Jüdisches Leben in Mainz

Die Neue Synagoge hat dem Gemeindeleben in der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt frischen Wind eingehaucht.

Die Synagoge in Mainz

Von Victor Sanovec

Seit mehr als 1000 Jahren gibt es Berichte über jüdisches Leben in Mainz. Im Laufe dieser Zeit wurde diese Kontinuität oft und gewaltsam unterbrochen. Und manchmal ist die Vernichtung beinahe gelungen. Das ist nicht ohne Folgen für die Juden von heute geblieben. In der Stadt sind trotz ihrer ruhmreichen jüdischen Geschichte neben den Gräbern einiger Gelehrter kaum Zeugnisse dieser jüdischen Vergangenheit zu finden.

Diese Realität ist mehr als nur bedauerlich – denn wie kann aus Ruinen wieder jüdisches Leben entstehen? Ohne Menschen und Gebäuden, die für ihre Zeit Zeugnis ablegen? Das trifft aber nicht nur auf Mainz zu, das ist leider für die Geschichte des jüdischen Lebens in ganz Deutschland typisch. Wie kann der früheren Berühmtheit der Schum-Städte Speyer, Worms und Mainz gedacht werden ohne Bezug zum jüdischen Leben dieser Orte in der Gegenwart? Soll das Judentum nun zu einem Museum geworden sein? Oder sogar zu einem Friedhof, wo nur verwitterte Steine zu besichtigen sind? Oder wie die vielen – von außen sehr gepflegten – Synagogen ohne Juden auf dem platten Land? Was ist eine ruhmreiche Vergangenheit ohne lebendige Gegenwart wert?

Zu den erfreulichen und wichtigen Neuerungen, die dem jüdischen Leben in Deutschland wieder frischen Wind geben, zählt auch die Neue Synagoge in Mainz. Sie wurde nach dem Entwurf des Architekten Manuel Herz erbaut. Dass sich das Gebäude schon äußerlich von ihrer Umgebung in der Mainzer Neustadt abhebt, hat einen tieferen Sinn.

Die Synagoge ist keine Kirche, sie erfüllt andere Zwecke. Sie ist eine Art Brücke zwischen den Zeiten. Sie ist das Haus der Versammlung für die Juden, die sie jetzt in der Gegenwart nutzen, und zugleich steht sie für den zerstörten Tempel in Jerusalem. Die Opfer, die in dem damaligen Tempel dargebracht wurden, sind heute in der Synagoge durch Gebete ersetzt. Das Gebäude an sich gilt nicht als heilig. Es birgt aber die Thora-Rollen, den hochverehrten Schatz der Juden. Die Thorarollen werden für die Gebete benutzt, aus ihnen wird regelmäßig gelesen, sie werden durch die Synagoge getragen und geküsst. Bezüglich des äußeren Aussehens der Synagoge existieren keine verbindlichen Vorschriften. Es gibt große und kleine Synagogen, aus Holz oder aus Stein, in ganz unterschiedlichen Formen.

 

Ein Haus in Form hebräischer Buchstaben

Die Hauptsynagoge in Budapest zum Beispiel ist riesig, Synagogen in Israels Kibbuzim hingegen sind oft einfache Fertighäuser. Deshalb konnte der Architekt Manuel Herz frei schalten und walten. Er wagte viel, sein ungewöhnlicher Entwurf verwandelt hebräische Buchstaben in architektonische Formen. So wurde das Wort KEDUSCHA in der Mainzer Neustadt zu einem Gebäude! Er unterwarf seinen Entwurf weder der profanen Umgebung vor Ort, noch der Bauform der Synagoge, die diese bis zu ihrer Zerstörung im November 1938 hatte, und am selben Platz stand. Die wurde 1910 im damals üblichen orientalisierten Stil errichtet.

Mit dem neuen Bau ist es gelungen, etwas Einzigartiges und Neues für die Juden und für die Stadt Mainz zu verwirklichen: Denn um ein solches Gebäude zu realisieren, bedarf es nicht nur eines mutigen Architekten. Es bedarf eines gemeinsamen Willens, um solch ein Projekt auch kommunalpolitisch durchzusetzen. Viele Hindernisse mussten beseitigt werden: Die Bürger der Umgebung, die zuständigen Gremien im Land, in der Stadt, die Geldgeber und die jüdische Gemeinde selbst musste man für das Projekt zu gewinnen. Jetzt aber ist das Haus endlich da und konnte alle überzeugen – es ist wirklich sehr gelungen. Das auffällige Gebäude mit der glänzenden Keramikfassade strahlt nach außen, weckt Neugierde. Das Interesse der Besucher an Führungen ebbt auch nach 10 Jahren nicht ab. Die Anfragen an die Gemeindeverwaltung für organisierte Gruppenführungen kommen aus der Umgebung, aber auch aus ganz Deutschland und dem Ausland.

Aber nicht nur das auffällige Äußere macht das Gebäude interessant. Das Haus erfüllt gleich mehrere Funktionen: Neben der Synagoge ist dort auch die Verwaltung der Gemeinde untergebracht. Für ihre vielseitigen Aufgaben stehen dort Büros und andere Räume zur Verfügung, die intensiv genutzt werden. Die Jüdische Gemeinde Mainz ist mit etwa 1.000 Mitgliedern die größte Gemeinde in Rheinland-Pfalz. Geleitet wird sie von Frau Anna Kischner. Ihre Kenntnisse der russischen Sprache werden ständig gebraucht, denn die überwiegende Mehrheit der Gemeindemitglieder kommen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Die wenigsten von ihnen aber stammen aus Russland selbst. Sie kommen in der Mehrzahl aus Moldawien, Kasachstan, aus der Ukraine, Turkmenistan oder Aserbaidschan, und bringen alle eine ungewöhnliche Lebensgeschichte mit – oft auch die Erfahrung von Verfolgung und Unterdrückung. Eine Reihe der Männer haben noch aktiv in der Roten Armee gedient. Sie haben geholfen den Hitler-Faschismus in Europa zu besiegen. Ihr Jüdischsein ist davon geprägt. Jetzt sind viele von ihnen alt und brauchen Hilfe und Unterstützung – nicht nur finanzielle. Für Frau Kischner ist ihre Arbeit kein Job, sondern es ist für sie eine Berufung – sie leistet Großes!

Der Gebetsraum der Synagoge ist goldfarben gehalten, die hebräischen Buchstaben bilden ein Relief an den Wänden. Nur ein einziges Fenster oben an der Decke lässt Tageslicht in den Raum. Das Thema der Buchstaben findet sich auch in den Sitzbänken und in der Bima wieder. Das ist der Platz für den Gemeinderabbiner Aharon Vernikovsky, von dort aus leitet er die Gebete. Aber der Rabbiner ist sehr vielseitig und nicht nur dort zu finden. Seine Schiurim nach dem Kiddusch am Schabbat widmet er den Paraschiot der Woche. Die Schiurim am Freitag vor dem Gebet handeln z.B. vom Umgang mit dem Siddur und der Bedeutung der Gebete. Andere Themen wie Giur oder Kabbala werden bei einem Schiur am Donnerstag besprochen, zu dem alle Interessenten willkommen sind. Außerhalb der Gemeinde widmet er sich dem interreligiösen Dialog, der Jugendarbeit oder auch dem Kochen. Über Fußball kann mit ihm lebhaft diskutiert werden. Einmal in Monat organisiert er den „Cultur Club“. Dort werden neben Kulturthemen auch Tagesgeschehnisse aus der Politik diskutiert. Kurz gesagt – ein Rabbiner mit breitgefächerten Interessen und Wissen, der nie um eine Antwort verlegen ist.

Seit September 2019 berichtet eine neue Internetseite über das Gemeindeleben der Neuen Synagoge Mainz, und auch auf Facebook wird über die aktuellen Ereignisse informiert. Am 2. September 2020 will die Synagoge ihr 10-jähriges Jubiläum feiern. Für Diejenigen, die das Haus noch nicht kennen, ist das eine gute Gelegenheit diese besondere Synagoge einmal genauer kennenzulernen. Die jüdischen Besucher sind willkommen an den Gebeten teilzunehmen. Die Neue Synagoge in Mainz knüpft durch ihre Gestalt nicht an eine Tradition vor Ort an. Das kann sie gar nicht. Die traditionelle aschkenasische Jüdischkeit von Mainz ist nicht mehr existent. Aber die Synagoge in ihrer ungewohnten Form stellt einen möglichen neuen Anfang für das jüdische Leben in Mainz in Aussicht. Sie macht Hoffnung, angesichts einer fast vollendeten Vernichtung.

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