Der bedeutungsvolle Wurm

Der „Tzaddik im Pelz“, die gefährliche Erziehung und die richtige Einstellung für den Synagogen-Besuch in der Übersicht der Haftarot zu den Wochenabschnitten, die im Monat November gelesen werden.

„Die Flut“ von Francis Denby (1840)

Von Rabbiner Elischa Portnoy

Bekanntlich beinhaltet die jüdische Heilige Schrift „Tanach“ nicht nur die Thora (Fünf Bücher Moses, Chumasch) selbst, sondern auch „Propheten“ und „Schriften“. Und wenn der Chumasch noch allgemein bekannt ist und jeder gebildeter Jude schon weiß, was es in welcher Reihenfolge dort alles gibt, ist es mit den Propheten nicht ganz so einfach. Man kennt zwar die bekannten Propheten wie Schmuel, Jeschaja, Jeremija oder Jechezkel, aber was genau sie prophezeit haben, wissen nur ganz wenige.

Jedoch wäre es sehr lohnenswert die Bücher der Propheten zu kennen: erstens sind sie von G’tt diktiert und beinhalten g’ttliche Weisheit, zweitens beinhalten sie sehr wichtige Ideen, die uns inspirieren und uns im Alltag helfen können.

Die Texte der Propheten sind sehr umfangreich und die klassischen Kommentare darauf scheinen uferlos zu sein. Wie kann man dann auch nur annährend eine wichtige und interessante Schicht unserer Tradition kennenlernen? Eine Möglichkeit dafür bieten die Haftarot zu den Wochenabschnitten, die an jedem Schabbat in den Synagogen vorgelesen werden.

Das Wort „Haftara“ bedeutet übersetzt aus hebräischem „Ersatz“ oder „das, was von Pflicht befreit“. Heutzutage bedeutet das im Kontext der öffentlichen Thora-Lesung so viel wie „Abschluss“ oder „Beenden“. Ziemlich spannend ist die Geschichte der Entstehung des Brauchs vom „Haftara-Lesen“: Als zu bestimmten Zeiten der turbulenten jüdischen Geschichte fremde Herrscher den Juden das öffentliche Vorlesen der Thora verboten haben, ordneten die Rabbonim jeder Lesung einen Abschnitt aus den Prophetenbüchern zu, welcher eine inhaltliche Nähe besitzt. Dieser Ersatz (Haftara) wurde dann stattdessen gelesen. Als das Verbot des Thoralernens entfiel, wurde die Lesung der Haftarot jedoch beibehalten, so dass heute jeder Thoralesung am Schabbat, den Feiertagen und jeden Rosch Chodesch (Monatsanfang) eine Haftara folgt.

 

Ohne Kommentare geht es nicht

Wie schon erwähnt gibt es immer eine Verbindung zwischen dem Thora-Abschnitt und dem dazugehörigen Abschnitt aus den Propheten. Entweder ist es das gleiche Thema oder es sind einige Wörter beim Propheten, die eine Anspielung auf den Wochenabschnitt darstellen. Zum Beispiel schildert die erste Parascha der Thora „Bereschit“ die Erschaffung von Himmel und Erde. Die Haftara von Bereschit, ein Abschnitt aus Jeschaja beginnt demgemäß mit dem Zitat: „So spricht G‘tt, der Ewige, der erschaffen hat die Himmel und sie ausgespannt …“.

Die Haftarot sind meist wesentlich kürzer als die Thora-Abschnitte, haben jedoch viel in sich. Und wie man es von prophetischen Werken erwarten kann, sind sie oft ausdrucksstark und fabulös. Deshalb, um die versteckte Bedeutung in manchmal komplizierten Texten zu entdecken, muss man unbedingt die Kommentare anschauen.

Nachdem in den vergangenen 12 Monaten alle Wochenabschnitte der Thora betrachtet wurden, werden wir hier in den nächsten Monaten die entsprechende Haftarot kennenlernen. Außer vielen lehrreichen Ideen und Prinzipen der Thora kann es ein guter Einstieg zur Welt der Propheten sein.

 

Noach’s Flut?

Die Haftara zum ersten Wochenabschnitt des Novembers „Noach“ kommt aus Jeschaja (54:1-55:5). Im Allgemeinen beschreibt dieser Abschnitt die Messianischen Zeiten und den Wiederaufbau von Jerusalem. Es wird aber unter anderem das Versprechen von G’tt erwähnt, die Welt niemals mehr durch eine Sintflut zu zerstören: „Denn eine Noachs-Flut ist mir dies, da ich geschworen, dass die Wasser Noach’s nie wieder die Erde überschwemmen, so hab‘ ich geschworen, nie über dich zu zürnen, um dich zu schelten“.

Das ist eigentlich nur ein einziger Satz, der die Haftara mit dem Wochenabschnitt verbindet, jedoch beinhaltet schon dieser eine Satz eine starke Lehre.

Wenn man diesen Vers aufmerksam betrachtet, fällt es auf, dass die Sintflut hier „Noach’s Flut“ genannt wird. Und das ist eigentlich sehr komisch: es war überhaupt nicht Noach, der die Sintflut verursacht hat. Ganz im Gegenteil sogar! Noach wurde dank seiner Frömmigkeit vor der Vernichtung gerettet und durch ihn wurde die ganze Menschheit und Tierwelt gerettet. Wie kann es dann Noach’s Flut heißen?

Unsere Weisen geben eine, auch in unseren Zeiten wichtige Antwort. Wie aus den Versen der Thora ersichtlich ist, hat Noach seine Arche in einem Zeitraum von 120 Jahren gebaut. Seine Mitmenschen haben ihn sicher gefragt, wozu er etwas so Komisches baut. Noach hat allen Fragenden gerne erzählt, dass G’tt bald die Menschen wegen deren Sünden vernichten wird, was Noach’s Zeitgenossen wohl nicht besonders beeindruckt hat. Mehr als das hat Noach aber nicht getan. Er versuchte nicht die Menschen zur Rückkehr (T’schuwa) zu bringen, und er hat nicht mal für sie gebetet! Unsere Weisen vergleichen Noach in diesem Kontext mit unserem Vorvater Avraham. Als Avraham von G’tt erfahren hat, dass die Städte um Sedom vernichtet werden, hat er für diese ultimativen Sünder gekämpft! Deshalb ist der Ausdruck „Noach’s Flut“ nicht verkehrt: in der Tatsache, dass die Welt doch untergegangen war, gab es doch eine kleine Mitschuld des gerechten Noach.

Daraus können wir entnehmen, dass wir doch für unsere Mitmenschen verantwortlich sind. Sogar wenn wir ihre Taten und ihr Benehmen nicht beeinflussen können, können wir zumindest für sie beten, dass sie besser werden. Eine chassidische Weisheit besagt, dass wenn es einem kalt ist, man sich auf zwei Weisen wärmen kann: entweder einen Pelzmantel kaufen, oder ein Feuer zünden. Vom Pelzmantel wird aber nur man selbst gewärmt, von dem Feuer können außerdem viele andere Menschen erwärmt werden…

 

Die Stärke des Wurmes

Auch die Haftara zum Wochenabschnitt „Lech Lecha“ wird aus Jeschaja gelesen (40:27-41:27). Hier ist die Verbindung zum Wochenabschnitt, in dem wir Avraham kennenlernen, noch subtiler: in zwei Versen werden einige Ereignisse aus Avraham’s Leben angedeutet.

Allgemein tröstet in diesem Kapitel der Prophet die Juden, verspricht ihnen Unterstützung im Exil und die Erlösung am Ende der Zeit. Auch hier gibt es einen Vers, der unsere Aufmerksamkeit erregen sollte: „Fürchte nichts, Wurm Jakow, Häuflein Israel, ich stehe dir bei, spricht der Ewige, und dein Erlöser ist der Heilige Israels“. Was bedeutet „Wurm Jakow“? So eine unerwartete Bezeichnung für das jüdische Volk findet man im ganzen Tanach nur einmal.

Unsere Weisen geben mehrere Erklärungen für diesen ungewöhnlichen Vergleich. Der Wurm ist ein sehr kleines Wesen, das nah oder in der Erde wohnt. Auch der Name des jüdischen Volkes „Jakow“ weist im Gegensatz zum erhabenen „Israel“ auf eine niedrige geistige Stufe. Deshalb verspricht der Prophet, dass sogar, wenn sich die Juden auf einer sehr niedrigen spirituellen Stufe befinden, werden sie trotzdem von G’tt nicht verlassen. Außerdem befindet sich die Stärke des Wurms in seinem Mund. Auch die Juden werden nur Dank des Thora-Lernens und der Gebete stark. Wir müssen aufpassen, diese unsere Stärken nicht zu vernachlässigen.

 

Die Größe der Gastfreundschaft

Die Haftara des Wochenabschnittes „Wajera“ kommt aus dem 2. Buch der Könige (Melachim II 4:1-37) und erzählt über die Wundertaten des Propheten Elischa. Die Verbindung von Haftara zum Wochenabschnitt ist sehr gut nachvollziehbar: im Wochenabschnitt wird davon erzählt, dass die drei Engel, die Avraham nach der Beschneidung besucht haben, die Geburt von Jitzhak versprochen haben. Auch in der Haftara wird darüber berichtet, wie Prophet Elischa einer kinderlosen Frau einen Sohn versprochen hat.

Der ganze Abschnitt ist superspannend und liest sich wie ein Thriller: das Wunder mit dem Öl für eine Witwe, das Versprechen des Sohnes einer Frau, der plötzliche Tod dieses Sohnes und die wunderbare Wiederbelebung des Kindes durch den Propheten.

„Elischa erweckt den Sohn der Sunamitin” von Benjamin West (1765)

Auch wenn diese Haftara schon für sich genommen hochinteressant ist, wenn man dazu dann noch die Kommentare anschaut, so entdeckt man noch mehr spannende Einblicke. Eine interessante Beobachtung wird im „Tzena uRena“ (verfasst von Jakob ben Isaak Aschkenasi) im Namen von Midrasch „Pirkej deRabbi Eliezer“ gemacht. Es wird unter anderem erzählt, dass eine schunnamitische Frau für den Propheten Elischa ein Zimmer eingerichtet hat: „Lass‘ uns doch ein kleines Obergemach an die Mauer machen, und wir wollen ihm darein setzen ein Bett und einen Tisch und einen Stuhl und einen Leuchter, und es wird geschehen, wenn er zu uns kommt, mag er sich dort erholen“. Der Midrasch bemerkt dazu, dass wenn man einen Gast bei sich empfängt, das eigene Haus dem Tempel gleichen werde. Denn das Wort „Mischkan“ (mobiler Tempel, der bei der Wüstenwanderung errichtet wurde) besteht aus vier hebräischen Buchstaben. Alle diese vier Buchstaben können als Abkürzung für Bett, Tisch, Stuhl und Leuchte gelten: „Mem“ – Mita (Bett), „Schin“ – Schulchan (Tisch), „Kuf“ – „Kise“ (Stuhl) und „nun“ – Ner (Leuchte). Das ist ein Hinweis darauf, dass die Gastfreundlichkeit die G’ttliche Präsenz „Schechina“, die über dem Mischkan gewesen war, auch in das Haus bringen kann.

 

Erziehung mit Grenzen

Auch in der Haftara zum Wochenabschnitt „Chaje Sarah“ geht es spannend zu. Diesmal wird der Anfang des 1. Buchs der Könige (Melachim I 1:1-31) gelesen. Darin wird über die letzten Tage von König David erzählt und über den Machtkampf der Thronfolger. Auch hier ist die Verbindung zum Wochenabschnitt offensichtlich: in der Parascha wird über das Ableben unseres Patriarchen Avraham berichtet und über sein Regeln der Erbschaft.

Der Kern dieses Haftara-Abschnittes ist der Versuch von David’s Sohn Adonijah sich zum neuen König zu machen. Der Prophet offenbart uns klar die Gründe für Adonija’s Benehmen (noch vor dem Tod seines Vaters David den Thron an sich zu reißen): „…und sein Vater kränkte ihn im Leben nicht, dass er gesprochen hätte: Warum tust du solches? Und auch er war sehr schön von Gestalt“.

Adonija war also ein verwöhntes Kind, das nie kritisiert und wegen seiner Schönheit dazu auch noch von allen bewundert wurde. Für ihn war es normal immer das zu bekommen, was er wollte und genau das wurde ihm zu Verhängnis. Kein Wunder, dass David dafür indirekt kritisiert wird („und sein Vater kränkte ihn im Leben nicht“). Denn Kinder brauchen klare Grenzen, um sich gesund zu entwickeln und um nicht zu Egoisten zu werden. Wenn die Kinder mit der Einstellung aufwachsen, dass sie alles dürfen, werden sie im Leben herbe Enttäuschungen erleben. Deshalb ist eine gute, liebvolle Erziehung mit klaren Grenzen ein Grundstein für den Erfolg der Kinder in der Zukunft.

 

Richtige Einstellung

Die Haftara des letzten Wochenabschnittes des Monats „Toldot“ wird aus dem Propheten Malachi gelesen (1:1-2:7). Das Hauptthema der Thora-Lesung ist die Geburt von Jakow und Esaw und ihre Rivalität. Dieses Thema wird auch am Anfang von Haftara angesprochen: „Ich habe euch geliebt, spricht der Ewige; da sprachtet ihr: Worin hast du uns geliebt? Ist nicht ein Bruder Esav von Jakow, ist der Spruch des Ewigen, und ich liebte den Jakow!“.

Weiter klagt der Prophet, dass die Juden, und vor allem die Priester (Kohanim) ihre Pflichten beim G’ttesdienst vernachlässigt haben. Es ist nicht so, dass man keine Opfer im Tempel mehr darbrachte oder andere Elemente des G’ttesdienstes ausführte. Jedoch wurde es auf eine Weise gemacht, dass es für G’tt inakzeptabel war. Der Tempeldienst, zu der Zeit als der Tempel noch stand, wurde von G’tt dazu gedacht, dass die Menschen davon inspiriert werden und die Nähe zum Ewigen fühlen. Wenn der Dienst jedoch als Bürde empfunden wird, dann wird nur das Gegenteil davon erreicht.

Auch für uns ist diese Botschaft sehr aktuell: wenn wir in die Synagoge gehen, sollen wir uns im Klaren sein, dass wir damit nicht G’tt einen Gefallen tun. Die Gebete und der G’ttesdienst sind vor allem für uns selbst nötig, um spirituell zu wachsen und zu besseren Menschen zu werden. Und nur mit dieser richtigen Einstellung können wir hoffen, dass G’tt unsere Gebete erhört und beantwortet!

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