Die versteckte Botschaft des Schofars

Der durchdringende Ton des Widderhorns ist ein spiritueller Weckruf zu Rosch HaSchana (JR)

© MENAHEM KAHANA, AFP

Von Dovid Gernetz

Am ersten (und zweiten) Tischrei wird in der jüdischen Tradition Rosch HaSchana, das jüdische Neujahrsfest, gefeiert. Obwohl Rosch HaSchana ein Feiertag wie die anderen ist, und mit entsprechender Kleidung und festlichen Mahlzeiten gefeiert wird, ist es dennoch auch der Tag des Gerichts.

Die Tora schreibt uns vor, an diesem Feiertag das Schofar (Widderhorn) zu blasen, so wie es geschrieben steht: „Und im siebten Monat, am ersten Tag des Monats, sollt ihr eine heilige Versammlung haben; ihr sollt keine Arbeit verrichten; es ist ein Tag des Posaunenschalls” (Bamidbar Kap. 29, Vers 1).

Daran, dass die Tora Rosch HaSchana als „Tag des Posaunenschalls” bezeichnet (und nicht z.B. als „Tag des Apfels und des Honigs“), lässt sich erkennen, dass es sich beim Blasen des Schofars um einen essentiellen Teil von Rosch HaSchana und dessen Thematik handelt.

Auch im Gebet zu Rosch HaSchana lässt sich eine tiefe Verbindung dieses Feiertages zum Schofar erkennen, denn eines der drei Hauptthemen des Mussafs (jüdisches Gebet) ist Schofarot, und dort werden alle bedeutungsvollen Erwähnungen des Schofars im Tanach aufgezählt.

In diesem Artikel werden wir versuchen zu erläutern, warum das Schofar am Rosch HaSchana so eine große und zentrale Rolle spielt, und wie es uns zu einem besseren Urteil verhilft.

Doch zuvor muss betont werden, dass es sich bei den Gründen, die von den Kommentatoren für die Gebote der Tora gegeben werden, nie um den wahren Grund, sondern nur um eine symbolische Erklärung handelt – denn die wahren Gründe sind nur G‘tt, dem Verfasser dieser Gebote, bekannt.

Manche Rabbiner behaupten, dass die Erklärungen für die Gebote der Tora (z.B. Sefer HaChinuch) deshalb auf Hebräisch als „Taamei HaMitzwot” (Taam steht im Hebräischen nicht nur für „Grund”, sondern auch für „Geschmack”) bezeichnet werden, weil sie nur den „Geschmack”, also die Symbolik des Gebotes, wiedergeben können, nicht aber den wahren Grund.

Was also ist die symbolische Bedeutung des Schofars?

Maimonides schreibt (Mischne Tora Hilchot Tschuva 3:4):

Obgleich der Posaunenschall (das Schofar-Blasen) eine Vorschrift der Tora ist, so ist doch auch eine tiefere Bedeutung damit verbunden, als wollte man damit sagen: „Erwachet, ihr Schlummernden, von eurem Schlummer, und ihr Schlafenden, von eurem tiefen Schlafe, untersucht eure Taten, kehrt wieder in Buße und erinnert euch eures Schöpfers!

Lasset euch ermahnen, ihr, die ihr die Wahrheit in den Nichtigkeiten der Zeit vergesset, und eure Lebensjahre verbringet in Eitelkeit und Leere, was nicht hilft und nicht rettet. Richtet eure Blicke auf eure Seelen; verbessert eure Wege und eure Taten, und möge ein Jeder unter euch seinen sündhaften Pfad verlassen, und von seinen bösen Gedanken abstehen“.

Wenn Maimonides von „Schlummernden“ und „Schlafenden” spricht, meint er damit natürlich nicht physischen Schlaf, sondern „spirituellen Schlaf”, den Schlaf der Seele:

Im Laufe des Jahres sind wir Menschen oft so sehr mit unserem Alltag beschäftigt, dass uns überhaupt keine Zeit mehr übrigbleibt, um über unser Leben und unsere wahren Ziele nachzudenken.

Wir vergessen, mit welcher Aufgabe wir in diese Welt geschickt wurden und setzen falsche Prioritäten. Materieller Reichtum, vergängliche Errungenschaften und Nichtigkeiten dieser Welt werden mehr geschätzt als die Erfüllung der Gebote, intellektuelle Entwicklung und spiritueller Fortschritt.

Laut Maimonides dient der durchdringliche Ton des Schofars als eine Art spiritueller Weckruf, um uns daran zu erinnern, aus diesem zombiehaften Zustand zu erwachen und den wahren Sinn des Lebens zu erkennen. Sobald der Mensch zu dieser Erkenntnis kommt, wird er seine schlechten Taten bereuen und sich vornehmen nächstes Jahr ein besserer Mensch zu werden.

 

Zu spät?

Es stellt sich jedoch die Frage, ob es nicht zu spät ist, erst an Rosch HaSchana „geweckt” zu werden, wenn man an diesem Tag schon gerichtet wird.

Daran sehen wir, dass der Mensch an Rosch HaSchana (und generell) in der Lage ist, sich innerhalb kürzester Zeit zu verändern – und dass allein schon der Gedanke, seine Taten zu bereuen und sich verändern zu wollen, für ein gutes/besseres Urteil im himmlischen Gericht ausreichend ist.

Unsere Weisen lehren im Talmud (Rosch HaSchana 16b):

„Rabbi Yitzhak sagte: Ein Mensch wird nur nach seinen Taten zum Zeitpunkt des Urteils gerichtet, wie es in Bezug auf Yishmael steht: ‚Denn G´tt hat die Stimme des Knaben erhört, dort wo er sich gerade befindet (Bereschit 21:17)‘.“

In einem irdischen Gericht wird der Mensch für seine Taten gerichtet und bestraft, auch wenn er sie aufrichtig bereut. Reue kann das Strafmaß beeinflussen und eventuell vermindern, aber nicht vollkommen von der Verantwortung befreien.

Auch im himmlischen Gericht wird der Mensch für seine Taten bestraft, jedoch nur falls er sich nicht bereit erklärt, sich zu ändern und ein besserer Mensch zu werden. Auch wenn der Mensch während des gesamten Jahres seinen Schöpfer vergessen und seinen spirituellen Teil vernachlässigt hat, hat er dennoch stets die Möglichkeit sich in nur einem Augenblick in einen anderen Menschen zu transformieren.

Der unmusikalische Ton des Schofars erinnert auch an einen herzzerreißenden Schrei, den Schrei, der aus den Tiefen des Herzens kommt. Nachdem wir an Rosch HaSchana (nach dem eindringlichen Weckruf des Schofars) aus dem tiefen spirituellen Schlummer, in dem wir uns im Laufe des Jahres befunden haben, erwachen und zu der Einsicht kommen, dass wir uns von G´tt entfernt haben, möchten wir zu G´tt zurückfinden. Doch nicht immer wissen wir, wie wir dies vollbringen können und aus Verzweiflung schreit unsere Seele zu G´tt herauf – und auch diesen Schrei symbolisiert das Schofar.

Wenn Sie an Rosch HaSchana das Schofar hören, hören Sie genauer hin, vielleicht werden Sie zwischen den verschiedenen Tönen die Botschaft des Schofars „Erwachet, ihr Schlummernden, von eurem Schlummer…“ und die Antwort des jüdischen Herzens erkennen können.

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