Jüdisches Weltkulturerbe ohne Zukunft?
Rheinland-Pfalz freut sich über die Anerkennung der alten jüdischen Stätten in Worms, Mainz und Speyer als Weltkulturerbe. Von diesem Glanz ist heute leider nicht mehr viel übriggeblieben. Die Gegenwart für die jüdischen Gemeinden in Rheinland-Pfalz sieht nicht zuletzt aus demographischen Gründen eher düster aus (JR).
Außenwand des alten Judenhofes in Speyer
Unter dem Titel „1700 Jahre Judentum in Deutschland“ wird derzeit über die Juden öffentlich gesprochen, und das mit wirklich viel Aufwand. In zahlreichen Artikeln, Sendungen und Veranstaltungen wurde viel über die Bedeutung des Judentums in der Vergangenheit gesagt, und um das Jubiläum zu feiern wurde sogar eine Briefmarke herausgebracht. Das praktische Stück des täglichen Lebensbedarfs ist versehen mit einem kurzen Satz in Hebräisch, der offensichtlich mit Mühe und Vorsicht ausgesucht worden ist: „Le chaim“, steht da, es bedeutet „auf‘s Leben!“. Ein oft verwendeter Trinkspruch, der auch gut zu den Weinbergen an Rhein und Mosel und zu einer fröhlichen Trinkrunde passt. Aber was genau hat es mit den Juden in Deutschland zu tun? Auf was sollten sie anlässlich des 1700-jährigen Jubiläums anstoßen?
Im Laufe der vergangenen 1700 Jahre hat die in Europa unter problematischen Umständen lebende jüdische Minderheit nicht nur einzelne herausragende Persönlichkeiten vorzuweisen. Im Mittelalter waren auch einige Städte am Rhein bekannt für ihr blühendes jüdisches Leben, dessen Bedeutung ihnen europaweit Ansehen verschaffte. In den Städten Speyer, Worms und Mainz, zusammen SchUM-Städte genannt, wurde um das Jahr 1000 der Begriff Aschkenasisches Judentum geprägt. So bezeichnet wurden die im jetzigen Deutschland und in Frankreich lebenden Juden, dem damaligen Zentrum Europas. Im Unterschied dazu nannten sich die Juden Spaniens Sefardim. In den SchUM-Städten Mainz, Speyer und Worms lebten und lehrten große Gelehrte. Herausragend war hier Rabbiner Gerschom ben Jehuda, genannt Leuchte des Exils, geboren in Metz. Er reformierte um das Jahr 1000 unter anderem das jüdische Eherecht. Auch Rabbiner Schlomo ben Jitzchak, besser als Raschi bekannter Kommentator des Talmudes, der aus Troyes stammte, lehrte hier neben vielen anderen.
Unter dem Titel SchUM-Städte haben sich die Stadt Mainz und die Landesregierung vor einigen Jahren um den UNESCO-Status als Weltkulturerbe beworben. Mit Erfolg, denn seit Ende Juli 2021 gehören die SchUM-Städte zu eben jenem UNESCO-Welterbe, ein Titel, der leider etwas an Glanz eingebüßt hat, gibt es doch alleine in Deutschland inzwischen über 50 solche Welterbestätten.
Gegenwart des jüdischen Lebens in Rheinland-Pfalz
Der jetzige Status lässt auch einige Fragen offen: Waren an dem Antrag bei der UNESCO auch Juden beteiligt? Die größte jüdische Gemeinde des Landes, die JG Mainz, die auch für die Juden in Worms zuständig ist, begrüßt die Entscheidung. War sie an dem Antrag beteiligt? Damit stellt sich die Frage: Will das Land weiter nur vom Glanz der Geschichte leben? Denn die Geschichte der SchUM-Städte zeigt durch die in den 1700 Jahren immer wieder stattfindenden Zerstörungen auch deutliche Schattenseiten. Für die Untaten der Vergangenheit trägt die im Land jetzt lebende Generation keine Verantwortung, aber wie steht es um die Gegenwart des jüdischen Lebens vor Ort in den Städten von Rheinland-Pfalz?
Viele europäische Städte und Landschaften haben immer noch ihr vom Mittelalter geprägtes Aussehen bewahrt. Burgen, Paläste und Festungen wechseln sich im Stadtbild beeindruckend mit Kathedralen, Kirchen und Abteien. Viele der Gebäude sind noch zusätzlich mit authentischen Gemälden, Plastiken und Einrichtungsgegenständen ausgestattet. Beginnen wir jedoch mit der Suche nach den jüdischen Teilen der gleichen Städte, wird der Eindruck ein anderer. Die meisten Orte, die mit jüdischem Leben in Verbindung standen, werden mit dem Zusatz „ehemalig“ versehen. Wo sind die Synagogen, wo die Jeschiwot, wo sind die Orte des Wirkens der jüdischen Gelehrten in den Städten? Wo sind die Wohnhäuser der angeblich so wohlhabenden Juden geblieben? Wo ist ihr Inventar geblieben?
Wenn jemand nach den Spuren des berühmten Rabbiners Gerschom ben Jehuda in Mainz sucht, der findet dort weder eine alte Synagoge noch eine Jeschiwa, sondern lediglich einen Erinnerungsstein auf dem jüdischen Friedhof als einzige Spur. Wie so viele andere im Land wurde der Friedhof „Am Judensand“ immer wieder neu hergerichtet, sicher vor Schändungen in der Gegenwart ist er deshalb nicht. Auch die Synagoge unterscheidet sich von den Kirchen auffällig, denn sie ist an den davorstehenden Polizeiautos zu erkennen.
Warum sind die jüdischen Quartiere nicht mehr in der Mitte der Städte zu finden? Dort standen sie gewöhnlich, unter dem Schutz der Obrigkeit, der weltlichen oder der kirchlichen. Geschützt sollten sie werden, nicht unbedingt aus Menschenliebe, sondern weil die Juden vorab für ihren Schutz bar bezahlt haben. Der Schutz wurde ihnen in den Zeiten der Bedrängnis dann jedoch oft nicht gewährt. Keine Naturgewalt, sondern Menschen, ihr blinder Hass und Gier, die sich nach Bedarf antijudaistisch, antisemitisch oder modern antizionistisch nennen, ist für das Verschwinden von Juden verantwortlich.
Fromme oder Linke, Reformer oder Getaufte
Es war nicht nur im Mittelalter so. In den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts sollte kein Jude in Europa seiner Vernichtung entkommen. Nicht einmal sein Verdienstkreuz aus dem Ersten Weltkrieg hat dem jüdischen Frontsoldaten geholfen, um der Gaskammer zu entkommen. Auschwitz, Bergen-Belsen oder Mauthausen, das waren die Endstationen für alle, ob Fromme oder Linke, Reformer oder Getaufte. Daran zu erinnern ist gut und richtig, es reicht aber nicht aus. Schon gar nicht, wenn wir die Frage nach der Zukunft stellen.
Der Einwand „aber wir leben doch in einer anderen Zeit“ ist kein Grund die Bedrohung zu vergessen. Wer spricht heute vom Attentat in Halle an Jom Kippur 2019? Aber die Schreie auf der Straße „Juden ins Gas“ sind weiter da. Die verstummen nicht von alleine, sie werden mehr.
Die Katastrophen in der Vergangenheit kamen nicht unerwartet, nicht ohne Vorzeichen. Sie wurden im Jahr der großen Vernichtung 1096 nicht ernstgenommen. Genauso wenig wurden sie auch im Jahre 1933 von den meisten Juden in Europa ernstgenommen.
Bezüglich ihrer Sicherheit, kann sich die jüdische Gemeinschaft in ganz Europa weder auf die durch nichts berechtigte Hoffnung verlassen, dass ähnliches wie in Halle nicht wieder passieren wird, noch alleine auf die Schutz-Zusagen der Behörden.
Aber auch die Zukunft des Judentums im Gebiet der SchUM-Städte hängt nicht nur von der äußeren Sicherheit, oder vom momentanen Wohlwollen der Obrigkeit ab, auch nicht von der Zustimmung zum Welterbe-Status. Wenn die jüdische Gemeinde dort überleben will, muss sie sich an ihre eigentlichen Aufgaben erinnern und bereit sein dafür ihren Beitrag zu leisten. Dazu zählt kontinuierliche jüdische Bildung, mit mehr Wissen über das jüdische Leben vor Ort – zusammen mit intensiver Jugendarbeit und Öffentlichkeitsarbeit, die von der Gemeinde selbst überzeugend geleistet wird. Die Sozialarbeit alleine und die Pflege sowjetischer Folklore, wie z. B. das Feiern des „Tages des Sieges“ Stalins am 9. Mai, ersetzen diese Arbeit nicht.
Eine leere Synagoge?
Was soll sonst mit der eigenwilligen, schönen, erst 2010 entstandenen Neuen Synagoge in Mainz geschehen? Soll sie bald aus Mangel an sich dort regelmäßig versammelnden, lernenden und betenden Juden zu einem der vielen Kulturzentren, die so zahlreich auf dem Land zu sehen sind, umfunktioniert werden? Warum wird die Frauen-Synagoge in Worms nicht benutzt? Was soll mit der Weisenauer Synagoge geschehen? Warum gibt in keiner der SchUM-Städte eine funktionierende Mikwe?
Wird das jüdische Leben in Mainz nach 1700 Jahren zu einem baldigen Ende kommen? Das Handeln der Juden in der Vergangenheit soll die Juden von Heute ermutigen trotz drohender Gefahren ihre Identität nicht aufzugeben. Sie sollen sich an ihre eigene Tradition erinnern, auch unangenehme Fragen an die Mehrheitsgesellschaft zu stellen und Antworten zu verlangen.
Das würde bedeuten, sich dem gesellschaftlichen Diskurs als aktiver Partner zu stellen und nicht als eine Gemeinschaft der Opfer. Und dann wäre auch der Spruch „Le Chaim!“ (auf‘s Leben) wirklich angebracht.
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Judentum und Religion