Schawuot: Von welchen „Wochen“ ist hier die Rede?

Die Hintergründe und der tiefere Sinn des jüdischen Wochenfestes

„Schawuot“ von Moritz Daniel Oppenheim© WIKIPEDIA

Von Dovid Gernetz

Jeder Feiertag im jüdischen Kalender hat einen Namen und dieser Name hat normalerweise stets eine Verbindung zu dem Feiertag. So heißt das Neujahrsfest „Rosch HaSchana“, weil es den Beginn des jüdischen Jahres kennzeichnet. Das Versöhnungsfest wird „Jom Kippur“ genannt, weil uns G´tt an diesem Feiertag unsere Sünden vergibt. Das Laubhüttenfest trägt den Namen „Sukkot“, weil das Sitzen in der Sukka (Laubhütte) eines der zentralen Gebote an Sukkot ist. Der Feiertag „Pessach“ verdankt dem Pessach-Opfer seinen Namen und so weiter und so fort.

Der Grund für diese Regelmäßigkeit ist offensichtlich, denn der Name jedes Gegenstandes, jeder Bezeichnung und sogar jedes Menschen fasst in sich das Wesentliche zusammen und offenbart seine Essenz.

Jedoch scheint diese Regel eine Ausnahme zu haben: Das Fest „Schawuot” (Wochenfest).

„Und als ein Wochenfest hast du dir das Fest der Erstlinge des Weizenschnitts zu gestalten…” (Schmot 34:22)

Dieser Feiertag kennzeichnet die Offenbarung G´ttes am Berg Sinai zu Beginn der Wanderschaft durch die Wüste und die Übergabe der Tora. Dennoch heißt dieses Fest nicht das „Fest der Offenbarung” oder das „Fest der Tora”, sondern es wird Schawuot genannt, was auf Hebräisch „Wochen” bedeutet.

Die Bezeichnung „Wochen” bezieht sich auf die sieben Wochen zwischen Pessach und Schawuot, in welchen man das Omer zählt, jedoch hat dieser Name scheinbar weder mit der Offenbarung am Berg Sinai noch mit der Tora etwas zu tun.

Auch die Bezeichnung unserer Weisen (siehe Mischna Traktat Rosch HaSchana Kap.1, 2) Chag HaAzeret – „Das Fest der Versammlung” scheint keinen Zusammenhang zur Essenz dieses Feiertags zu haben.

Um diese Frage zu beantworten und die Regelmäßigkeit wiederherzustellen, müssen wir zuerst verstehen, unter welcher Bedingung es überhaupt möglich ist, die Tora zu erhalten:

 

24.000 Schüler sterben einen qualvollen Tod

Der Talmud (Traktat Yewamot 62b) berichtet, dass Rabbi Akiva, einer der größten Gelehrten der Mischna-Epoche, 24.000 Schüler hatte. Weil sie sich jedoch gegenseitig nicht genug respektierten, starben alle zwischen Pessach und Schawuot eines qualvollen Todes.

Rabbi Akivas Schüler waren spirituelle Giganten und solch eine harsche Strafe scheint auch für große Menschen, welche G´tt strenger beurteilt, unangemessen für solch eine relativ kleine Sünde, denn der Talmud schreibt nicht, dass sie einander hassen und respektlos behandelten, sondern nur, dass sie sich gegenseitig nicht genug respektierten. Warum also verdienten sie so eine Strafe?

Rabbi Akivas Schüler haben die berühmte Lehre ihres großen Lehrers missachtet und diese wird uns offenbaren, warum sie alle sterben mussten.

Rabbi Akiva lehrt (Jerusalemer Talmud Trakat Nedarim 30:2): „Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst!“ – Das ist die Grundlage der ganzen Tora!

Diese Regel ist sicherlich die Basis einer funktionierenden Gesellschaft und aller zwischenmenschlichen Beziehungen, aber warum ist diese Regel die Basis der gesamten Tora?

Um das zu verstehen müssen wir uns zurück in die Wüste begeben. Als das jüdische Volk vor 3.332 Jahren den Berg Sinai erreichte, wird dies folgendermaßen beschrieben (Schmot 19:2):

„Sie zogen von Refidim, kamen in die Wüste Sinai und schlugen dort ihr Lager auf und Israel lagerte gegenüber dem Berg.”

Ein ganzes Volk wie ein einiger Mensch

Ein aufmerksamer Leser wird bemerken, dass am Anfang des Verses die Plural-Form benutzt wird (Sie zogen von Refidim...) und zum Ende die Singular-Form (...und Israel lagerte…).

Die Kommentatoren erklären, dass sich das ganze jüdische Volk vereinte und einer einzigen Person glich „Wie ein Mensch mit einem Herz”. Aus diesem Grund wird die Einzahl benutzt.

Erst als es keine Streitigkeiten, Hakeleien und Auseinandersetzungen gab und sich alle nur freundlich gesinnt waren, konnten sie die Tora erhalten. Der Medrasch (Derech Erez Zuta Kap.11) bringt in G´ttes Namen, dass er darauf wartete, dass sie den Frieden lieben und Streit hassen, bis er bereit war, ihnen die Tora zu geben.

Die Aufgabe der Tora ist es, den Menschen zu einem besseren Menschen zu machen, aber dafür wird „ein Mensch” als Ausgangsprodukt benötigt. Um als „Mensch” zu gelten, muss man den Frieden lieben und seine Mitmenschen anständig behandeln und respektieren, unabhängig von Herkunft und Weltanschauung.

Rabbi Chaim Vital (1543-1620, wichtigster Schüler des großen kabbalistischen Meisters Arizal) schreibt, dass es aus diesem Grund kein direktes Gebot in der Tora gibt, seine Eigenschaften zu verbessern, weil dies per Definition erforderlich ist und nicht befohlen werden muss, weil sich die Tora überhaupt nur an solch einen Menschen richtet.

Jetzt können wir verstehen, warum Rabbi Akiva gerade diese Regel als Basis der ganzen Tora ausgewählte, weil sich ein Mensch in dieser Regel auszeichnen muss, um die Tora lernen und spirituell wachsen zu können.

Ausgerechnet diese Regel hatten die Schüler Rabbi Akivas nicht genug verinnerlicht und dies hatte zur Folge, dass sie sich gegenseitig nicht genug respektierten. An sich war dies möglicherweise nur eine kleine Sünde, aber den Schülern Rabbi Akivas konnte sie nicht verziehen werden, weil sie als Glied in der Kette der Überlieferung der mündlichen Tora vorgesehen waren.

Um als Glied in dieser Kette zu fungieren, muss man sich besonders im zwischenmenschlichen Bereich auszeichnen, weil dies, wie schon erwähnt, die Voraussetzung für die Erhaltung und Übergabe der Tora ist und die kleinste Unvollkommenheit in diesem Aspekt ausreicht, um sich als potenziellen Kandidaten zu disqualifizieren.

Deswegen mussten alle 24.000 Schüler sterben, weil es ihre Aufgabe gewesen wäre, die nächste Generation anzuführen und zu lehren, und sie für die Aufgabe nicht geeignet waren.

In den sieben Wochen zwischen Pessach und Schawuot betrauern wir den Tod dieser großen Menschen und es gelten teilweise Gesetze der Trauer: Man veranstaltet keine Hochzeiten, schneidet sich nicht die Haare und hört keine Musik.

Aber nebenbei versuchen wir auch aus ihren Fehlern zu lernen, indem wir mehr auf die Gefühle anderer Menschen achten und unsere Mitmenschen besser behandeln. Wir arbeiten daran dieses Level zu erreichen, welches das jüdische Volk in der Wüste vor der Erhaltung der Tora hatte, wo sie „einem Menschen mit einem Herzen” glichen und friedlich zusammenlebten.

 

Wochen der Besserung

Jetzt können wir auch verstehen, warum der Feiertag Schawuot seinen Namen verdient:

In diesen Wochen, zwischen Pessach und Schawuot geben wir uns besondere Mühe, unser Verhältnis zu unseren Mitmenschen zu verbessern und generell bessere Menschen zu werden. Wie wir schon zuvor erörtert haben, ist dies eine der wichtigsten Voraussetzungen, um würdig zu sein, die Tora zu erhalten.

Somit ist die „Vorarbeit”, welche wir in den Woche vor dem Feiertag Schawuot leisten, eine essenzielle Vorbereitung für den Feiertag, weil es sonst nicht möglich gewesen wäre, die Tora zu erhalten und jetzt ist der Zusammenhang mit dem Namen „Schawuot“-Wochen verständlich.

Auch die Bezeichnung unserer Weisen für diesen Feiertag „Azeret” (Versammlung) stimmt jetzt mit dem Thema und Gedanken des Feiertags überein, denn die Versammlung und das friedliche gesellschaftliche Zusammenleben sind, wie schon erwähnt, die Grundlage der Tora und der jüdischen Religion.

Sehr geehrte Leser!

Die alte Website unserer Zeitung mit allen alten Abos finden Sie hier:

alte Website der Zeitung.


Und hier können Sie:

unsere Zeitung abonnieren,
die aktuelle oder alte Ausgaben bestellen
sowie eine Probeausgabe bekommen

in der Druck- oder Onlineform

Unterstützen Sie die einzige unabhängige jüdische Zeitung in Deutschland mit Ihrer Spende!

Werbung


Alle Artikel
Diese Webseite verwendet Cookies, um bestimmte Funktionen zu ermöglichen und das Angebot zu verbessern. Indem Sie hier fortfahren, stimmen Sie der Nutzung von Cookies zu. Mehr dazu..
Verstanden