Tannaim: Weise Lehrer in katastrophaler Zeit

Eine Studienreise mit angehenden christlichen Akademikern zu den jüdischen Akademien von vor 2000 Jahren

Auszug aus dem Buch Mischna
© WIKIPEDIA

Von Dr. Petra Heldt

Im Februar grünt und blüht das Land Israel in allen Farben, besonders im diesjährigen regenreichen Winter. Eine ideale Zeit, mit einer Gruppe christlicher Studenten des Jerusalem University College auf dem Zionsberg in Jerusalem zu den zweitausend Jahre alten jüdischen Lehrern, den Tannaim, zu reisen. Die Studenten wussten, dass die frühen christlichen Exegeten biblischer Texte oft auf den Schultern jener Tannaim standen, und bessere Kenntnis ihrer Weisheit eine Vertiefung christlichen Textverständnisses fördert. Die Tagesreise zu den Akademien der Rabbinen sollte das veranschaulichen. Aber die Reise brachte noch mehr: die Bedeutung der Tannaim für Volk, Land und Staat Israel. Die antiken Weisen gaben Einblick in Grundmuster biblisch-jüdischen Lebens, erkennbar als judeo-christliche Kultur und als Tradition jüdischen Lebens von der Zeit vor der Zerstörung des Tempels bis in den heutigen Alltag des Staates Israel. Dreitausend Jahre Verbindung von jüdischem Land mit jüdischem Volk. Vignetten aus diesem Studientag folgen.

 

1. Weisheit ist die Fähigkeit zu leben

Als die römische Armee unter dem Feldherrn Vespasian seit 66 n.d.Z. Jerusalem belagerte, riefen jüdische Aufständische zum Widerstand bis zum Tod. Anders Rabbi Jochanan Ben Sakkai, der Vositzende des Obersten jüdischen Gerichts. Mit Hilfe zwei seiner Schüler floh er in einem Sarg aus der belagerten Stadt und ging zu Vespasian. Bei dem Gipfeltreffen der beiden Führer erfüllte sich Rabbi Jochanans Vorhersage und Vespasian wurde römischer Kaiser. Der Kaiser belohnte den Weisen mit drei Wünschen, die erfüllt werden sollten. Rabbi Jochanan sagte: „Gib mir Javne und seine Weisen; gib mir die Familie von Rabban Gamaliel; gib mir einen Arzt, R. Zadok zu heilen.“ So geschah es.

Die Weisen, eben jene Tannaim, durften Jerusalem verlassen und nach Javne an die Mittelmeerküste ziehen, zusammen mit dem Obersten Gerichtshof und seiner Akademie. Das Leben des jüdischen Volkes war gerettet noch bevor der Tempel, das Herzstück des jüdischen Volkes, kurze Zeit später zerstört wurde. Das Lehrhaus von Javne legte den Grundstein für ein jüdisches Leben ohne Tempel, später fixiert in der Mischna und den beiden Talmuden. Die visionäre Führung Rabbi Jochanans gab dem Volk die Fähigkeit zu leben. Das Leben siegte über jene Ideologie, die den Tod forderte.

Auch die beiden anderen Forderungen Rabbi Jochanans retteten Leben. Es ging um Rabban Gamaliel und seine Familie. Er war der Enkel von Hillel und der Lehrer von Paulus, und war einer der größten und geschätztesten jüdischen Autoritäten seiner Zeit. Gamaliel verließ Jerusalem, zog nach Javne, baute die Akademie und lehrte, wie man lebt. Die dritte Bitte betraf das Leben eines Einzelnen, das von R. Zadok. Nach vierzig Jahren Fasten um die Gnade Gottes, Jerusalem nicht zu zerstören, war er so dünn, dass man das Essen durch die Kehle gehen sah. Der Arzt gewöhnte R. Zadok in drei Tagen an normale Kost: Am ersten Tag trank R. Zadok Wasser mit aufgeweichter Kleie; am zweiten Tag Wasser mit Kleie und etwas grobem Mehl; am dritten Tag Wasser mit Mehl. So dehnte sich der Magen langsam wieder und Zadok lebte.

Von Jerusalem aus gingen die Tannaim und gründeten zwölf Akademien, von Bror Hail bei Beit Guvrin nach Bnei Brak und Javneh, insgesamt an neun Orten in Eretz Israel, und weiter bis nach Rom im Westen, Nisibis im Norden und Nehardea in Babylon im Osten. Wir machten uns auf den Weg nach Beit Guvrin.

 

2. Ein Fluch kann zum Segen werden

In Beit Guvrin blühten hunderte von Mandelbäumen und rote Mohnblumen waren wie ein Teppich vor uns ausgebreitet. Hier fanden wir eine prächtige Villa aus der Zeit der Tannaim und setzten uns schließlich an den Eingang der Grabhöle der Sidonier, mit Musikantenszenen bunt bemalt, und studierten die Überlegungen der Tannaim zur Bedeutung des Ausdrucks „das Land Kanaan“ (3. Mose 14, 34). Kanaan (1. Mose 9, 20-29) war der Sohn von Ham; Ham war der Sohn von Noah. Ham sah die Blöße Noahs, woraufhin Noah Hams Sohn Kanaan verfluchte, dass er von nun an Knecht sei für Sem und Jafet, den anderen Söhnen Noahs.

R. Eliezer ben Jaakov, der den Tempel noch hat stehen sehen, erklärte hier in Beit Guvrin, der Ausdruck „das Land Kanaan“ umfasste sieben Nationen, von den Sidoniern um Sidon am Mittelmeer im Nordwesten (die waren seine Nachbarn damals und hnterließen die Grabhöhle, vor der wir saßen) bis zu den Girgasiten im Nordosten vom See Genezareth (1. Mose 10, 15-20). Eine Generation später fügte R. Jose ben Dosa in Beit Guvrin diese Erklärung hinzu: „Der Knecht Abrahams, Elieser aus Damaskus (1. Mose 15, 2), war ein Kanaanäer und also ein Verfluchter. Aber weil er einem gerechten Mann wie Abraham so lange Zeit (1. Mose 24, 2) treu gedient hat, entkam er der Kategorie der Verfluchten und wurde zu einem Gesegneten.“ „Komm herein, du Gesegneter des Herrn“ (1. Mose 25, 31), sagte Laban, der Bruder von Rebekka, die Elieser für Abrahamas Sohn Isaak als Braut gefunden hatte.

Die Tannaim hielten nichts von der Verwerfung anderer Völker und beurteilten jedes Volk und jeden Einzelnen nach seinem Beitrag zum Leben. Bis heute verachtet Israel keine Nation aufgrund vergangener Taten, auch nicht Deutschland. Es ist die Weisheit der Akademie bei Beit Guvrin: Gib jemandem eine Chance, sich zu bewähren, dann kann aus Fluch Segen werden. Die Studenten meinten, sie seien erstaunt, wie in Israel so viele Einwanderer eine Chance bekommen, zum Segen zu werden, und wie viele Menschen davon auch wirklich Gebrauch machen!

Dieses Offensein für andere Völker unterstützte auch R. Nathan von Beit Guvrin, der die Sprachen charakterisierte, die in seiner reichen Handelsstadt damals gang und gäbe waren: „Griechisch eignet sich gut für den Gesang, Persisch für die Klage, Hebräisch für die Konversation, Lateinisch für Militärisches und Assyrisch für die Schrift. Hebräisch ist eine gesprochene Sprache, hat aber keine eigene Schriftsprache. Assyrisch hat eine Schriftsprache, aber keine Sprechsprache. So wählten die Israeliten die hebräische Sprache und die assyrische Schrift.“

Genial. So wird klar, dass jedes Volk seinen eigenen Wert hat. Kein Volk ist erhaben über andere. Die Tannanim liebten andere Völker und deren Sprachen. Noch immer so markant für Israel heute. Wir reisten weiter zur Akademie in Bnei Brak.

 

3. Von der Schönheit des Landes

Vier Kilometer südlich von der heutigen Stadt Bnei Brak lag die der Tannaim, gleich neben dem heutigen Ariel-Scharon-Park. Der Park ist ein eindrucksvolles Umweltsanierungsprojekt, gebaut auf einem ehemals 60 Meter hohen Müllhaufen neben dem Flughafen Ben Gurion. Es gibt Wander- und Radwege, einen Freizeitteich, einen Zoo, Picknickplätze, eine Farm, eine Landwirtschaftsschule, ein Recyclingzentrum. Wir schoben die Picknicktische an den Teich heran, erfreuten uns an den blühenden Bäumen und kunstvoll angelegten Sträuchern und teilten in der warmen Februarsonne unser Mittagspicknick. An diesem herrlichen Ort entdeckten wir, wie stolz die Tannaim auf ihr Land waren. Jerusalem war ihnen genommen, aber der Rest des Landes war reich und schön und voll Segen Gottes. So sehr freuten sie sich, dass sie wie in einen spaßigen Wettstreit traten, wer mehr Segen im Land sehen konnte. „Rami ben Eliezer besuchte Bnei Brak und sah, dass Ziegen unter einem Feigenbaum grasten während Honig von den Feigen tropften und Milch aus ihnen trat, und beides vermischte sich. Er sagte „das ist wirklich ein Land, in dem Milch und Honig fliessen“ (4. Mose 13, 24).

R. Jacob ben Dostai sagte „von Lod bis nach Ono sind es 17 Kilometer. Einst stand ich früh auf und watete den ganzen Weg bis zu den Fussknöcheln tief in Feigenhonig.“

Resh Lakish sagte, „Ich sah selbst in Sepphoris, wie Milch und Honig flossen in einem Umkreis von 25 mal 25 Kilometern.“

Und Rabba ben Bar Hana setzte der Sache noch eins drauf: „Ich sah, wie Milch und Honig im ganzen Land Israel flossen; das ganze Gebiet war 121 km lang und 33 km breit.“

Es liest sich wie ein Reklameturnier vom Reichtum Israels. Der Stolz auf dieses Land ist unüberhörbar und ebenso die Freude, in diesem Land zu leben, selbst wenn die Römer das Eretz auf 121 km schrumpften (Israel ist heute 470 km lang). Israel ist und bleibt das schönste und reichste Land, das Juden haben.

Während wir die Schönheit des Ariel-Scharon-Parks genossen, untermalten jene Tannaim nur unseren Eindruck: Eretz Israel ist gesegnet.

4. Javne, ein Weinberg

Javne baut wahrlich keinen Wein an. Warum dann Weinberg? Die Studenten saßen in Javne vor dem vielbesuchten Gebetsort für Rabban Gamaliel in einem schönen Garten und fanden die Antwort in der Lehre Gamaliels: „Einst saßen die Weisen in Javne in der Akademie hintereinander in Reihen wie Trauben an der Rebe. Javne war wie ein Weinberg.“ Hier lehrte Rabban Gamaliel, das 18-Bitten-Gebet täglich zu beten. Andere meinten, das gelegentliche Beten genüge. Was passiert, wenn das Gebet nur gelegentlich und beliebig gesagt wird? Es wird vergessen. Rabban Gamaliel überzeugte, und das 18-Bitten-Gebet wurde das tägliche Gebet aller Juden, die beten. Der weise Gelehrte erkannte, dass in der Gebetssprache und in der Abfolge der Gebete nun die religiöse Identität lag, die bislang der Tempelgottesdienst in Jerusalem garantierte. Die heute allseits bekannten Liturgien für den Alltag, für den Schabbat, für die Festzeiten und für die Fasten- und Trauerzeiten haben hier ihren Anfang genommen. In Javne wurde das moderne Judentum geboren. Es begann mit dem Satz: „Gib mir Javne.“

Früh erkannte Rabban Gamaliel die Gefahr, die Javne für Jerusalem sein könnte. Bislang war Jerusalem das Zentrum des jüdischen Volkes, aber nun war es zerstört. Javne baute sich auf und forderte die Autorität Jerusalems heraus. Eine neue Zeit brauche ein neues Zentrum, sagten einige. Dagegen forderte Gamaliel, Jerusalems Autorität höher zu achten als die von Javne. Er schützte Jeruslaem. So gab es schließlich viele Akademien, die Javne folgten und wichtige Aufgaben für das Leben des jüdischen Volkes übernahmen. Aber Jerusalem blieb für immer die Hauptstadt Israels.

Im Bus zurück nach Jerusalem erinnerte einer der Studenten an die Worte des ehemaligen britischen Oberrabbiners Jonathan Sacks: „Die Welt, die unsere Kinder morgen erben werden, ist geboren in den Schulen, die wir heute bauen.“ Kein schlechtes Fazit für angehende christliche Akademiker aus einer Studienreise zu den jüdischen Akademien zu Beginn des Christentums.

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