Rabbi Menachem Mendel Schneerson: eine außergewöhnliche Lebensleistung
Vor 70 Jahren, am 23. Januar 1950, wurde Rabbi Menachem Mendel Schneerson zum 7. Ljubawitscher Rebbe von Chabad-Ljubawitsch und damit zum spirituellen Führer des Chabad.
Ein junger Jude posiert vor einem Porträt des Ljubawitscher Rebbe in der südisraelischen Stadt Sderot© Menahem KAHANA / AFP
Stellen Sie sich vor: ein bekannter und einflussreicher Rebbe vermählt seine Tochter – und keiner kennt den Bräutigam! Etwas Ähnliches passierte am 27. November 1928 in Warschau, als die Tochter des 6. Ljubawitschen Rebben, Rabbi Josef Jitzchak Chaja Muschka, Menachem Mendel Schneerson heiraten sollte. Natürlich war der Bräutigam nicht ganz unbekannt. Er war immerhin der Sohn des großen Rabbiners und Kabbalisten Rabbi Levi Jitzchak Schneerson, dem Oberrabbiner von Jekaterinaslaw (Ukraine). Aber was zeichnete den zukünftigen Schwiegersohn des Rebben aus? Das wusste niemand und genau das fragte ein angesehener Chassid, der als Zeuge bei der Hochzeit fungieren sollte, den Rebben. Rabbi Josef Jitzhak sagte, dass der 26-jährige Menachem Mendel schon den ganzen Talmud und ganzen Schulchan Aruch (halachischen Kodex) durchgelernt hat. Diese Antwort hat den Chassid wenig beeindruckt, denn in jener Zeit gab es nicht wenige, die dieses Kunststück schafften. Dann sagte der Rebbe dem Chassid Folgendes: um vier Uhr morgens schläft mein zukünftiger Schwiegersohn nie: entweder war er noch nicht schlafen gegangen, oder stand schon auf.
Und das ist wohl die beste Beschreibung eines Menschen, der das Judentum revolutioniert hat, Tausenden geholfen hat und zum weltweit anerkannten geistigen Oberhaupt der Generation wurde.
Der Anfang und die Rettung seines Schwiegervaters vor den Kommunisten
Rabbi Menachem Mendel Schneerson wurde 1902 in Nikolaew (Ukraine) geboren. Er lernte die Tora hauptsächlich mit seinem Vater und seinem Großvater Rabbi Meir Schlomo Janowskij, der ebenfalls ein sehr bekannter und angesehener Rabbiner war.
Als er 20 Jahre alt war, besuchte er den 6. Ljubawitscher Rebben in Rostow am Don, was ein überaus schicksalhaftes Treffen war. Rabbi Josef Jitzchak war von jungem Menachem Mendel so begeistert, dass er ihm mehrere wichtige Aufgaben anvertraute. In der damaligen Sowjetunion, wo Religionen mit allen Mitteln bekämpft wurden, konnte das durchaus gefährlich sein. Es kam jedoch so, dass gerade Menachem Mendel seinen zukünftigen Schwiegervater vor dem NKWD rettete. Als der damalige Rebbe 1927 vom NKWD für seine jüdischen Aktivitäten verhaftet und zum Tode verurteilt wurde, setzte Menachem Mendel alles in Gang, um Druck auf die sowjetische Regierung auszuüben. Dieser Druck sowohl aus dem Inland als auch aus dem Ausland war so groß, dass die sowjetische Regierung auf wunderbare Weise nachgegeben hat. Die Todesstrafe für den Rebben wurde zuerst durch die Verbannung nach Kostroma ersetzt, was erst einmal eine große Erleichterung bedeutete.
Wenige Wochen später wurde entschieden, dass Rabbi Josef Jitzchak die Sowjetunion verlassen soll. Dabei durfte er nur ein paar engste Verwandte mitnehmen. Als der Rebbe auch Menachem Mendel in die Ausreiseanfrage eintragen wollte, wurde der zuständige Beamte kritisch: wer denn das überhaupt sei, wollte er wissen. Der Rebbe antwortete, dass es sich um seinen zukünftigen Schwiegersohn handele. Der Beamte war skeptisch: „Dann finden Sie sich eben einen anderen Schwiegersohn!“, murmelte er. Darauf sagte der Rebbe mit fester Stimme: „So einen Schwiegersohn werde ich nirgendwo finden“. Der Beamte war beeindruckt und Menachem Mendel reiste mit seinem Rebben aus.
Nach der schon erwähnten Hochzeit in Warschau reiste das frisch vermählte Paar nach Berlin, wo Menachem Mendel sein Studium als Gasthörer an der Humboldt-Universität (damals Kaiser-Wilhelms-Universität) fortsetzte. Dieses Studium war schon eine seltsame Angelegenheit, die wohl bis heute viele wundert. Auch heutzutage ist das Studieren an einer Uni für einen chassidischen Mann schwer vorstellbar, umso mehr damals und schon ganz zu schweigen für einen Schwiegersohn eines chassidischen Rebben!
Das Leben von Rabbi Schneerson in Berlin
In Berlin lebte der Student Schneerson mit seiner Frau von 1928 bis März 1933 in mehreren Mietwohnungen zur Untermiete. In der Straße Hansa-Ufer 7, wo das junge Paar in den letzten Monaten vor der Abreise nach Paris wohnte, gibt es heute eine Gedenktafel. Rabbi Schneerson betete normalerweise im Radomsker Stibl in der Grenadierstraße, weil dort vermutlich sein Gebets-Nusach (Nusach Ari) gebetet wurde. In der Nähe befand sich das Hildesheimer Rabbiner-Seminar, wo Rabbi Schneerso als Gast lernte. Interessanterweise studierte an der gleichen Universität damals auch Rabbi Joseph Ber Soloveitchik (1903-1993), der später zum geistigen Anführer des amerikanischen orthodoxen Judentums und eine prägende Persönlichkeit der „Modern Orthodox“-Bewegung wurde. Josef Ber und Menachem Mendel waren in Berlin gut miteinander bekannt. Viele Jahre später, schon in Amerika, erzählte Rabbi Soloveitchik, dass Menachem Mendel schon damals eine sehr beeindruckende Persönlichkeit war. Als erstes nannte Rabbi Soloveitchik seine Ernsthaftigkeit und Konzentration auf das Tora-Lernen. Rabbi Schneerson hatte immer Sforim (religiöse Bücher) dabei und lernte die Tora immer, wenn es die Möglichkeit dazu gab. Rabbi Soloveitchik erwähnt eine interessante Geschichte dazu: Menachem Mendel versuchte immer hinten im Hörsaal zu sitzen und nachdem ihm bei der Vorlesung alles klar geworden war, nahm er seinen Sefer und vertiefte sich in die Tora. Bei einer Vorlesung merkte der Professor das und rief: „Schneerson, wiederholen Sie bitte das, was ich gesagt habe“. Menachem Mendel hatte alles fast wortwörtlich wiedergegeben. Danach hatte dieser Professor keine Einwände mehr.
Außerdem erinnerte sich Rabbi Soloveitchik, dass Rebbe Schneerson einen Schlüssel der Mikwe (rituelles Tauchbad) ausgeliehen hat und jeden Morgen dorthin gegangen ist. Damals wie heute haben die Männer die Mikwe entweder vor Schabbat oder nur vor den Feiertagen benutzt. Die Chassidim benutzen die Mikwe aber jeden Tag. Trotzdem war die Hingabe, mit der ein junger Mann in der großen Stadt diesen Brauch befolgt hat, nicht nur für Rabbi Soloveitchik bemerkenswert.
Jedoch hat Menachem Mendel in Berlin nicht nur studiert, die Tora gelernt und die Mikwe besucht. Als rechte Hand des Rebben war er in alle seine Aktivitäten eingebunden. Schon damals nannte ihn sein Schwiegervater „mein Bildungsminister“. Deshalb erhielt Rabbi Schneerson auch in Berlin an eine bestimmte Adresse Säcke voll mit Briefen aus Warschau und Riga (wo damals Rabbi Josef Jitzchak gelebt hat). Rabbi Menachem Mendel sichtete alle diese Briefe und beantwortete sie. Jedoch blieb seine Tätigkeit für seinen Schwiegervater für viele Jahre unsichtbar. Seine wahre Größe wurde erst Jahre später, in Amerika erkannt.
Flucht aus Frankreich und als Ingenieur in New York
Nach Hitlers Machtergreifung hat Rabbi Schneerson schnell verstanden, wozu dessen Machtergreifung führen wird und zog mit seiner Frau nach Paris, wo er weiterhin an der Sorbonne-Universität Ingenieur-Fächer studierte. Als die Wehrmacht im Jahre 1940 auch Frankreich eroberte, floh Rabbi Schneerson mit seiner Frau über Vichy und Nizza mit dem letzten Schiff nach New York, wo bereits sein Schwiegervater lebte.
Nach seiner Ankunft in Amerika in 1941 hatte Rabbi Schneerson sogar eine Weile als Ingenieur beim Brooklyn Navy Yard in New York gearbeitet, was nicht gerade typisch für den Schwiegersohn eines chassidischen Rebben ist. Jedoch wird er immer mehr von seinem Rebben und Schwiegervater in die „jüdische Arbeit“ involviert. Bereits im Jahre 1942 wird er zum Direktor von drei sehr wichtigen Chabad-Institutionen: „Machneh Isroel“ (Soziales), „Merkos L'Inyonei Chinuch“ (Erziehung und Bildung) und „Kehot Publication Society“ (Verlag) ernannt. Einige Monate später wird der Rabbi zum Hauptredakteur von „Otzar Chassidim Ljubawitsch“ und beginnt Bücher und Monographien mit eigenen Kommentaren herauszugeben. Und da die meisten alten Büchern in einem ziemlich schlechten Zustand waren, war dies eine herausragende Leistung von Rabbi Schneerson.
Solche Großtaten waren vor der chassidischen Gemeinde nicht mehr zu verbergen und immer mehr Menschen begannen zu verstehen, welch ein Genie sich in dem ruhigen und bescheidenden Schwiegersohn des 6. Ljubawitschen Rebben verbirgt. Zum Zeitpunkt des Ablebens von Rabbi Josef Jitzchak im Jahre 1950 war für viele Chassidim Rabbi Menachem Mendel schon eine feste Größe.
Übernahme der Führung
Nach dem Ableben von Rabbi Josef Jitzchak am 10. Schwat 5710 (29. Januar 1950) kam sofort die Frage, wer der nächste Ljubawitscher Rebbe sein wird. Theoretisch gab es als Kandidaten für Nachfolge beide Schwiegersöhne des Rebben: Rabbi Shmaryahu Gurary (der Ehemann der älteren Tochter des Rebben Chana) und Rabbi Menachem Mendel Schneerson. Jedoch gab es für viele nur einen möglichen Kandidaten, und zwar Rabbi Menachem Mendel. Obwohl Rabbi Gurary ziemlich früh auf die Führung von Chabad verzichtete, lehnte es überraschenderweise auch Rabbi Menachem Mendel selbst ab, der nächste Rebbe zu werden. Er führte kommissarisch alle Geschäfte von Chabad, beantwortet Briefe, leitet Farbrengen (chassidische Zusammenkünfte), womit ihn sein Schwiegervater vor Jahren beauftragt hatte, doch verweigerte die Führung. Seine Begründung war einfach: er habe von seinem Rebben (Rabbi Josef Jitzchak) keine Anweisungen bekommen. So dauerte es ein Jahr. Vor dem Begehen des ersten Todestages (Jorzeit) des früheren Rebben gingen mehrere alte Chassidim zum Grab des Rebben beteten, damit Rabbi Menachem Mendel endlich die erhoffte Anweisung von ihm erhalten möge.
Am Tag der Jorzeit fand ein Farbrengen zum Andenken an Rabbi Josef Jitzchak statt. Wie gewohnt leitete Rabbi Menachem Mendel das Farbrengen. Er weinte viel und sprach über die unglaubliche Selbstopferung (Meserut Nefesch) des früheren Rebben für das Wohl des jüdischen Volkes sowohl in Russland als auch in Amerika. Dann stand ein Chassid auf und sagte: wir wollen Maamar hören! Maamar ist eine tiefe chassidische Betrachtung, die nur von einem Rebben gesagt werden kann. Der Rabbi zögerte ein wenig und begann sein erstes Maamar zu sagen. Damit wurde allen klar, dass Rabbi Menachem Mendel Schneerson zum 7. Ljubawitschen Rebben geworden ist.
Lebensleistung
Wenn man betrachtet, was der Rebbe in den Jahren von 1951 bis 1994 geleistet hat, würde man nicht glauben, dass ein Mensch so viel erreichen kann.
Von Anfang an war das Ziel des Rebben jeden Juden zu erreichen, egal ob gläubig oder nicht, orthodox, liberal oder säkular. Dafür ging Rabbi Schneerson oft neue und kreative Wege. Er war der erste, der Rundfunk und Medien für seine Auftritte benutzte. Rebbe sandte seine Repräsentanten (Schluchim) in alle Ecken der Welt, um dort Juden zu helfen und jüdisches Leben zu etablieren. Es wird gewitzelt, dass Chabad überall ist, wo es Coca-Cola gibt, und sogar dort, wo es sie nicht gibt.
Der Rebbe traf sich mit vielen Menschen, sowohl einfachen Juden als auch großen Politikern, die seinen Rat suchten und schätzten. Auch Nichtjuden widmete der Rebbe Zeit. So bestand er darauf, dass man die Sieben Noachidischen Gesetze unter Nichtjuden bekannt macht und fürs Einhalten dieser Gesetze begeistert.
Der Rebbe hat sich nicht nur um die religiösen Belange der bärtigen Männer gekümmert. Er unterstütze auch das religiöse Leben von Frauen und Kindern. Rebbe betonte mehrmals, dass auch Frauen die Tora lernen dürfen und sollen, was ebenfalls revolutionär war. Legendär sind bis heute die Kinder-Paraden am Lag BaOmer-Fest, die heutzutage in der ganzen Welt durchgeführt werden und jedes Jahr die Kinder aufs Neue für jüdische Werte begeistern.
Legendär waren auch seine Dollar-Verteilaktionen. Jeden Sonntag verteilte Rebbe Dollars an hunderte Menschen, um sie zur Wohltätigkeit zu animieren. Manchmal dauerte diese Verteilung acht Stunden lang! Eine Frau fragte den Rebbe einmal, wie es möglich ist, dass er davon nicht müde wird? Rebbe antwortete, dass man nie müde wird, wenn man Diamanten sortiert. Und alle Juden sind Diamanten.
Neben zahlreichen jüdischen Schulen, Kindergärten, Jeshiwot und anderen Einrichtungen, die mit seiner Initiative auf der ganzen Welt gebaut wurden und weiter gebaut werden, hinterließ der Rebbe unglaublich viele von ihm geschriebene Bücher. Allein die Auflistung aller seinen Werken besteht aus mehreren Seiten.
Zahlreich sind auch die Geschichten von Menschen, die Dank dem Segen des Rebben Kinder bekommen haben, von unheilbaren Krankheiten geheilt wurden, von großen Unglücken gerettet wurden.
Leider hatten der Rebbe und seine Rebbetzin keine Kinder. Aber nicht nur deshalb gibt es keinen Nachfolger. Es gibt einfach keinen Menschen, der so einen Menschen ersetzen kann, seine Fußstapfen sind einfach zu groß. Jedoch ist sein geistiges Erbe so groß, dass es bis heute wirkt. Zahlreiche Bücher und unzählige Chabad-Zentren auf der ganzen Welt erreichen die Juden, bringen ihnen jüdische Tradition und beleuchten diese in der mit Krisen und Problemen vollen Welt.
Anerkennung
Die herausragende Tätigkeit des Rebben fand mit der Zeit immer mehr Beachtung und Anerkennung. Der Rabbi Menachem Mendel wurde immer wieder ins Weiße Haus von verschiedenen amerikanischen Präsidenten eingeladen, jedoch lehnte er diese Einladungen immer ab. Er habe keine Zeit, denn er soll sich um die Juden in der ganzen Welt kümmern, sagte er. Und das war keine Floskel: kaum zu glauben, aber seitdem der Rebbe die Führung über Chabad im Jahre 1951 übernahm, nahm er keinen einzigen Urlaubstag! Der einzige Ort, zu dem er ab und zu gefahren ist, war der Ohel – die Grabstätte seines Schwiegervaters und Vorgängers in Queens. Kein Wunder, dass der Rebbe für sein Lebenswerk zwei hohe Auszeichnungen erhielt. So legte der US-Kongress im Jahre 1983 aus Anlass des 80. Geburtstages des Rabbi Schneerson seinen Geburtstag als „Nationalen Tag der Erziehung“ (Education Day) fest. Bemerkenswert dabei ist, dass dieser Tag der Erziehung am jüdischen Geburtstag des Rebben am 11. Nissan gefeiert wird und deshalb jedes Jahr auf verschiede Daten des gregorianischen Kalenders fällt. Außerdem verlieh ihm der US-Kongress die National Scroll of Honor.
In nur wenigen Monaten nach seinem Ableben wurde der Rebbe im Jahre 1994 für sein Lebenswerk und für seine „außergewöhnlichen und anhaltenden Beiträge zur weltweiten Erziehung, Moral und Taten der Güte“ postum mit der höchsten zivilen Auszeichnung des US-amerikanischen Kongresses, der Congressional Gold Medal, bedacht. Das war eine jener seltenen Ausnahmen der Einigkeit, als die Entscheidung sowohl von Demokraten als auch von Republikanern einstimmig mitgetragen wurde.
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