Gerettetes Scheit aus dem Feuer
Scharfe Zurechtweisungen, spannende Prophezeiungen und das Geheimnis der Engel in der Übersicht von den Haftorot der Wochenabschnitte, die im Dezember gelesen werden.
Der Prophet Amos auf einem Fresko in der Basilika in Loreto bei Ancona (Italien).© WIKIPEDIA
Die Haftorot (die öffentliche Lesung aus den Prophetenbüchern, die von den Rabbonim zusätzlich zu den Wochenabschnitten der Tora eingeführt wurde) können sehr verschieden sein. Es sind manchmal Zurechtweisungen des jüdischen Volks, manchmal sind es Verheißungen, die die Erlösung und eine glorreiche Zukunft des jüdischen Volkes versprechen, manchmal aber auch spannende Geschichten aus dem Zeitalter der Richter und Könige.
Die Haftorot, die an vier Schabbatot des Monats Dezember gelesen werden, beinhalten keine spannenden Geschichten, aber die Prophezeiung vier verschiedenen Propheten haben es in sich.
Ein warnendes Beispiel
Am ersten Schabbat im Dezember wird der Wochenabschnitt Wajetze gelesen, und als Prophetenabschnitt dazu die Prophetie von Hosea. Die Verbindung zum Wochenabschnitt ist mehr als offensichtlich – der Vers 12:13 ist quasi die Quintessenz dieses Wochenabschnittes: „Als Jakob in die Landschaft Aram floh, da diente Israel um ein Weib; um ein Weib hütete er die Herde“.
Das Hauptthema dieser Prophetie ist die Zurechtweisung der Menschen im nördlichen Königreich und des größten Stammes dieses Reichs namens Ephraim. Hosea macht den Menschen heftige Vorwürfe und prophezeit die komplette Zerstörung des Königsreiches, die von grausamem Blutvergießen begleitet sein wird.
Unsere Weisen zeigen die sehr spannenden Hintergründe dieser Prophezeiung. So zum Beispiel der Vers 13:1, der sehr poetisch klingt: „Wenn Ephraim redete, herrschte Schrecken; war er erhoben in Israel; als er sich aber mit dem Baal versündigte, starb er“. Was meint der Prophet mit „Wenn Ephraim redete…“? Unsere Weisen enthüllen, dass es hierbei um Jarowam ben Nawat aus dem Stamm Ephraim handelt. Er war derjenige, der den König Schlomo kritisiert hatte. Der Grund für die Kritik war schon richtig: die zahlreichen ausländischen Frauen von Schlomo (die natürlich alle zum Judentum übergetreten waren) haben trotzdem weiterhin an ihren Götzen festgehalten. Auch wenn König Schlomo groß und einflussreich war, so hielt das Jarowam nicht davon ab, ihm die Wahrheit ins Gesicht zu sagen.
Das jüdische Nordreich Israel wird zum Götzendienst verleitet
Für diesen Mut wurde Jarowam von G’tt belohnt und er wurde zum König des Nordreiches. Das war jedoch nicht nur eine Belohnung, sondern auch eine Prüfung, ob König Jerowam auch in dieser Position seinen Prinzipen treu bleiben würde. Und diese Prüfung bestand dieser Mensch nicht: Wegen des Neides und übermäßigen Ehrgeizes verwickelte sich Jerowam in politische Intrigen, was ihn sogar dazu brachte, sein ganzes Königreich zum Götzendienst zu verleiten! Sein Niedergang war entsprechend dramatisch: sowohl er, als auch seine ganze Familie wurden ausgelöscht, und unsere Weisen betonen, dass Jarowam sogar seinen Anteil an der zukünftigen Welt verloren hat!
Daraus lernen wir eine wichtige Regel für unser Leben: es ist gut und richtig, wenn wir richtige Werte haben und uns dafür auch einsetzen. Ein Mensch, der in der Lage ist, mutig die Sünder zurechtweisen, wird von G’tt für seinen Einsatz reichlich belohnt. Jedoch müssen wir aufpassen, dass wir selber nicht den gleichen Fehler machen und nicht das, wofür wir gekämpft habe, selber übertreten und deswegen alles verlieren.
Untergang durch Verlust des Verstandes
Zum Wochenabschnitt „Wajischlach“, der eine Woche später gelesen wird, wird die Prophetie von Ovadia gelesen. Diese Prophezeiung ist gleich in zweifacher Hinsicht einzigartig: sie besteht aus nur 21 Versen und wurde von einem Proselyten verfasst. Und dabei ist der Edomiter Ovadia ein ganz besonderer Ger: er hat den Untergang seines Volkes (Edomiter) prophezeit. In diesem Kontext ist eine Bemerkung unserer Weisen interessant: die Proselyten kommen zu unserem Volk ausschließlich von Edom (europäische Völkern), und nicht von Jischmael (arabische Völker). Diese Erkenntnis ist wohl bis heute gültig.
Die Wahl dieses Abschnittes als Haftora zum Wochenabschnitt „Wajischlach“ ist mehr als treffend: in der Tora wird von dem sehr besonderen Treffen zwischen zwei bekannten Zwillingen berichtet, von unserem Vorvater Jakow und dem Vorvater der Edomiter, Esaw. Nach dem vermeintlichen Diebstahl des Segens – Jakow statt Esaw hat den Segen seines Vaters Jizhak bekommen hat, begann Esaw seinen Zwillingsbruder glühend zu hassen. Unsere Weisen betonen, dass dieser Hass bis ans Ende der Tage dauern wird! Bemerkenswerterweise sind die Nachkommen von Esaw (Edom) unter anderem die zwei bekannten europäischer Völker, die den Juden sehr viel Leid zugefügt haben, die Römer und die Deutschen (nicht umsonst haben die Nazis sich als Nachfolger des Heiligen Römischen Reiches definiert).
Der Prophet sagt klar, dass alle großen und mächtigen Imperien der Edomiter am Ende zerstört werden. Und zwar nicht wegen ihrer Schwäche, sondern nur weil sie Juden grausam verfolgt haben. Interessant ist auch die Art und Weise, wie diese großen Völker besiegt werden (1:7) „Deine Bundesgenossen schicken dich an die Grenze zurück; getäuscht, überwältigt haben dich die Männer, mit denen du Frieden hieltest; die dein Brot aßen, haben dir Schlingen gelegt, ohne dass du es merktest“. Also werden die Nachkommen von Edom nicht durch militärische Übermacht besiegt – dafür sind sie zu stark und zu kriegserfahren. Sie werden von diejenigen überlistet, denen sie geholfen und die sie unterstützt haben. Wie es soweit kommen kann, dass erfahrene Krieger hintergegangen werden, erklärt Ovadia (1:8): „Werde ich, spricht der HERR, an jenem Tage nicht die Weisen aus Edom vertilgen und die Einsicht vom Gebirge Esau?“. Mit anderen Worten: eine solche Niederlage ist nur dann möglich, wenn die Intellektuellen und die Regierung den gesunden Menschenverstand verlieren und die Gefahr nicht mehr bemerken und richtig einschätzen können.
Interessant ist auch der letzte Vers in dieser Prophetie: „Und es werden die Befreier auf den Berg Zion hinaufziehen, um das Gebirge Esaus zu richten. Und die Königsherrschaft wird dem HERRN gehören“. Dieser Vers ist entsprechend dem Talmud ein Hinweis auf das Kommen von Maschiach (Erlöser). Das wird die Zeit sein, wenn alle Feinde des jüdischen Volkes besiegt und alle Völker den jüdischen G’tt anerkennen werden.
Dieser Vers kann auch anders gelesen werden: nicht „Und es werden die Befreier nach dem Berge Zion hinaufziehen,…“, sondern „Und es werden die Geretteten auf den Berg Zion hinaufziehen“. Diesbezüglich erzählt man, dass in den 1930er Jahren, als der Zweite Weltkrieg sich langsam abzeichnete, man einen berühmten europäischen Rabbiner fragte, wohin man sich vor drohender Vernichtung retten könne. Der große Rav antwortete, dass die Antwort bei den Propheten zu finden sei und zitierte diesen Vers in der 2. Version („die Geretteten“). Er erklärte, dass der einzige sichere Platz während des Krieges das Land Israel sein werde. Wie wir jetzt wissen, hatte er damit absolut recht: Diejenigen, die es vor dem Krieg schafften ins damalige Palästina auszuwandern, haben den Holocaust überlebt.
Der brüllende Löwe
Die Prophetie von Amos ist der Prophetenabschnitt, der zur Parascha „Wayeschew“ vorgelesen wird, falls dieser nicht mit dem Chanukka-Fest zusammenfällt. Ein relativ kleiner Abschnitt, der aus nur 16 Versen besteht, hat keinen offensichtlichen Zusammenhang mit dem wöchentlichen Abschnitt. Jedoch sehen unsere Weisen im Vers 2:6 einen Hinweis auf die Ereignisse in der Tora: „So spricht der HERR: Wegen drei und wegen vier Übertretungen Israels wende ich solches nicht ab, weil sie den Gerechten um Geld und den Armen für ein Paar Schuhe verkaufen“. Dieser Gerechte, der fürs Geld verkauft wurde, könnte Josef sein, der von seinen Brüdern verkauft wurde.
Auch hier kritisiert der Prophet seine Zeitgenossen für ihre Sünden. Der Schwerpunkt dieser Zurechtweisung sind die korrupten Richter. Amos erinnert an G’ttes Wunder, dank derer die Juden ihr Land erkämpft haben. Lasche Urteile, Benachteiligung von Armen und Schwachen im Gerichtssaal drohen die G’ttliche Präsenz aus Israel zu vertreiben. Dann werden die Feinde der Juden erfolgreich sein: weder die militärische Stärke, noch der Mut der Soldaten werden dagegen helfen. Wie es König Schlomo schön ausgedrückt hat: „Wo der HERR nicht das Haus baut, da arbeiten umsonst, die daran bauen; wo der HERR nicht die Stadt behütet, da wacht der Wächter umsonst“. Und das gerechte Richtersystem ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass G’tt hilft.
Einer von Amos‘ Kritikpunkten ist, dass die korrupten Mächtigen seine Zurechtweisung unterdrücken wollen: „Ihr aber gabt den Nasiräern Wein zu trinken und befahlt den Propheten: Ihr sollt nicht weissagen!“. Darauf antwortet der Prophet mit einer starken rhetorischen Frage: „Der Löwe brüllt; wer sollte sich nicht fürchten? Gott, der HERR, redet; wer sollte nicht weissagen?“. Mit anderen Worten – es ist eine falsche Herangehensweise eine Prophetie zu ignorieren. Es ist so, als ob man das Gebrüll eines Löwen ignorieren wollte, weil man die Gefahr nicht wahrhaben will, die von dem wilden Tier ausgeht. Leider existierte das Problem mit korrupten Richtern nicht nur in der Zeit von Amos…
Interessant ist auch diese chassidische Auslegung des erwähnten Verses. Die chassidischen Weisen sehen in den Wörtern „Der Löwe brüllt; wer sollte sich nicht fürchten?...“ einen Hinweis auf die Monate Elul und Tischrej, wenn in den Schofar geblasen wird, damit wir aus der tagtäglichen Routine gerissen werden und an die Tschuwa (Umkehr) denken. Das hebräische Wort Arie (Löwe) schreibt man mit den Buchstaben „Alef“, „Resch“, „Jud“ und „Hej“. Alef steht für Elul, Resch für Rosch Haschana, Jud für Jom Kippur und Hej für Hoschana Rabah (der 7. Tag des Sukkot-Festes, wenn noch die letzte Chance zur Umkehr besteht).
Nur nicht stehen bleiben!
Da die Parascha „Miketz“ fast immer mit Chanukka zusammenfällt, wird als Haftora nicht über die wunderbare Weisheit von König Schlomo gelesen (was eine Verbindung zu den Träumen im Wochenabschnitt „Miketz“ darstellen würde), sondern die Prophetie von Zacharia.
Damit wird die Verbindung zum Chanukka-Fest hergestellt (4:1-2): „Da kam der Engel wieder, der mit mir zu reden pflegte, und weckte mich auf wie einen, der aus seinem Schlafe geweckt wird. Und er fragte mich: Was siehst du? Ich sprach: Ich schaute und siehe da, ein Leuchter, ganz von Gold, und sein Ölgefäß oben darauf und seine sieben Lampen daran, und sieben Gießrohre zu den sieben Lampen, die auf dem Leuchter saßen“.
Auch wenn der ganze Abschnitt (2:14-4:7), der als Haftora vorgelesen wird, hochinteressant ist und viele fantastische, fast irreale Visionen erwähnt, sind zwei Verse darin nicht nur interessant, sondern auch lehrreich.
„Da sprach der Ewige zum Satan: Der HERR schelte dich, du Satan; ja, der HERR schelte dich, er, der Jerusalem erwählt hat! Ist dieser nicht ein Scheit, der aus dem Feuer gerettet ist?“ Darauf kommentiert der berühmte Verfasser von „Schulchan Aruch“ Rabbi Josef Karo (1488-1575): „Nur ein kleiner Teil des jüdischen Volkes ist geblieben, und du (Satan) willst sie anklagen?“.
Dazu merkt der 7. Ljubawitscher Rebbe Rabbi Menachem Mendel Schneerson (1902-1994) an: Jeder Jude in der Post-Holocaust-Generation ist buchstäblich ein „aus dem Feuer gerettetes Scheit“. Die scharfe Kritik von G’tt an Satan, sagt der Rebbe, lehrt uns eine wichtige Idee: gerade in unserer Zeit müssen wir betonen wie wichtig und einzigartig jeder einzelne Jude und jede einzelne Jüdin ist – und dass G’tt jeden Juden liebt und schätzt, unabhängig vom Level seiner Frömmigkeit. Das könnte helfen jedem seine einzigartige Verbindung zu G’tt herzustellen.
Ein paar Verse später sehen wir einen Vers, der nicht unbedingt auffallen würde: „So spricht der Ewige der Heerscharen: Wirst du in meinen Wegen wandeln und meinen Dienst fleißig versehen, so sollst du auch mein Haus regieren und meine Vorhöfe hüten, so gewähre ich dir Gänge zwischen den hier Stehenden“.
Jedoch ist auch hier eins von den Grundprinzipien des Judentums verborgen. Die Stehenden, die im Vers erwähnt sind, sind die Engel. Und sie werden als Stehende bezeichnet, weil die Engel keinen freien Willen haben. Und deshalb stehen sie spirituell auf einem Level und können in der Spiritualität weder fallen noch steigen.
Bei den Menschen ist es aber anders: die Menschen sind ständig in Bewegung. Wenn sie sich mit Spiritualität und mit G’ttlichkeit befassen und die Verbindung zu G’tt suchen, dann steigen sie auf. Wenn sie sich aber dafür entscheiden „auszuruhen“, eine „Auszeit von unserer Tradition zu nehmen“, so bleiben sie in ihrer geistigen Entwicklung nicht stehen, sondern fallen mehr und mehr, bis sie zu fürchterlichen Sünden fähig sind.
Deshalb ist es fundamental wichtig sich jeden Tag mit der Tora zu befassen. Man sollte ständig „in Bewegung“ sein – lässt man es einen Tag lang aus, so beginnt das Fallen. „Etz chaim hi, lemachasikim bo“ – „Sie ist ein Baum des Lebens (die Tora) für die, die sich an sie halten“. Wenn man leben möchte (und hier ist spirituelles Leben gemeint), dann reicht es nicht aus, nur ab und zu den „Baum des Lebens“ anzufassen.
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Judentum und Religion