Die gefundene Seele
Das Geheimnis der Erziehung und elterliche Pflichten in der Übersicht der Haftarot des Monats Juni
Jüdische Kinder im Unterricht© MENAHEM KAHANA , AFP
Nach den ereignisvollen Monaten April und Mai gibt es in diesem Juni aus jüdischer Sicht weder Feiertage noch Gedenktage. Deshalb werden an vier Schabbosim des Monats nur die regulären Haftarot zu den entsprechenden Wochenabschnitten gelesen. Dafür sind diese Prophetenabschnitte aber viel spannender als die in den vorigen Monaten. Während im Mai noch viele abstrakte Prophezeiungen zu lesen waren, gibt es im Juni konkretere, und extrem lehrreiche Geschichten.
Das Kind schaut ganz genau zu
Die Haftara zum Wochenabschnitt „Naso“, der am ersten Schabbat des Monats gelesen wird, wird aus dem Buch Richter 13:2-25 genommen. Es wird über die Geburt vom Schofet (Richter) Schimschon berichtet. Die Geschichte von Schimschon ist so berühmt und aktionsreich, dass sie schon mehrmals verfilmt wurde, zum letzten Mal 2018 als Actiondrama „Samson“ vom Regisseur Bruce Macdonald.
Auch wenn der Kino-Held Samson nicht ganz dem jüdischen Richter Schimschon entspricht, hört sich die Geschichte auch ohne Kommentare sehr spannend an. Und schon die Geschichte seiner Geburt, das Hauptthema der Haftara, hat es in sich.
Ein Engel kommt zur Frau von Manoach und verkündet, dass sie trotz ihrer Unfruchtbarkeit einen Sohn gebären wird und dieser ein Nationalheld sein wird. Die Bedingung jedoch ist, dass dieser Sohn ein „Nasir“ sein sollte, was die Verbindung zum Wochenabschnitt darstellt. In Parascha „Naso“ werden die Gesetze von Nasir genau definiert: wenn ein Mensch ein besonderes Gelübde auf sich nimmt, darf er keinen Wein trinken, sich nicht durch die Berührung mit einer Leiche rituell verunreinigen und er soll seine Haare wachsen lassen, ohne sie sich schneiden zu lassen.
Diese Regeln soll, laut dem Engel, auch die Frau von Manoach befolgen: „Und nun, nimm dich in Acht, trinke weder Wein noch sonst Berauschendes, und iss nichts Unreines.“ Auch über die Zukunft ihres Kindes wird vorausgesagt: „…und er wird beginnen Israel zu retten aus der Hand der Philister“.
Ihr Mann Manoach, der beim ersten Besuch des Engels nicht dabei war, bittet G’tt den Boten noch einmal zu senden: es ist sehr ungewöhnlich, dass ein Mensch schon von Geburt an ein Nasir sein soll. G’tt willigt ein, der Engel kommt noch einmal und belehrt Manoach. Eigentlich wäre es genug, wenn der Bote einfach bestätigt hätte, dass seine Frau alles richtig verstanden hat – was auch passiert („Der Engel des Herrn sprach zu Manoah: Vor allem, was ich dem Weibe gesagt, soll sie sich hüten“). Jedoch wiederholt der G’ttliche Bote überraschenderweise die ganze Information für Manoach noch einmal: „Von allem, was vom Weinstock kommt, soll sie nicht genießen, Wein und Berauschendes nicht trinken, und nichts Unreines essen. Alles, was ich ihr geboten, soll sie beachten“.
Merkwürdigerweise sagt der Engel dem Manoach nichts über die besondere Rolle seines Sohnes in Zukunft! Unsere Weisen sehen ebenfalls diese Unstimmigkeiten und geben darauf unterschiedliche Antworten. Eine davon kann für uns sehr nützlich sein. Eigentlich würde es tatsächlich reichen, die erste Information einfach nur zu bestätigen. Die Wiederholung der Information über das Einhalten von Nasir-Gesetzen für die Mutter sollte die Eltern des zukünftiges Helden Folgendes lehren: wenn ihr wollt, dass das Kind zum Nasir wird, sollt ihr die Nasir-Gesetze selbst einhalten. Das Kind macht nur das, was ihr ihm vormacht. Egal was und wie ihr versucht dem Kind die wichtigen Ideen beizubringen – nur das, was ihr tatsächlich selbst macht, wird das Kind verinnerlichen und selbst praktizieren. Und das ist wohl das wichtigste Prinzip im Chinuch (Erziehung): das Kind schaut auf die Eltern. Nur wenn die Eltern ihr Judentum begeistert und kompromisslos ausleben, wird auch ihr Kind mit großer Wahrscheinlichkeit ein religiöser Mensch werden. Wenn aber Eltern von G’tt und den Geboten nur erzählen, und selber nichts davon praktizieren, dann wendet sich auch das Kind anderen Dingen zu.
Sich vor „schmutzigen Kleidern“ schützen
Die Haftara zum Wochenabschnitt „Beahalotcha“ ist die einzige prophetische Vision in diesem Monat. Dafür wurde ein Abschnitt aus dem Propheten Zechariah ausgewählt. Die Verbindung zum Wochenabschnitt besteht in der goldenen Menora: am Anfang des Wochenabschnittes gibt es ein Gebot für den Hohepriester täglich die Menora im Tempel anzuzünden, und auch in Zechariahs Vision wird dem Hohepriester Jehoschua die goldene Menora im Traum gezeigt.
Diese Haftara ist ziemlich interessant „zusammengestellt“ und besteht aus drei Abschnitten: Vier Verse aus dem zweiten Kapitel, das ganze dritte Kapitel und die Hälfte des vierten Kapitels. Zechariah sieht in seiner Vision den Traum über den Kohen Gadol (Hohepriester) Jehoschua, der unter den Engeln weilt und vom Satan angeklagt wird: „Und er ließ mich sehen den Hohepriester Jehoschua, stehend vor dem Engel des Ewigen; und der Satan stand zu seiner Rechten, um ihn anzuklagen“. Wenn man diese ganze Vision liest, versteht man sofort, dass hier große Geheimnisse versteckt sind. Eine solche merkwürdige Passage spricht von den Kleidern des Hohepriesters: „Aber Jehoschua hatte unreine Kleider an und stand doch vor dem Engel. Er aber antwortete und sprach zu denen, die vor ihm standen: Nehmt die unreinen Kleider weg von ihm! Und zu ihm sprach er: Siehe, ich habe deine Sünde von dir genommen und lasse dir Feierkleider anziehen!“. Was geht hier vor? Warum sind die Kleider schmutzig, und wie wurden sie gereinigt?
Unsere Weisen erklären, dass der Hohepriester Jehoschua einen ernsthaften Makel hatte: seine Söhne haben Frauen geheiraten, die für sie verboten waren. Und auch wenn der Vater wenig Schuld daran hatte (er wusste nicht von der problematischen Abstammung der Frauen), so trug er trotzdem die Schuld, dass es dazu gekommen ist. Er als Vater und Hohepriester, der besondere Vorbildfunktion hat, musste ganz genau aufpassen, was bei ihm zu Hause passiert. Deshalb kommt auch die Aufforderung vom Engel die unreinen Kleider wegzubringen: Jehoschua sollte seine Söhne dazu bringen sich von den falschen Frauen scheiden zu lassen. Erst dann kann er „Feierkleider“ anziehen, also ein absoluter Gerechter werden.
Auch daraus können wir für uns etwas Wichtiges lernen: die Eltern sollten ganz genau hinschauen, was mit den Kindern passiert, wie sie leben und wofür sie sich interessieren. Nur so kann man eine unerwünschte Entwicklung rechtzeitig erkennen. Und wenn die Entwicklung tatsächlich in eine gefährliche Richtung läuft, soll man nicht zögern und entschieden darauf reagieren („schmutzige Kleider ablegen“). Man darf nicht darauf hoffen, dass die Kinder selbst mit diesen „Problemen“ klarkommen, sich vor schlechtem Einfluss schützen und den richtigen Weg einschlagen. Da die Eltern mehr Erfahrung haben und mehr über die Gefahren des Lebens wissen, sollen sie den Kindern gefährliche, tragische und nicht mehr korrigierbare Fehler ersparen. Besonders heutzutage, wenn Kinder dank Smartphone Zugang zu sehr problematischen Inhalten bekommen können, sollten Eltern unbedingt alle Maßnahmen ergreifen, um Kinder zu schützen.
Die gefundene Seele
Der Wochenabschnitt „Schlach Lecha“ erzählt über die Meraglim (Spione), die Mosche von der Wüste aus nach Kanaan gesendet hat, um das Land auszukundschaften. Auch die dazu gehörige Haftara beinhaltet eine Spion-Geschichte, die so spannend ist, dass sie eigentlich schon längst von Hollywood verfilmt sein sollte.
Im zweiten Kapitel des Buches Jehoschua wird erzählt, dass Jehoschua bin Nun, der das jüdische Volk nach dem Tod von Mosche übernommen hat, ebenfalls zwei Spione nach Kanaan gesendet hat: „Jehoschua, der Sohn Nuns, schickte nun von Schittim aus zwei Männer als Kundschafter, in der Stille, und sprach: Gehet, sehet das Land und [hauptsächlich] Jericho. Und sie gingen und kamen in das Haus eines Weibes, einer Buhlerin, deren Name Rahab war, und sie legten sich daselbst nieder“.
Schon dieser erste Vers wirft mehrere große Fragen auf. Erstens, welchen Bedarf gab es diese Spione überhaupt zu entsenden? G’tt hat ihm doch im ersten Kapitel ganz klar die Unterstützung bei der Eroberung des Landes versprochen: „Sei stark und fest, denn durch dich soll das Volk das Land in Besitz nehmen, das ich zugeschworen ihren Vätern, ihnen zu geben“.
Die zweite große Frage ist, wie Jehoschua so ein Unternehmen überhaupt riskieren konnte: Gerade aus dem Wochenabschnitt erfahren wir, in welchem Desaster die Entsendung von Meraglim durch Mosche endete! Zehn der zwölf Spione haben nach der Rückkehr schlecht über das Land Kanaan gesprochen, das Volk bekam Angst, klagte und wurde darauf zu vierzig Wanderjahre in der Wüste verdonnert. Wegen dieses Ereignisses fasten wir jedes Jahr am 9. Aw 25 Stunden lang. Dabei war einer von den zwei „guten“ Spionen Jehoschua bin Nun selbst, und er wusste von dieser katastrophalen Kundschafter-Aktion aus erster Hand!
Außerdem war Jehoschua erst seit einem Monat Anführer des Volkes, und das letzte, was er jetzt brauchte, war ein Misserfolg, wenn seinen Spionen etwas passiert wäre. Nicht ganz klar ist auch, was genau die Kundschafter erfahren sollten und wer diese zwei Spione überhaupt waren. Rätselhaft ist auch, warum die Spione ausgerechnet zu Rahab gekommen waren, und wer diese Rahab war.
„Rahab und die Spione Jehoschuas“, von einem unbekannten Maler des 18. Jahrhunderts© WIKIPEDIAr
Die zwei Kundschafter
Alle diese Fragen kann man nur mit den Kommentaren unserer Weisen beantworten. Der erste Ljubawitscher Rebbe, Rabbi Schneur Salman (1745-1813), meint, dass Jehoschua aus eigener Initiative nie auf diese Idee gekommen wäre. Deshalb soll es ein Befehl von G’tt gewesen sein, auch wenn wir keinen Hinweis darauf finden. Und da es die Initiative von G’tt war, hat Jehoschua auch kein bestimmtes Ziel vorgegeben. Diese Spione sollten allgemein die Lage und die Stimmung in Jericho, einer unbezwingbaren Festung, erfassen. Unsere Weisen verraten uns auch die Namen dieser zwei Spione: laut der Überlieferung waren es Pinchas haKohen und Kalew ben Jefune (der als der zweite „gute“ Spion noch bei Mosches Mission vor 38 Jahren mitgewirkt hatte).
Bleibt zu verstehen, wer Rahab war und warum diese zwei gerechten Menschen zu ihr gekommen sind und dort sogar übernachtet haben. Im Text auf Hebräisch steht als Bezeichnung für Rahab das Wort „Zona“, was oft als „die Buhlerin“ bzw. „die Prostituierte“ übersetzt wird (vom Wort „Z’nut“ – Unzucht). Jedoch vermuten mehrere Kommentatoren, dass das Wort „Zona“ in diesem Kontext vom „Mezonot“ – „Essen“ stammt und deshalb war Rahab keine Prostituierte, sondern eine Gastwirtin. Laut der Überlieferung stand das Haus von Rahab direkt an der Mauer von Jericho (was auch der Grund dafür war, dass zwei jüdische Spione dort gelandet sind). Deshalb meinen einige Kommentatoren, dass in jener Zeit Frauen, die Hotels bzw. Gasthäuser unterhalten haben, gleichzeitig auch als Buhlerinnen tätig waren, was beide Bedeutungen zum Wort „Zona“ vereint.
Die nächste Geschichte ist noch spannender: die Spione wurden vom feindlichen Geheimdienst entdeckt, jedoch schaffte es Rahab sie rechtzeitig zu verstecken und die Verfolgung fehlzuleiten. Als die Kundschafter die Möglichkeit zur Flucht bekamen, bittet Rahab die beiden, dass sie sie und ihre Familie bei der Eroberung der Stadt verschonen werden. Die Spione schwören ihr, dass sie mit ihrer Familie gerettet wird, was schlussendlich auch erfüllt wird. Rahab macht Gijur (Übertritt ins Judentum) und heiratet später den jüdischen Anführer Jehischua bin Nun höchstpersönlich!
Unsere Weisen habe oft betont, dass oft reine Seelen unter Nichtjuden versteckt sind, die als gerechte Gerim das jüdische Volk bereichern können. Und wenn man diese Geschichte im Nachhinein betrachtet, kann man vermuten, dass die ganze Mission mit den Spionen, die eigentlich keine bahnbrechenden militärischen Erkenntnisse für die Eroberung gebracht hat, nur einem Zweck diente: die Seele der gerechten Rahab zu finden, und ihr die Rettung zu gewährleisten. Deshalb müssen wir uns über die fantastischen Geschehnisse, deren Zeugen wir manchmal werden, nicht wundern: G’tt macht die Geschichte oft unter sehr bizarren Umständen…
Schätze deinen Rabbiner
Auch die letzte Haftara des Monats ist eine interessante Geschichte, auch wenn sie nicht so actionreich ist wie die vorherige. Es werden die Ereignisse rund um die Ernennung des ersten jüdischen Königs beschrieben. Die Juden wurden immer weniger religiös, was die Folge hatte, dass G’tt Seinen Schutz gelockert hat und die Feinde immer stärker und frecher wurden. Als der König der Ammoniten, Nachasch, die benachbarten Juden immer stärker bedrohte, baten sie den Propheten Schmuel, der damals als höchste Autorität fungierte, einen König zu etablieren. Schmuel findet einen Mann namens Schaul und macht ihn zum König. Wenig überraschend ändern die Juden nun ihre Meinung, finden Schaul nicht gut genug und verweigern ihm Gefolgschaft. Als der böse Nachasch einen Großangriff auf die Juden startet, sammelt Schaul kurzerhand ein paar Hundert Kämpfer und vertreibt Nachasch und seine Armee auf beeindruckende Weise. Das Volk ist jetzt von Schaul begeistert und es kommt zu einer großen Inaugurationsfeier im Gilgal. Plötzlich beschuldigt Prophet Schmuel die Juden, dass sie einen König gefordert haben, obwohl sie ja ihn, Schmuel, schon als großen Anführer hatten.
Das ist ziemlich überraschend, denn in der Thora gibt es ein Gebot, nach dem man einen König zu haben hat! „Wenn du in das Land kommst, das HaSchem, dein G‘tt, dir gibt, und du nimmst es ein und wohnest darin, und du sprichst: Ich will über mich einen König setzen, wie all die Völker, die rings um mich; dann setze einen König über dich, den HaSchem, dein G‘tt, erwählen wird“. Was war denn daran falsch?!
Zeitgeist gegen geistlichen Inhalt
Das Problem war, dass die Juden sich nicht den König wünschten, weil sie ein Gebot der Thora erfüllen wollten, sondern weil sie „so wie die anderen“ sein wollten. „Alle Völker haben einen König und wir wollen auch einen“. Und Schmuel hatte damit absolut recht: nicht die schwache Führung war daran schuld, dass die Juden immer wieder von benachbarten Völkern unterdrückt wurden (die Führung in Person von Schmuel war hervorragend), sondern ihre Sünden und Nichtbefolgung von Geboten führten zu Leid. Das Hauptproblem jedoch war, dass die Juden ihren großen Propheten und Lehrer Schmuel nicht geschätzt haben! Erst im Nachhinein haben sie verstanden, was sie an ihm hatten.
Unsere Weisen warnen uns diesen Fehler nicht zu wiederholen: „Wenn wir als Rabbiner einen Gadol wie Mosche Rabejnu oder wenigstens wie Jehoschua bin Nun hätten, dann wären wir glücklich und hätten alle Anweisungen genauestens befolgt“. Und das ist eine sehr falsche Herangehensweise! Unsere Weisen formulieren den richtigen Gedanken so: „Schmuel in seiner Generation, wie Mosche in seiner Generation“. Das bedeutet: es kann sein, dass Mosche bzw. Schmuel große Weise und große Anführer waren. Jedoch lebst du jetzt und hast weder Mosche noch Schmuel. Du hast die Rabbonim deiner Generation und das sind die Weisen, die für deine Generation die Richtigen sind. Du musst ihnen zuhören und ihre Anweisungen befolgen, sonst macht jeder, was er will und dann hat auch jeder ein eigenes Judentum. Für die Juden der Generation von Schmuel kam dieser Erkenntnis zu spät, sie hatten schon einen König bekommen und es konnte nicht rückgängig gemacht werden. Für uns aber ist es noch nicht zu spät, zu richtiger Einsicht zu gelangen und unsere Rabbonim richtig zu schätzen.
Sehr geehrte Leser!
Die alte Website unserer Zeitung mit allen alten Abos finden Sie hier:
alte Website der Zeitung.
Und hier können Sie:
unsere Zeitung abonnieren,
die aktuelle oder alte Ausgaben bestellen
sowie eine Probeausgabe bekommen
in der Druck- oder Onlineform
Werbung
Judentum und Religion