Schana towa umetuka!

Der herbstliche Feiertagsmarathon beginnt

Mitte des Monats steht Sukkot, das jüdische Laubhüttenfest, an.

Von Rebbetzin Katia Novominski

Der Sommer ist langsam vorbei und damit beginnt unser herbstlicher Feiertagsmarathon. Einen ganzen jüdischen Monat lang feiern wir was das Zeug hält, so dass man manchmal das Gefühl hat, dass wir diese relativ öde und nicht ganz positive Zeit nach Schawuot (voller Fastentage und Trauerwochen) kompensieren möchten. Die Herbstfeiertage pendeln sich bei den meisten etwas einhaltenden Juden irgendwo zwischen „wunderschön“ und „schon sehr anstrengend“ ein. Aber vielleicht können wir versuchen in diesem Jahr den Zeiger ein wenig mehr in Richtung „wunderschön“ und vor allem „langwirkend“ neigen zu lassen.

Im Idealfall trifft uns der Herbst mit den ernsten Tagen Rosch HaSchana, Jom Kippur und der Zeit dazwischen (im Deutschen sogar oft als „10 furchtbare Tage“ bezeichnet, was nicht grade Optimismus einflößt) nicht unvorbereitet. Einen ganzen Monat Zeit hatte man davor gehabt, um sich an seine Taten im letzten Jahr zu erinnern, Sünden zu bereuen und sich auf das G´ttliche Gericht einzustimmen. Viele fangen an, vor allem kurz vor Rosh HaSchana, aber spätestens am Vorabend von Jom Kippur alle Verwandte und Bekannte durchzurufen und sich „just in case“ pauschal für alles zu entschuldigen, was man getan oder gesagt hat, oder einfach so, damit man sich gesichert entschuldigt hat. So steht man spätestens beim Nehila – dem Abschlussgebet von Jom Kippur vor einem offenen Aron HaKodesh mit dem Gefühl einer gewissen Leere da – alle Sünden sind aufgezählt, alle Gebete sind gesagt, alles, was man an Rosch HaSchana essen sollte – viel und süß – ist gegessen, alles, was man fasten sollte, ist gefastet. Jetzt bleibt nur noch Sukkot zu überleben – und was dann?

Dann fängt man von vorne an neue Sünden anzusammeln, Kalorien von den festlichen Mahlzeiten abzuarbeiten, aber auch alle Vorsätze, die man hatte, zu vergessen. Muss das immer so sein? Nicht unbedingt!

 

Kleine Ziele setzen

Unsere Weisen empfehlen seit eh und je sich zu Rosch HaSchana etwas Kleines vorzunehmen, das man nächstes Jahr besser machen will. Eine kleine Mizwa, eine kleine gute Tat, eine kleine Veränderung, die man aber konsequent das kommende Jahr umsetzen kann. So weit, so gut. Aber was macht man, wenn der berühmt-berüchtigte Jetzer Hara (der böse Trieb) immer wieder kommt und einen bei der Umsetzung jeglicher Pläne und Vorsätze hindert? Und wie kann ich diesen überhaupt erkennen? Woher weiß ich, welche Sachen genau ich in meinem Leben ändern sollte und welche so bleiben sollten, wie sie sind? Wann muss ich handeln, und wann einfach einmal liegenlassen? Was soll ich akzeptieren, und wogegen soll ich ankämpfen? Bevor wir auf die Ebene des kursierenden Spruchs, aka Gelassenheitsgebet, „G´tt, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ landen, möchten wir doch versuchen ein wenig konkreter zu werden.

 

Die lange Liste der Ausreden

Mein persönlicher Jetzer Hara sieht wie ein deutscher Schweinehund aus, nur trägt er eine Kippa, Zizit und hat einen warmen, milden Blick (und tut so, als ob er eine superkoschere Spezies wäre). Er versteht mich am besten, schont mich, sieht zu, dass ich ja nicht zu viel arbeite (und um G´ttes Willen nicht zu viel schreibe!). Er ist immer für mich da, sofort zur Stelle, wenn irgendwelche Aufgaben zu erledigen sind oder wenn Entscheidungen getroffen werden müssen. Nach allem, was ich gehört und gelesen habe, verhalten sich die Schweinehunde anderer Menschen ganz ähnlich. Im Grunde genommen wissen wir meistens schon, was wir in den Angriff nehmen sollten und was so gelassen werden kann – nur steht uns eine mächtige Kraft im Wege und lässt uns zweifeln, Sachen liegen lassen und scheitern. Zu erkennen meistens daran, dass wir etwas nicht tun, was wir tun sollten, weil uns eine sanfte innere Stimme sagt, dass wir uns erstmal ausruhen sollten oder Bedenkzeit einplanen müssen, oder… die Liste der Ausreden ist unendlich lang…

Gut, dass wir darüber einmal gesprochen haben – und was nun? Das Problem und der Bösewicht sind bekannt. Wie wäre es, wenn der Vorsatz und der Plan für das kommende Jahr der Kampf gegen Entscheidungsschwäche und vermeintliche Grenzenaufgabe in der Familie, bei der Kindererziehung und auf Arbeit ist? Klingt nicht gerade nach einer kleinen Mizwa, die uns unsere Weisen empfehlen. Aber vielleicht kann man es runterbrechen, in dem man einen kleinen, aber wichtigen Grundsatz für Entscheidungen und Handlungen einführt. Intuitiv (oder bewusst) orientieren sich (hoffentlich!) viele daran bei der Erziehung der Kinder. Falls jemand das nicht tut, so sollte er dringend damit anfangen!

 

Was nutzt meinen Kindern langfristig?

Und zwar ist die Grundlage der pädagogischen Entscheidungen: was tut meinem Kind langfristig gut, oder anders formuliert, was ist jetzt die richtige Handlungsweise, damit es dem Kind in der Zukunft, v.a. als erwachsenem Menschen gut geht. Natürlich kann man selbst wesentlich schneller den Haushalt erledigen, den Tisch decken, die Betten machen etc., aber wenn ich es den Kindern nicht jetzt beibringe, dann werden sie es mühsam lernen müssen oder stehen in der 4. Klasse beim Schulausflug in der Jugendherberge ratlos da und wissen nicht, wie man ein Kissen in den Bezug steckt. Ich kann alle Entscheidungen für das Kind treffen und am Ende kann das Kind zum Protagonisten der russisch-jüdischen Witze werden, wo das Kind seiner Mutter die Frage zuruft „Mama, ist mir kalt, oder habe ich Hunger?“. (Heutzutage sehen wir im Übrigen genügend erwachsene Menschen, die tatsächlich nie gelernt haben, für sich selbst zu sorgen und Entscheidungen zu treffen. Solange wir es bei unseren Kindern besser machen können, sollten wir es unbedingt tun…)

Was hat aber die Erziehung und in diesem Fall die Frage nach der Zukunft der Kinder mit dem Kampf gegen den Jetzer Hara zu tun? Soviel, als dass wir diesen Grundsatz auch bei unseren täglichen Entscheidungen und Handlungen anwenden können. Und gar nicht in der langfristigen Perspektive: es ist klar, dass es auf die lange Sicht besser ist, die Finger von dem dritten Stück Schokolade zu lassen oder die Arbeit pünktlich zu erledigen. Sondern in einer anderen Formulierung: „welche Arbeit kann ich meinem „zukünftigen Ich“ abnehmen? Was kann ich tun, damit er/sie weniger zu tun hat?“ Nicht global, nicht in 10 Jahren, sondern in einer Stunde oder für morgen. Es gibt Studien der Motivations- und Willenspsychologie, die Beweisen, dass diejenigen Menschen einfacher und schneller handeln, die sich ihr zukünftiges Ich besser und bewusster vorstellen können. Wenn man es schafft, in dieser Kategorie zu denken, so wird vieles einfacher. Will ich es meinem Ich von morgen antun, dass es 2 Stunden früher aufstehen muss, weil ich meine Hausaufgaben nicht gemacht habe oder noch die Arbeitskleidung bügeln muss?

Wenn man versucht, den Jetzer tatsächlich auf das zukünftige Ich fokussieren zu lassen, so bestehen hohe Chancen, dass man einfacher und schneller das tut, was man tun sollte. Hier ist wieder „weniger ist mehr“ gefragt, langsam übt sich – lieber zuerst in einem Bereich, aber dann konsequent. (By the way an dieser Stelle ausnahmsweise mal eine Buchempfehlung – Dr. Kelly McGonigal, die man durchgehend bei diesem Thema zitieren könnte, ist eine US-Psychologin, die zum Thema Willenskraft forscht, schreibt und unterrichtet, und praktischerweise ein Buch geschrieben hat, welches anwendbare Techniken zur Jetzer-Bekämpfung vorstellt – „Bergauf mit Rückenwind: Willenskraft effizient einsetzen“. Erschienen ist das Buch 2012 im Goldmann-Verlag. Davon abgesehen haben unsere Weisen natürlich unendlich viele praktische Tipps hinterlassen.)

Und wann man es tatsächlich geschafft hat, sich auf das kommende Jahr im Einklang und Harmonie mit dem „zukünftigen Ich“ einzustimmen, so wird man hoffentlich die baldigen Feiertage als eine besonders motivierende Zeit des Neuanfangs sehen, sich auf die neuen Herausforderungen des Jahres freuen, eine Vorfreude auf die Zeit nach der Nehila fühlen.

In diesem Sinne, Schana towa u Metuka, ein süßes, erfolgreiches, frisches, motivierendes Neues Jahr, eine gute Einschreibung und Unterschrift im Buch des Lebens, besinnliche und inspirierende Festtage und einen erfolgreichen Kampf gegen den Jetzer für das Wohl des zukünftigen Ich (was auch dem heutigen Ich gut tun wird)!

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