Der Inspirierende

Ein Nachruf auf Lord Jonathan Sacks, den kürzlich verstorbenen Oberrabbiner von Großbritannien

Von Richard Blaettel

Der ehemalige britische Oberrabbiner ist am 7. November 2020 im Alter von 72 Jahren in London gestorben. Lord Rabbi Jonathan Sacks galt weltweit als anerkannte religiöse Führungspersönlichkeit und zahlreiche Auszeichnungen wurden ihm verliehen. Seine innerjüdischen und interreligiösen Verdienste waren immens. Das religiös fundierte politische Denken dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit soll an dieser Stelle in den großen Linien gewürdigt werden.

Rabbi Jonathan Sacks’ Breitenwirkung in der jüdischen und nichtjüdischen Welt war enorm, weshalb der amtierende Oberrabbiner Großbritanniens, Ephraim Mirvis, in seinem Nachruf Rabbi Sacks als «Tora-Koryphäe und intellektuellen Riesen» charakterisierte. So prägte er als Intellektueller wie auch als Rabbiner, Historiker, Philosoph und Judaist Debatten zu gesellschaftspolitischen Brennpunkten der Gegenwart. Dafür standen exemplarisch die «Reith Lectures», welche beim Radio BBC eine ausgeprägte philosophische Tradition genießen und mit Bertrand Russell 1948 – dem Geburtsjahr von Rabbi Sacks – ihren Anfang nahmen.

 

Philosophische Wurzeln in der Moralphilosophie

In der Verschränkung zwischen akademischen und rabbinischen Studien gründete Sacks’ humanistisches Denken, welches er organisch mit biblischen Mustern synthetisierte. Leitmotivisch wurde die lebenslange Suche nach den Parametern der zivilisierten Gesellschaft sichtbar und verweisen auf seine philosophischen Wurzeln: Den Schwerpunkt bildete die Moralphilosophie, welche er unter anderem in Cambridge bei Bertrand Williams studierte. Fünf Jahre nach der Ordination zum Rabbiner krönte Sacks 1981 die akademische Laufbahn mit einer Doktorarbeit zum Thema kollektiver Verantwortung. In einem Interview mit Hava Tirosh-Samuelson legte Sacks indes auch dar, dass in dieser Phase die britische Philosophie für ihn an Anziehungskraft verloren hatte. Diese bewegte sich zunehmend in Richtung Sprachphilosophie und Linguistik, und entfernte sich dadurch von den wichtigen Lebensfragen, die für Rabbi Sacks immer das Zentrum der Philosophie darstellten. Im erwähnten Jahre seiner Promotion erschien indes das wichtige Werk After Virtue des schottischen Philosophen Alasdair Macintyre, der den aristotelisch geprägten Tugendbegriff reaktivierte. Mithin diagnostizierte er gleichzeitig die moralische Krise der modernen Gesellschaft. Diese besteht insbesondere darin, dass moralisch gesättigte Begriffe ihre objektivierende Verbindlichkeit von Traditionen und Gewohnheiten eingebüßt und sich zu subjektiv gefärbten Gefühlsausdrücken verflüchtigt haben. Wörter wie «gut» und «schlecht» dienen nur noch dem kommunikativen Austausch zu Geschmack und Befindlichkeit.

Macintyre wertet im Kontext dieser Unverbindlichkeit die Bedeutung des Erzählens auf, um die Sphäre des Handelns mit Identität zu verknüpfen, die sich an geteilten Geschichten orientiert: «I can only answer the question ‘What am I to do?’ if I can answer the prior question ‘Of what story or stories do I find myself a part?’». Darin sieht Macintyre das Potenzial des gesellschaftlichen Kitts, als Gegenmittel zur Atomisierung einer zunehmend individualistischen Gesellschaft, in welcher das bindende und sinnstiftende Element erodiert wird. Und genau dieser gesellschaftliche Befund befeuerte Rabbi Sacks, um seine Antwort zwischen Moralphilosophie und Demokratietheorie in der Rückbesinnung auf das Judentum zu finden. Entsprechend argumentierte Rabbi Sacks in seinen 1990 gehaltenen Reith Lectures, die den Übertitel The Persistence of Faith innehatten, dass genau der Religion die kittende Aufgabe zukomme, die Gesellschaft im Sinne gelebter Solidarität zu einer lebendigen Wertegemeinschaft zu formen.

Von hier aus kann der große Bogen bis zu seiner letzten Publikation im September dieses Jahres gespannt werden: Mit dem Titel Morality: Restoring the Common Good in Divided Times knüpft Sacks nahtlos an jenem kategorischen Imperativ an, der durch göttliche Moralität verbürgt, sich aber letztendlich in der Modalität wie das gesellschaftliche Leben organisiert wird, zu bewähren hat. Was sich bei dem Spannungsbogen jeweils verschoben hat, sind die einschneidenden historischen Ereignisse, auf welche Sacks dezidiert reagiert: So bildete 1990 Francis Fukuyamas berühmte These vom Ende der Geschichte den Hintergrund, um sich kritisch mit der postideologischen Befindlichkeit nach dem Zusammenbruch kommunistischer Ideologien auseinanderzusetzen. Die Postmoderne feierte einerseits den Siegeszug der konsumistisch geprägten liberalen Demokratie, andererseits hinterließ sie eine gewisse Leere und Orientierungslosigkeit im sozialen Gerippe zwischen Markt und Staat. So ist es nicht erstaunlich, dass Rabbi Sacks im Jahre 2015 Not in God´s Name publizierte, um jene unheilige Allianz zwischen Religion und Politik zu analysieren, die sich über Gewalt und Terror artikuliert. Sacks deutet dies als dialektischen Irrläufer eines fundamentalen Säkularisierungsprozesses, in dessen Sog Wissen, Macht, Kultur und letztendlich die Moral geriet. Dabei brach religiöse Kultur ekliptisch weg oder zog sich in die Privatsphäre zurück, was ein Wertevakuum auslöste. Sacks verortet die Aufgabe des 21. Jahrhunderts darin, sich auf Religion im verbindenden und bindenden Wert der Religiosität zu besinnen – nicht als Antithese zur säkularen Kultur verstanden, sondern als entscheidendes Mittel, um die Gesellschaft als soziales Gefüge sinngebend zu gestalten. Folgendes argumentative Muster aus letztgenannter Schrift steht leitmotivisch für die genannte Suche nach den Parametern einer zivilen und zivilisierten Gesellschaft, was mit seinem Menschenbild koinzidiert.

 

Religionen stiften Sinn

Folgende längere Passage soll dies verdeutlichen:

«What the secularists forgot is that Homo Sapiens is the meaning-seeking animal. If there is one thing the great institutions of the modern world do not do, it is to provide meaning. Science tells us how but not why. Technology gives us power but cannot guide us as to how to use that power. The market gives us choices but leaves us uninstructed as to how to make those choices. The liberal democratic state gives us freedom to live as we choose but on principle refuses to guide us as to how to choose. Science, technology, the free market and the liberal democratic state have enabled us to reach unprecedented achievements in knowledge, freedom, life expectancy and affluence. They are among the greatest achievements of human civilisation and are to be defended and cherished. But they do not and cannot answer the three questions every reflective individual will ask at some time in his or her life: Who am I? Why am I here? How then shall I live? These are questions to which the answer is prescriptive not descriptive, substantive not procedural. The result is that the twenty-first century has left us with a maximum of choice and a minimum of meaning.»

Denn Bedeutung konstituiert sich nicht auf der Ebene von Interessen, sondern auf jener der Identität. Und diese bildet sich für Sacks nicht isoliert aus, sondern stets in sozialen Kontexten der Familie, Gruppe, Gemeinschaft und im politisch virulenten Rahmen: der Gesellschaft. Hier schließt sich auch der Kreis in Hinblick auf die philosophischen Wurzeln und der sinnstiftenden Bedeutung von Erzählungen, wobei Rabbi Sacks auf den Fundus biblischen Erzählgutes zurückgreift.

 

Der Bau des Stiftszelts als Vision einer idealen Gesellschaft

Sacks störte sich daran, dass die meisten politischen Theorien sich auf den idealen Staat bezogen oder auf das Verhältnis zwischen Staat und Individuum. Seine Bibelexegese entfaltete eine politische Lesart, welche die Bildung der Gesellschaft ins Zentrum rückt und darin eine genuin schöpferische Dimension verortet. Die entscheidende Weichenstellung zwischen politischer Theorie und schöpferischer Gesellschaft unternahm Sacks in The Politics of Hope (1997), indem er die unterschiedlichen Implikationen zwischen dem «Gesellschaftsvertrag» und dem «Bund» beleuchtete und dies in den Zusammenhang zwischen griechischer und jüdischer Kultur brachte, wobei verschiedene Menschenbilder die entsprechenden Prozesse der Vergesellschaftung begründen. Während Aristoteles den Menschen als politisches Wesen charakterisiert, bestimmt Maimonides den Menschen als soziales Wesen. Sacks spielte die beiden Auffassungen nicht gegen einander aus, er versuchte indes das maimonidische Modell für die Herausforderungen der Gegenwart fruchtbar zu machen:

«Both are true, but they describe different aspects of our collective life and give raise to different kinds of institution. Man as a political animal creates the institutions of political society: states, governments and political systems. Man as a social animal creates the institutions of civil society: families, friendships, voluntary associations, charities, congregations and moral traditions. There is a significant contrast between the two and the forms of life to which they give rise.»

Die entsprechende Lebensform der zivilen Gesellschaft arbeitet Rabbi Sacks in The Home We Build Together: Recreating Society (2007) weiter aus, indem er die Eigenheiten des Buches Exodus freilegt: Dass dieses Buch mit dem großen Thema der Freiheit bzw. dem Auszug aus Ägypten und der damit verbunden Befreiung aus der Sklaverei in Verbindung gebracht wird, liegt auf der Hand. Schwieriger wird es mit der Einordnung des letzten Teils, in dem minutiös die Bauweise des Stiftszelts mit den Materialien exponiert wird. Dieses Stiftszelt gilt als Provisorium und Vorläufer des Tempels in Jerusalem, das als Heiligtum das rituelle Zentrum auf der Wüstenwanderung darstellt. In Anlehnung an rabbinische Quellen verweist Sacks auf die erstaunlichen sprachlichen Analogien zwischen der Schöpfungsgeschichte und dem Bau des Stiftszelts. Die darin angelegte schöpferische Dimension liegt für Sacks in der Genese der Freiheit, die mit der wunderbaren Befreiung aus der Gewalt Pharaos einsetzt und sich sechs Wochen später zur Offenbarung am Sinai steigert: Mit dem Empfang der Thora geht das israelitische Volk einen Bund mit Gott ein und wurde mithin Zeuge verschiedener äußerlicher Wunder. Der entscheidende Dreh liegt indes für Sacks darin, dass die Transformation zu einer Nation erst mit der Verinnerlichung der Freiheit entsteht, indem die einzelnen Akteure gemeinsam arbeiten und das Kooperationsprinzip (er)leben:

«Freedom cannot be conferred by an outside force, not even by God himself. It can be achieved only by collective, collaborative effort on the part of the people themselves. Hence the construction of the Tabernacle. A people is made by making. A nation is built by building. What they built was a ´home´ for the Divine presence. The Tabernacle, placed at the centre of the camp with the tribes arrayed around it, symbolized the public square, the common good, the voice that had summoned them to collective freedom. It was a visible emblem of community.»

Zudem lebt das Narrativ zum Stiftszelt von der Diversität, indem jeder individuell seinen Beitrag zu einer kollektiven Sinnstiftung beiträgt. In monetärer Hinsicht beinhaltete dies für alle den kleinen Betrag eines halben Schekels, was jedem Einzelnen den gleichen Wert verleiht – sowie jeder Einzelne als Ebenbild Gottes eine unveräußerliche Würde besitzt, welche Sacks programmatisch und titelgebend als The Dignity of Difference (2002) auffasste. In dieser Schrift verteidigte Sacks den religiösen Pluralismus als Antwort auf den Terrorangriff auf das World Trade Center. Dies bedeutet für Sacks, dass die demokratischen Grundwerte von Freiheit und Gleichheit durch politische und soziale Tugenden gleichermassen kultiviert werden müssen, wobei die Religion orientierend auf ein Zentrum sich vergegenwärtigender Moral im Sinne radikaler Verantwortung verweisen kann. Darin bestünde die Aufgabe des 21. Jahrhunderts, dass Religion gemäßigt und mäßigend in diesem gesellschaftlichen Prozess inspirierend Einfluss nehmen könnte. Der substanzielle Beitrag von Sacks liegt demnach darin, die Affinität zwischen dem verlebendigenden Geist religiös fundierter Sozialität und Tugenden einer liberalen Demokratietradition herzustellen.

 

Abraham und seine Lektion in Leadership

Rabbi Sacks für seinen religiösen Beitrag zur sozialen Theorie zur würdigen, ist das Eine. Dabei soll selbstverständlich nicht unerwähnt bleiben, dass ein gewichtiger Teil seiner Schriften inspirierende Kommentare zu den wöchentlichen Sabbatlesungen und Festlichkeiten bilden. In dialogischer Auseinandersetzung verkörpern Sacks Schriften, jene Verantwortung, die der Bund mit sich bringt, den Einzelnen anspricht und eine Antwort erwartet: In Covenant & Conversation fühlt und hört der Leser den Anspruch, angesprochen zu werden. Abschließend gilt das Augenmerk den Lessons in Leadership. Es sind Lektionen, in denen Sacks in einem humanistischen Sinne spezifische Führungsqualitäten der wöchentlichen Bibelabschnitten exponiert. Aus guten Gründen sei hier exemplarisch die Lektion zu Abraham erwähnt, die Sacks mit dem Titel The Courage Not to Conform als elementare und schöpferische Form der Zivilcourage im eigentlichsten Sinne des Wortes versteht. Als Mut, seinen Geburtsort zu verlassen, um eine zivile Gesellschaft zu erschaffen:

«I want you, says God to Abraham, to be different. Not for the sake of being different, but for the sake of starting something new: a religion that will not worship power and the symbols of power – for that is what idols really were and are. I want you, says God, to ´teach your children and your household afterwards to follow the way of the Lord by doing what is right and just.»

Sacks pointiert die zivilen Parameter von Recht und Gerechtigkeit als jene revolutionäre Leistung Abrahams, bei welcher Einfluss und nicht Macht im Zentrum steht. Es handelt sich mithin um eine Einflussnahme, welche die große universalistische Klammer zwischen Judentum, Christentum und Islam bildet, dies im Spannungsfeld zu den partikulären Eigenheiten der einzelnen Religionen. Darin lag für Jonathan Sacks auch das Fundament für den interreligiösen Dialog.

Rabbi Sacks hatte einige Führungspositionen inne, insbesondere als Oberrabbiner des britischen Commonwealth in den Jahren von 1991 bis 2013, und wusste sehr wohl zwischen Führung und Autorität zu unterscheiden. Persönlich interessierte ihn insbesondere die Psychologie und Spiritualität der Führungspersönlichkeit. Im Vorwort erzählt er eine beeindruckende Anekdote, die nochmals in seine Studentenzeit zurückverweist: 1968 reiste Sacks für zwei Monate in die USA, mit der Absicht, führende Rabbiner und Theologen zu treffen. Zwei Begegnungen haben sein Leben entscheidend verändert: Rabbi Joseph Soloveitchik und der Lubavitscher Rebbe Menachem Mendel Schneerson. Die zweite Begegnung wird für Sacks zu einer mystischen Erfahrung in Sinne des kabbalistischen Zimzums: So wie Gott durch Selbstkontraktion bzw. -beschränkung Raum schuf und Welt ermöglichte, so schien Schneerson für sein Gegenüber Sacks unendlich Raum geschafft zu haben und übte selber größte Zurückhaltung. Das Gespräch gipfelte in folgender Pointe:

«´You do not find yourself in a situation`, he said. ´You put yourself in one. And if you put yourself in one situation you can put yourself in another.´»

Diese simplen Worte enthielten alles, um Verantwortung radikal zu verstehen. Rabbi Jonathan Sacks hat sie für sich verstanden – und wurde einer der bedeutendsten Führungspersönlichkeiten unserer Gegenwart, der einen biblischen Humanismus kultivierte. Er hinterlässt eine große Lücke.

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