Gute Zeit für unser Judentum
Welches Ereignis am Schawuot tatsächlich gefeiert wird
„Schawuot” von Moritz Daniel Oppenheim (1880)
Alle jüdischen Feiertage haben eigene „verrückte“ Elemente des Feierns: stundenlange Sedorim am Pessach ohne Essen, zahlreiche Gebete an Hohen Feiertagen, das Sitzen in den Laubhütten am Sukkot, auch wenn das Wetter nicht mitspielt, uferloser Alkohol-Konsum am Purim. Jedoch haben alle diese komischen Gesetze und Bräuche ihre Logik und wir können leicht nachvollziehen, warum ausgerechnet dieses oder jenes gemacht werden soll.
Es gibt jedoch zwei jüdische Feiertage im Jahr, wo man ganz genau hinschauen muss, um die Logik des Feierns überhaupt zu finden. Einmal ist es Schmini Atzeret, der gleich nach Sukkot gefeiert wird und wo nur Insider verstehen, was genau es da zu feiern gibt. Und der zweite Feiertag ist überraschenderweise das Schawuot-Fest.
Viele würden an dieser Stelle einwenden, dass das beim Schawuot eben ist nicht der Fall sei, und wir genau wüssten, was am Schawuot gefeiert wird – nämlich den Empfang der Tora, was ja auch eindeutig in den Gebetsbüchern steht. Wenn wir aber die Fakten über dieses Fest genau betrachten, stellen wir mit Staunen fest, dass das nicht ganz richtig ist. Erstens, wurde die Tora dem jüdischen Volk am Berg Sinai nicht am 6. Siwan übergeben (wie es heutzutage gefeiert wird), sondern einen Tag später, am 7. Siwan. Der Grund dafür ist, dass Mosche Rabejnu noch einen Tag für die Vorbereitung von sich selbst hinzugefügt hat. Außerdem wurden die Zehn Gebote auf den steinernen Tafeln, die das Volk an diesem Tag erhalten hatte, nur vierzig Tage danach zerschmettert, weil die Juden mit dem Goldenem Kalb gesündigt haben. Die neuen Tafeln mit den Zehn Geboten wurden 80 Tage später am Jom Kippur übergegeben. Deshalb sollte eigentlich Jom Kippur als Tag der Tora-Übergabe gefeiert werden. Und zu allem Überfluss gibt es in der Tora keine Verbindung vom Schawuot-Fest zum Fest des Tora-Empfangs! Überall, wo Schawuot in der Tora erwähnt ist, wird entweder über die Ernte oder über die Opferungen an diesem Tag gesprochen.
Keine besonderen Gebote
Ein weiteres merkwürdiges Detail dieses Festes ist, dass es am Schawuot keine spezifischen Gebote gibt. Wir müssen weder Matza noch bittere Kräuter essen wie zu Pessach, wir müssen nicht in den Schofar blasen wie am Rosch Haschana, wir müssen nicht fasten wie am Jom Kippur, und wir müssen auch nicht in den Laubhütten sitzen, wie es am Sukkot-Fest gemacht wird. Alles, was wir am Schawuot laut der Tora machen müssen, ist, uns von der Arbeit fernzuhalten und uns zu freuen. Und als noch der Tempel stand, mussten alle Männer nach Jerusalem pilgern und dort bestimmte Opfer darbringen. Alles, was an diesem Fest heutzutage gemacht wird (Käsekuchen, Blumen in den Synagogen, Lernnacht usw.), sind Bräuche, die erst mit der Zeit entstanden sind.
Deshalb kommen wir wieder zu der Frage, was genau wir eigentlich jedes Jahr am 6. Siwan feiern. Dabei muss man auch klar vor Augen haben, dass dieser Feiertag kein Volksfest (wie Lag baOmer) ist, sondern eines der drei wichtigsten Pilgerfeste der Tora.
Um die Bedeutung dieses Tages zu verstehen, müssen wir mehrere Stellen in der Tora betrachten, wo Hinweise auf die Wichtigkeit von Schawuot „versteckt“ sind.
Ganz am Anfang (bei der Schöpfungsgeschichte) wird erzählt, dass am 6. Tag der Schöpfung die Menschen erschaffen wurden. Wie auch am Ende jedes Schöpfungstages steht, dass G’tt damit zufrieden war: „Und Gott sah alles, was Er gemacht, und siehe, es war sehr gut. Und es wurde Abend und wurde Morgen: der sechste Tag“. Jedoch, im Gegensatz zu den vorherigen fünf Tagen, gibt es diesmal ein kleiner Unterschied, der in der Übersetzung sehr schwer wiederzugeben ist. Während an den Tagen eins bis fünf, die Tageszahl ohne Artikel angegeben wird (Jom Scheni, Jom Schlischi usw.), steht an diesem 6. Tag die Tageszahl mit dem bestimmten Artikel (haSchischi) da, also „DER sechste Tag“. Das ist, wie alles in der Tora, kein Zufall und unsere Weisen erklären gemäß der Überlieferung, worauf dieser bestimmte Artikel hinweist: „G‘tt hat zu dem Worte bei der Vollendung des Schöpfungswerkes ein ‚hej‘ hinzugefügt, um zu sagen, dass Er für sie zur Bedingung machte, dass Jisrael die fünf Bücher der Thora auf sich nehme“. Eine weitere Erklärung finden wir im talmudischen Traktat Schabbat (88a): „der 6. Tag“ – alles blieb in der Schwebe bis zum sechsten Tag, das ist der sechste Siwan, der zur Gesetzgebung bestimmt war.
Das Universum zu nichts aufgelöst
Aus diesen beiden Erklärungen ist ersichtlich, dass der 6. Siwan schon bei der Schöpfung „eingeplant“ wurde, um an diesem Tag die Tora zu übergeben. Mehr noch: die ganze Schöpfung war davon abhängig, ob die G’ttliche Tora von einem Volk akzeptiert wird! Sonst hätte sich, wie es unsere Weisen betonen, das ganze Universum in nichts aufgelöst.
Eine weitere spannende Quelle finden wir auch am Ende der Tora. Im letztem Wochenabschnitt „Wezot haBeracha“ verteilt Mosche Rabejnu vor seinem Ableben Segen an alle Stämme. Doch kurz davor erwähnt er den Empfang der Tora des jüdischen Volkes als ihr Verdienst. Dabei erwähnt Mosche auch weitere Details bei diesem Ereignis (Dwarim 33:2): „HaSchem kam von Sinai und ging ihnen auf von Se’ir, strahlte vom Berge Paran, und fuhr einher aus Myriaden des Heiligtums, zu seiner Rechten Feuer des Gesetzes ihnen“. Auch hier wissen unsere Weisen ganz genau, was in diesem Zusammenhang die merkwürdigen Worte „ging ihnen auf von Se’ir, strahlte vom Berge Paran“ bedeuten. „Und strahlte ihnen auf vom Seir“ – Er begann mit den Söhnen Esaws, sie sollten die Tora annehmen, aber sie wollten nicht. „Er leuchtete vom Berge Paran“ – Er war dorthin gegangen und hatte mit den Söhnen Jischmaels begonnen, sie sollten die Lehre annehmen; aber auch sie wollten nicht. Das bedeutet, dass G’tt Seine Tora zuerst mehreren Völkern vorgeschlagen hat, jedoch war kein Volk dafür bereit. Außer den Juden, die die Tora sofort und bedingungslos angenommen haben. Mehr noch: die Juden fragten nicht mal, was dort drinsteht, sondern sagten „naase venischma“ – „wir werden machen (Gebote erfüllen) und erst dann hören“ (lernen, welche Bedeutung diese Gebote haben).
Die Erwählten
Es ging bei diesem Ereignis nicht nur um den Tora-Besitz, sondern auch darum, welches Volk außerwählt wird und zum Volk G’ttes wird. Man kann diese Idee gut mit einem Gleichnis verstehen: bei der Hochzeit wirft die Braut einen schweren und großen Blumenstrauß und keine der Frauen, die noch Singles sind, ist bereit, diesen schweren und großen Strauß zu fangen. Nur eine junge Frau macht sich die Mühe und fängt diesen Strauß. Ein paar Minuten später kommt ein schöner und reicher Prinz auf einem weißen Pferd und erklärt, dass diejenige, die diesen Strauß besitzt, zu seiner Prinzessin wird. Alle Frauen, die herumstehen, verstehen sofort, welche unglaubliche Möglichkeit, welche Chance ihres Lebens sie verpasst haben, und beginnen die glückliche Frau zu beneiden und zu hassen. Genau das passierte dem jüdischen Volk, und das ist eigentlich die Quelle des Antisemitismus, wie es unsere Weisen bemerken. „Auch wenn der Mensch nicht sieht, sein Mazal sieht“ sagen unsere Weisen im Talmud, über die spirituelle Ereignisse, die mit unseren materiellen Augen nicht sichtbar sind. Laut der Überlieferung, haben alle Völker ihren Engel. Dank diesem Engel „fühlen“ Völker, was sie verpasst haben, und hassen deswegen das jüdische Volk für die G“ttliche Tora, die sie für immer verpasst haben.
Jetzt verstehen wir, was an jenem Tag tatsächlich passiert war: das jüdische Volk hat in einer Minute das Unglaubliche erreicht: es wurde zum außerwählten Volk, das immer und ewig bestehen wird.
Jedoch muss man beim ganzen Feiern und bei der ganzen Begeisterung dieses „Auserwähltsein“ auch richtig verstehen. Das ist keine Auszeichnung für Schönheit, kein Orden für Heldentaten und kein Pokal. Das ist vor allem eine große Verantwortung, um G’tt in dieser Welt würdig zu repräsentieren. Unsere Aufgabe in dieser Welt sind nicht große Entdeckungen, große literarische Werke und zahlreiche Nobelpreise, sondern das Tora-Lernen und das Erfühlen der 613 Gebote der Tora. Nur wenn das jüdische Volk die Heiligkeit in diese Welt bringt, wird diese Welt besser und lebenswerter. Mit der Tora und mit großem intellektuellem Potenzial hat jüdisches Volk die Instrumente bekommen, um dieser großen Aufgabe gerecht zu werden. Genau das feiern wir am Schawuot. Dafür brauchen wir keine Matza, Schofar oder Laubhütte. Dafür brauchen wir nur innenhalten, um an unsere tausendjährige Tradition und an unser Erbe zu erinnern. Juden waren hunderte Jahre auf ganzer Welt zerstreut, sie sprachen in verschiedene Sprachen und trugen verschiedene Kleider. Das Einzige, was uns als Volk zusammenhielt, ist unsere Tora und unsere Tradition.
Das ewige Volk
G’tt hat versprochen, dass das jüdische Volk ewig bestehen wird. Doch das gilt nur für diejenigen, die entsprechend Seinen Geboten leben. Das Essen von gefillten Fisch, das hören von Klezmer-Musik oder das Kennen von ein paar Ausdrücke auf Jiddisch reicht nicht, um auch die Kinder jüdisch zu erziehen. Weder jüdische Gerichte, noch jüdische Musik, noch jüdische Witze werden Kinder begeistern in die Synagoge zu gehen, Tfillin anzuziehen und koscher zu essen. Kinder werden erst dann für die Tora und Gebote begeistert sein, wenn ihre Eltern damit leben. „Denn wenn du in dieser Zeit schweigst, so wird Befreiung und Errettung für die Juden von einem anderen Orte her erstehen; du aber und deines Vaters Haus, ihr werdet umkommen“ – sagt Mordechai zu Esther, als Esther sich weigert beim persischen König für die Juden zu sprechen. Das gilt auch für unser Volk generell: G’tt wird schon dafür sorgen, dass das jüdische Volk besteht, jedoch keine einzige jüdische Familie hat die Garantie, dass ihre Nachkommen auch jüdisch bleiben. Und gerade am Schawuot haben wir ohne komplizierte Vorbereitungen und ohne zeitaufwendige Gebote Ruhe und Zeit nachzudenken, wie es bei uns damit aussieht. Werden wir unserer Auserwähltheit gerecht? Leben wir nach G’ttlichen Geboten oder wollen wir „wie alle“ sein? Schawuot ist also die perfekte Gelegenheit über unser Verhältnis zu G’tt und zum Judentum nachzudenken. Und das ist auch die perfekte Zeit sich mehr mit der Tradition und mit Geboten zu befassen, um nicht nur die jüdische Vergangenheit, sondern auch eine jüdische Zukunft zu haben.
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