass eine Person, die eine gute Tat ausführt, die ihm durch das göttliche Gesetz geboten ist, mehr vollbringt als eine Person, welche die gleiche Tat ausführt, ohne dass sie ihm gesetzlich obliegt. Also sagen wir, jemand hilft einer alten Frau die schwere Einkaufstasche zu tragen, einmal in einer Situation, in der er dazu gesetzlich verpflichtet ist und einmal in einer Situation ohne eine solche Verpflichtung. Welche Situation ist moralisch hochwertiger? Intuitiv würden sich die Meisten wohl für die zweite Situation aussprechen. Der als „gadol ha-metzuwe we-ose…“ bekannte Grundsatz geht jedoch vom Gegenteil aus. Und der Grund dafür ist, dass ein Mensch in der zweiten Situation nur seinen eigenen Willen erfüllt. Auch wenn dieser im genannten Fall zufällig ein guter Wille ist, könnte er in einer anderen Situation ein schlechter Wille sein und somit ist es ein Problem, dass der eigene Wille handlungsanweisend ist. Im ersten Fall hingegen spielt der eigene Wille keine oder eine nur untergeordnete Rolle und man unterstellt sich dem Willen Gottes.

Daher hat die Tora das Mitbringen der Kleinkinder, welches ohnehin geschehen wäre, zu einem Gebot erhoben.

 

Artikel von: Patrick Casiano, www.intellectual-services.com

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