Die Kraft des Positiven

Wie wir den Trauertag Tischa beAw nutzen können, um uns zu stärken und zu inspirieren.

Francesco Hayez, Die Zerstörung des Tempels von Jerusalem© WIKIPEDIA

Von Rabbiner Elischa Portnoy

Dieses Jahr werden mit dem Fastentag „Tischa beAw“ (9. Tag des jüdischen Monats Aw) am 18. Juli die drei Trauerwochen beendet. Tischa beAw ist für uns wohl der schwerste Tag im Jahr. Mitten im Sommer wird fast 25 Stunden lang gefastet und es gibt noch weitere Beschränkungen, damit wir uns auf die Trauer konzentrieren können. Hauptsächlich wird um die zwei jüdischen Tempel getrauert, die in Jerusalem an diesem Datum zuerst von den Persern und später von den Römern zerstört wurden. Es wird aber auch um viele andere Tragödien der jüdischen Geschichte getrauert, die ebenfalls mit diesem Datum verbunden sind.

Das Ziel dieses Fastentages ist aber nicht ausschließlich Trauer und Kummer. Wir müssen diese besondere Zeit auch für positive Impulse nutzen. Wir sollen für uns etwas lernen, uns verbessern und uns und die Welt dazu bringen, dass der Maschiach (Messias) kommt und den dritten Tempel auf seinem Platz in Jerusalem erbaut.

Wenn man nur trauert und sich nur aufs Negative konzentriert, könnte es dazu kommen, dass man pessimistisch wird und kein Licht am Ende des Tunnels sieht. Diese Idee wird klarer, wenn man etwas über die Ereignisse lernt, die den 9. Aw zum Desaster-Tag gemacht haben: In der Tora, im Wochenabschnitt „Schlach lecha“, wird die tragische Geschichte von Spionen erzählt, die folgenreiche Fehler gemacht haben. Die Juden, die gerade die Tora am Berg Sinai empfangen haben, standen kurz vor dem Eintritt in das Heilige Land. Und plötzlich kamen sie zu Mosche mit der Bitte Spione nach Israel zu senden, um das Land auszukundschaften. Diese Bitte war keine gute Idee, denn G’tt hatte den Juden bereits versprochen, dass sie ein Land bekommen werden, das für sie perfekt ist (das Land, in dem Milch und Honig fließen). Mosche jedoch entschied sich dennoch die Kundschafter zu senden, damit Menschen keinen Verdacht hegen, dass dort etwas nicht stimmt.

 

Misstrauen in G‘tt

Spione, die nur aus Führern der Stämme bestanden, gingen und kamen nach vierzig Tagen am Vortag zum 9. Aw zurück. Nur zwei von ihnen (Kalev ben Jefune vom Stamm Jehuda und Jehoshua bin Nun vom Stamm Menasche) haben bestätigt, dass das Land perfekt ist und alles gut sein wird. Die zehn anderen Kollegen haben jedoch das Gegenteil betont: auch wenn das Land tatsächlich unglaublich gut ist, so werden wir doch niemals dieses Land einnehmen können! Sie haben auch von Giganten erzählt, die sie dort gesehen haben, über zahlreiche Beerdigungen und von stark geschützten Städten. Damit habe diese zehn Spione das ganze Volk so in Angst versetzt, dass keiner mehr bereit war, Mosche ins versprochene Land zu folgen. Das war natürlich ein unglaublicher Affront gegenüber G’tt, und G’tt versprach, dass alle Erwachsenen (über 20 Jahre alt), die aus Ägypten kamen, vierzig Jahre in der Wüste bleiben und dort auch sterben werden. Erst ihre Kinder werden das Gelobte Land betreten. Seit diesem Ereignis wurde der Tag des 9. Aw für alle Generationen zu einem unglückreichen und tragischen Tag.

Wenn man diese Geschichte liest, stellt sich die Frage, warum die zehn „schlechten“ Spione so einen großen Fehler gemacht haben. Warum haben sie nicht geglaubt, dass all diese „Probleme“ wie Giganten und starke Festungen mit G’ttes Hilfe zu bewältigen sind? Schließlich haben zwei Spione ja geglaubt, dass alles gut werden wird! Was lief also schief bei dieser Mission?

Am Fastentag 9. Aw wird in den Synagogen beim Abendgebet die Megillat Ejcha (Ejcha-Rolle) vorgelesen. In diesem Buch, das vom Propheten Jeremia verfasst wurde, wird von der Zerstörung des ersten Tempels erzählt. Die Verse in den vier von fünf Kapiteln dieses prophetischen Buches stehen in alphabetischer Reihenfolge (zuerst der Vers, der mit Alef beginnt, dann mit Bet usw.). Komischerweise gibt es dort in drei von diesen vier Kapiteln eine Ausnahme: die Verse, die mit dem Buchstaben „Pej“ beginnen, stehen vor den Versen, die mit dem Buchstaben „Ajin“ beginnen. Im jüdischen Alphabet kommt aber zuerst „Ajin“ und erst dann „Pej“. Warum ist das so? Unsere Weisen geben darauf eine sehr spannende und lehrreiche Antwort.

„Ajin“ ist in Iwrit nicht nur ein Buchstabe, sondern auch ein Wort, dass „Auge“ bedeutet. Das Gleiche mit „Pej“: es ist nicht nur ein Buchstabe, sondern auch das Wort „Mund“. Dass in der Ejcha-Rolle diese Buchstaben „vertauscht“ sind, ist also kein Zufall. Normalerweise sehen wir etwas (mit den Augen), und das gibt uns Anlass etwas zu besprechen (mit dem Mund).

Gerade das war das Problem der zehn Spione. Weil sie unbedingt in der Wüste bleiben wollten (und dafür hatten sie gute Gründe gefunden), egal was sie im Land Israel gesehen haben, haben sie alles zum Schlechten interpretiert. Als sie Giganten gesehen haben, haben die Spione plötzlich gedacht, dass sie in Augen dieser Giganten nicht mehr als Heuschrecken waren. Das musste natürlich nicht zwangsläufig der Wahrheit entsprechen, schließlich waren das nur ihre Vermutungen. Als sie zahlreiche Beerdigungen gesehen haben, haben sie geschlussfolgert, dass das „ein Land ist, das seine Bewohner verzehrt“. Dabei hat G’tt diese zahlreichen Beerdigungen „organisiert“, damit die Bewohner des Landes mit den Toten beschäftigt sind und die Spione nicht bemerken. Auch große Festungen, die die zehn Spione so beeindruckt haben, konnte man anders interpretieren: wären die Bewohner des Landes stark und mächtig, so bräuchten sie die große Mauer um seine Städte nicht.

Und genau das ist der Grund, warum „Ajin“ und „Pej“ vertauscht wurden: die Spione haben nur das gesehen, was sie sehen wollten. Und genau darin liegt die Gefahr, wenn man nur traurig und pessimistisch ist: man sieht nur noch das Negative, auch wenn das Positive überwiegt. Ein Weg für die richtige Weltanschauung ist das Vertrauen auf G’tt. Wenn man sicher ist, dass G’tt für uns nur das Beste will und dieses auch arrangieren wird, so wird man fröhlich und ausgeglichen, und verliert keine Minute für die Gedanken „was wird wenn…“. Und so wird man tatsächlich früher oder später mit der Rettung von Problemen, Misserfolgen und Rückschlägen vom Himmel belohnt.

Um den Segen zu empfangen, muss man sich zu einem „Gefäß“ machen, in das G’tt seine Bracha „runterbringt“.

Ein eindrucksvolles Beispiel dafür lieferte der Fall des Rabbi Schlomo Cunin, des Gesandten des 7. Ljubawitscher Rebben Rabbi Menachem Mendel (1902-1994) in Kalifornien. Der Rebbe sandte Rabbi Cunin im Jahre 1965 an die Westküste der USA, um dort jüdisches Leben zu stärken und aufzubauen. Rabbi Cunin nahm seine Aufgabe ernst und begann sofort aufopferungsvoll zu arbeiten. Er baute eins der ersten Chabad-Zentren weltweit und versuchte auch weiterhin Jiddischkeit nach Kalifornien und Nevada zu bringen.

 

20 Millionen Dollar Schulden und ein unverhofftes Glück

Seine Pläne waren groß (jüdische Kitas, Schulen, Zentren an Universitäten), jedoch kostete das alles auch viel Geld. Um diese großen Vorhaben schnellstmöglich zu verwirklichen, begann Rabbi Cunin Kredite zu nehmen und schon kurze Zeit später schuldete er verschiedenen Banken 20 Millionen Dollar! Mit der Zeit war die Geduld der Banken am Ende und sie forderten diese riesige Summe zurück. Rabbi Cunin schrieb einen Brief an den Rebben, wo er auf seine finanziellen Schwierigkeiten aufmerksam machte. Der Rebbe war davon nicht begeistert, versprach jedoch zu helfen, wenn Rabbi Cunin danach wirtschaftlicher agiert.

Kurze Zeit später verstarb eine alte jüdische Frau in Kalifornien, die ihr gesamtes Vermögen, 40 Millionen Dollar, dem Chabad-Zentrum von Rabbi Cunin überließ. Die Freude des Rabbi über dieses Geschenk von Himmel währte nicht lange: die Nachkommen der verstorbenen Frau, die kein Cent von ihr bekamen, haben sofort geklagt. Sie beauftragten die besten Anwälte, um zu beweisen, dass diese alte Frau geistig nicht bei sich war, als sie ein solches Testament geschrieben hatte. Die Anhörung im Gericht begann, und es sah nicht gut aus für Rabbi Cunin. Die Anwälte brachten sehr gute Argumente und wie es aussah, würde Rabbi Cunin ohne einen einzigen Cent zurückbleiben. In der Pause rief Rabbi Cunin das Sekretariat des Rebben an, und bat diesem mitzuteilen, was gerade abläuft und bat den Rebbe um Segen. Kurze Zeit später rief der Sekretär des Rebben Rabbi Cunin an und teilte ihm mit, dass der Rebbe sagte, dass alles gut enden wird. Als Rabbi Cunin diese Nachricht hörte, war er sich absolut sicher, dass tatsächlich alles gut sein wird. Er begann sogar vor Freude zu tanzen.

In dieser Minute kamen die Anwälte der gegnerischen Seite von ihrer Kaffee-Pause und sahen den tanzenden Rabbi Schlomo Cunin! Die Anwälte waren sehr erstaunt über so ein Benehmen. Sie versuchten zu verstehen, was gerade los ist und warum Rabbi Cunin, dem gerade eine Niederlage drohte, so freudig tanzte. Die einzige Erklärung, die sie sich denken konnten, war, dass Rabbi Cunin etwas gefunden hatte, das ihm im Prozess helfen würde. Auch wenn sie sich nicht vorstellen konnten, was das sein könnte, bekamen die Anwälte plötzlich Angst, dass sie alles verlieren könnten. Und ein Prozess, der eine so große Gage versprach, durften sie auf keinen Fall verlieren. Deshalb boten, als die Pause zu Ende war und die Anhörung fortgesetzt wurde, die Anwälte Rabbi Cunin einen Deal an. Er bekommt 25 % (10 Millionen!) und der Rest geht an die Nachkommen. Rabbi Cunin, der sich plötzlich am längeren Hebel fühlte, sagte, dass er mit weniger als 50 % (20 Millionen) nicht einverstanden sei. Diese Forderungen bestätigte die Vermutung der Anwälte, dass Rabbi Cunin starke Argumente in der Hinterhand hatte. Deshalb gaben sie nach und Rabbi Cunin bekam die 20 Millionen! Der Gesandte beglich seine Schulden bei den Banken (wie es der Rebbe versprochen hat) und agierte danach viel umsichtiger. In dieser Zeit schaffte Rabbi Cunin ein großes Netzwerk, das aus mehr als 200 jüdischen Einrichtungen in Kalifornien und Nevada besteht.

Das ist zweifellos eine starke Botschaft für uns heute, für diesen aktuellen Fastentag, den 9. Aw: wir müssen positiv bleiben und mit Zuversicht in die Zukunft blicken. Wir dürfen uns von Problemen, Verlusten, Ärger, Pandemien usw. nicht in die Depression und Ohnmacht stürzen. Wir sollten wissen, dass auch diese sorgenvolle Zeit irgendwann zu Ende sein wird und wir mit G’ttes Hilfe sowohl unsere persönliche, als auch die nationale Rettung erleben werden!

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