Gelegenheit zum Rechnen
Warum das alte Gebot vom Omer-Zählen auch heutzutage sehr relevant ist.
Lag BaOmer-Feier in Israel© WIKIPEDIA
Die Gebote können, ebenso wie die Menschen, mal Hochkonjunktur haben und mal in Vergessenheit geraten. Auch das Gebot vom Omer-Zählen hat schon bessere Tage gesehen und mehr Aufmerksamkeit erfahren. Heutzutage kennen dieses Zählen wohl nur noch gesetztreue Juden, die alles halten, was in unserer Zeit möglich ist. Doch auch in unserer Realität kann dieses Gebot wieder an Bedeutung gewinnen und hilfreich für uns sein.
Omer-Zählen ist das Zählen nach Omer
Im 3. Buch Moses (23:10) wird den Juden befohlen, dass sie das „Omer-Opfer“ bringen sollen, wenn sie nach Israel kommen: „Sprich zu den Kindern Jisrael und sprich zu ihnen: So ihr in das Land kommt, das ich euch geben werde, und darin Ernte haltet: so bringt ein Omer von den Erstlingen eurer Ernte zu dem Priester“. Dieses Opfer, das aus einer Gersten-Garbe und einem Lamm bestand, wurde immer gleich nach dem ersten Pessach-Feiertag geopfert. Und dann kam das nächste Gebot – das Zählen von 49 Tagen (23:15): „Und zählen sollt ihr vom anderen Tage nach der Feier an, von dem Tage, da ihr gebracht das Omer der Schwingung, (dass es) sieben volle Wochen seien. Bis zum anderen Tage nach der siebenten Woche sollt ihr fünfzig Tage zählen…“.
Dieses Zählen diente eigentlich nur dazu, um das Schawuot-Fest zu feiern: das Fest der Tora-Übergabe hat merkwürdigerweise kein eigenes Datum. Erst wenn die sieben Wochen nach der Omer-Opferung (ab 16. Nisssan nach dem jüdischen Kalender) gezählt wurden, wurde auch das Schawuot-Fest gefeiert.
Man könnte denken, dass dieses Zählen nur Sanhedrin oder Hohepriester erledigen konnten, denn es geht schließlich um einen nationalen Feiertag! Jedoch sollte buchstäblich jeder jüdische Mann für sich jeden Tag zählen, was bei sieben Wochen 49 Tage ergibt. Und da dieses Zählen direkt nach der Opferung vom Omer der Gerste begann, bekam diese Mitzwa den Namen „Sfirat haOmer“ (Omer-Zählen).
49 „Steine“ des Wachstums
Unsere Weisen erklären, dass dieses Zählen für die Generation, die aus Ägypten herausgeführt wurde, bitter nötig war. Das Volk, das in Ägypten unterdrückt und geknechtet wurde, fiel wegen schwerer Arbeit spirituell tief und befand sich bereits in der untersten 49. Stufe der spirituellen Unreinheit. Wären die Juden noch nur eine Minute länger im fremden Land geblieben, wären sie nicht mehr zu retten gewesen. Durch die großen Wunder des Pessachs, wie die Spaltung des Roten Meeres, wurden die Juden ruckartig von G’tt aus dieser katastrophalen geistigen Lage gehoben. Jedoch hätte das nicht gereicht, um die Tora zu empfangen. Dafür musste das jüdische Volk noch gewaltig spirituell wachsen. Und dafür waren diese 49 Tage da, um sich für den Tora-Empfang vorzubereiten.
Unsere Weisen erzählen, dass die damaligen Juden eine so große Vorfreude auf so ein großes und einmaliges Ereignis wie die Tora-Übergabe am Berg Sinai hatten, dass sie deshalb auch mit großer Begeisterung mitgezählt haben. Es wäre logisch anzunehmen, dass die damaligen Juden rückwärts gezählt haben: noch 49 Tage bis zur Tora-Übergabe, noch 48 Tage usw. Jedoch wurde umgekehrt gezählt: heute ist der 1. Tag von Omer, heute ist der 2. Tag usw. Das scheint komisch zu sein, denn wenn wir sehr auf etwas warten, dann zählen wir normalerweise die verbleibenden Tage, Stunden, Minuten und Sekunden. Doch ist die Zählung „Aufwärts“ gerade nach unserer Erklärung absolut verständlich: weil sich die Juden in ihrer Spiritualität steigern sollten, konnten sie jeden gezählten Tag als einen „Baustein“ betrachten: heute habe ich kleines Wachstum geschafft, morgen habe ich noch ein wenig dazu addiert, übermorgen noch ein wenig usw., bis am 50. Tag das geistige „Gebäude“ jedes einzelnen Juden vollkommen wurde.
Auch in der Zeit vom Tempel war dieses Zählen eine wichtige Angelegenheit und wurde mit viel Freude getan. Die Pessach-Opferung und die Darbringung des Omers waren einzigartige Riesenereignisse und haben die teilnehmenden Juden enorm beeindruckt. Das gab auch einen starken Impuls für das Omer-Zählen und diese Begeisterung hielt ganze sieben Wochen bis zum Schawuot-Fest.
Das Lernen zur Inspiration
In unserer Zeit ist es nicht leicht dieses Gebot mit großer Freude und Begeisterung zu erfüllen. Auch wenn wir gute Sedorim durchgeführt haben und davon sehr inspiriert sind, würde diese Inspiration nicht lange halten. Deshalb entstanden im Laufe der Zeit einige Bräuche, um diese am Pessach erhaltene Inspiration bis zum Schawuot-Fest aufrecht zu erhalten.
Ganz fromme Männer lernen in dieser Zeit ein Talmud-Traktat, das 49 Seiten beinhaltet. Es gibt zwei Traktate in Babylonischen Talmud, die 49 Seiten haben: „Schwuot“ und „Sota“. Überwiegend wird jedoch der Traktat „Sota“ gelernt.
Jedoch müssen auch diejenigen, die den Talmud nicht lernen können, im Omer-Zählen gestärkt und spirituell für den Tora-Empfang am Schawuot vorbereitet werden. Deshalb ist es ein sehr verbreiteter Brauch das Mischna-Traktat „Pirkej Awot“ (Sprüche der Väter) zu lernen. Gerade für das geistige Wachstum ist dieses Traktat sehr geeignet. Dieses Traktat beinhaltet ethische Maximen als Aussagen verschiedener berühmten Rabbiner der Ära des Talmuds. Das Lernen dieses Traktats ist so verbreitet, dass diese Mischna in praktisch allen Gebetsbüchern gedruckt ist. Die Mischna „Pirkej Awot“ bestand früher aus fünf Kapiteln. Dann wurde dazu noch ein sechstes Kapitel hinzugefügt, damit je ein Kapitel in den sechs Schabbosim zwischen Pessach und Schawuot gelernt werden können. Sehr oft werden die „Sprüche der Väter“ in den Synagogen am Schabbat zwischen Mincha (Nachmittagsgebet) und Maariv (Abendgebet) mit dem Rabbiner gelernt.
Man könnte denken, dass diese Weisheiten von Rabbinern etwas Altes, etwas nicht mehr Zeitgemäßes ist. Jedoch ist alles, was dort steht, auch heute für uns von großer Relevanz und kann uns nicht nur beim „Omer-Zählen“ sehr helfen. „Man soll jeden Menschen grüßen“, „man darf keinen Menschen unterschätzen und ihn abfällig behandeln“, „man soll von jedem Menschen lernen“ – solche Tipps, wenn sie denn konsequent umgesetzt werden, können jedem viel Erfolg im Leben bringen.
Das 6. Kapitel des Traktats, das immer am Schabbat vor Schawuot gelesen wird, unterscheidet sich von den ersten fünf. In diesem Traktat werden die Lernenden auf den Tora-Empfang vorbereitet. Das Kapitel spricht über die Wichtigkeit der Tora und des Tora-Lernens. Unsere Weisen zeigen zuerst, wie die Person von dem Lernen profitieren kann, und offenbaren uns, welche immense Belohnung man dafür von G’tt bekommt.
Auch für uns kann das ziemlich aktuell sein. Wir können zurzeit wegen der Pandemie nicht viel einkaufen gehen, wir haben keine Restaurant-, Konzert- und Opern-Besuche. Wir verbringen jetzt viel mehr Zeit zu Hause. Statt ständig Panik- und Horrorszenarien über die Corona-Pandemie und die Wirtschaft zu lesen, können wir uns stattdessen mit dem Tora-Lernen beschäftigen. Das schützt uns vor Depressionen und düsteren Gedanken und bringt uns Freude wegen der neuen Erkenntnisse aus tausend Jahre alter jüdischer Weisheit. Desto mehr, dass man heutzutage die Tora mit Hilfe von Internet, WhatsApp und anderen Medien und Sozialen Netzwerken lernen kann. Und wenn die eine oder andere Frage aufgekommen ist, kann man auch im Internet in einer Gruppe wie beispielsweise der Facebook-Gruppe „Frag den Rabbiner“ sofort kompetente Antwort bekommen. Die Hauptsache ist es, bei all diesen Online-Angeboten fürs Tora-Lernen das tägliche „Omer-Zählen“ nicht zu vergessen.
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