Die Thora im Himmel lernen

Die Zufluchtsstädte in der Maschiach-Ära, der schwerste Krieg, idealer Feminismus und gut dosierte Freude in der Übersicht der Wochenabschnitte der Thora im Monat September

Die jüdische Religion steht nur in scheinbarem Widerspruch zum Feminismus.© Boris Hovrath, AFP

Von Rabbiner Elischa Portnoy

Mit den Parschijot „Schoftim“ (Richter), Ki Tetze (Wenn du ziehst), Ki Tawo (Wenn du kommst) und Nitzawim (Ihr steht) wird im September der „Kern“ des 5. Buches der Thora „Dewarim“ gelesen. Allein in den ersten beiden Wochenabschnitten gibt es 115 der 613 Gebote der Thora! Und selbstverständlich gibt es auch in diesen Texten zahlreiche spannende und lehrreiche Ideen, die fundamentale Prinzipen des Judentums enthalten.

 

Die Erlösung kommt, aber langsam

Der Wochenabschnitt „Schoftim“ beinhalten mehrere spannende und exotische Gesetze, sowie die Vorschriften für die Richter, Könige und Propheten. Weniger spannend sind die Gesetze von „Arei Miklat“ (Zufluchtsstädten), die in der Mitte des Wochenabschnittes diskutiert werden. Das Gebot, dass ein unabsichtlicher Mörder in eine Zufluchtsstadt fliehen muss, wurde in der Thora schon einige Male erwähnt. Jedoch gibt es hier ein paar neue Details, die früher nicht vorkamen. So wird zum Beispiel angekündigt, dass zu den schon früher vorgeschriebenen „Arei Miklat“ in Zukunft noch drei weitere hinzu kommen: „Und wenn HaSchem, dein G‘tt, dein Gebiet erweitern wird, wie er deinen Vätern versprochen hat, und dir das ganze Land gibt, das er verheißen, deinen Vätern zu geben, Wenn du beachten wirst dieses ganze Gebot, es auszuüben, das ich dir heute gebiete, HaSchem, deinen G‘tt, zu lieben und in seinen Wegen zu wandeln alle Tage, dann sollst du dir noch drei Städte hinzutun zu jenen Dreien“.

Wenn man diese Zeile nicht einfach als poetischen Vers, sondern als Vorhersage der Zukunft betrachtet, stellt sich gleich folgende Frage: was bedeutet „dein Gebiet erweitern wird“? Wenn es bedeutet, dass die Grenzen des Landes Israel erweitert werden sollen, wie genau soll das geschehen? Bis nach Europa? Bis nach Amerika?

Unsere Weisen erklären einstimmig, dass der Vers hier über die Messianische Ära spricht: wenn der langerwartete Erlöser kommt, wird nicht nur alles gut sein (alle Juden im Lande Israel versammelt, der 3. Tempel aufgebaut usw.), sondern auch das Land Israel wird vergrößert! Raschi im Namen von Midrasch Sifri bringt, dass es sich um genau drei benachbarte Länder handelt: „…wird dir das Land des Keni, Kenisi und Kadmoni geben“ (was das genau bedeutet, dazu gibt es viele verschiedene Meinungen unter unseren Weisen).

Wenn man diese Erklärung liest, muss man sich eigentlich sehr wundern: wenn es um die messianische Ära geht, wozu braucht man dann Zufluchtsstädte? In der messianischen Zeit sollte eigentlich Frieden und Wohlergehen herrschen. Wie soll dann noch ein Mord möglich sein, wenn auch nur unabsichtlich, so dass der Mörder überhaupt in eine von den Zufluchtsstädten fliehen muss?

Der 7. Ljubawitscher Rebbe Rabbi Menachem Mendl Schneerson (1902-1994) gibt eine faszinierende Erklärung hierfür. Der Rebbe meint, dass man daraus schlussfolgern könnte, dass wenn der Maschiach kommt, nicht unbedingt sofort allgemeiner Friede und Wohlergehen sein muss. Es könnte ein langer dreistufiger Prozess sein: zuerst kommt der Maschiach und beginnt seine „Aufgaben“ zu erledigen: Juden in Eretz Israel sammeln, gegen die Feinde kämpfen, den Tempel aufbauen – so wie es Rambam in „Mischne Tora“ ausführlich beschreibt. In dieser Zeit, vermutet der Rebbe, könnte es durchaus solche Delikte wie Mord und Totschlag geben. Erst wenn der Maschiach seine Ziele erreicht, entsteht die tatsächliche Messianische Ära, wie es der Prophet Jeschajahu so schön ausgedrückt hat: „kein Volk wird wider das andere ein Schwert erheben, und sie werden den Krieg nicht mehr erlernen“. Und irgendwann danach geschieht die Auferstehung der Toten, wie ebenfalls von den Propheten vorhergesagt wurde.

Ob das so sein wird oder anders, wissen wir jetzt natürlich nicht. Aber allein schon das Nachdenken darüber soll uns in unseren unruhigen Zeiten Vorfreude machen.

Der wichtigste Krieg ist der gegen den eigenen Trieb

Der Wochenabschnitt „Ki Tetze“ beinhaltet viele Gebote, darunter einige sehr merkwürdige wie die Gebote über „die schöne Gefangene“ oder „den widerspenstigen Sohn“.

Der Vers, der die Reihe dieser Gebote einleitet, ist folgender: „Wenn du ausziehst zum Krieg gegen deine Feinde, und HaSchem, dein G‘tt, ihn in deine Hand gibt, und du von ihm Gefangene machst“.

Auch wenn der Vers eine eigene einfache Bedeutung hat, so bringen die Weisen der Chassidut eine schöne chassidische Erklärung, die für jeden Menschen relevant ist und jeden inspirieren kann. Den Vers kann man – dieser Erklärung nach – so verstehen, dass es sich hier um den Krieg gegen den eigenen Bösen Trieb (Jetzer haRa) handelt. Um gegen diesen Trieb zu gewinnen, muss man gegen ihn in den „Krieg ziehen“, dagegen aktiv kämpfen. Und erst dann „…HaSchem, dein G’tt, ihn in deine Hände gibt…“ – wirst Du fähig sein, dein Jetzer zu besiegen. Und das Ziel dieses Kampfes ist „…und du von ihm Gefangene machst“ – dass Du Funken der Heiligkeit sammelst, die in dieser Welt zerstreut sind und von Dir eingesammelt werden sollen. Und wenn alle Funken eigesammelt werden, dann wird der Weg für das Kommen des Maschiach frei. Und an diesem Beispiel sehen wir, wie schön und spannend die chassidischen Interpretationen der Thora sein können.

Jedoch kann auch die direkte Bedeutung von Versen und Geboten in dieser Parascha sehr lehrreich sein. So gibt es unter anderem zwei ähnliche Verbote, die in einem Vers zusammengefasst sind (22:5): „Ein Weib soll keine Männertracht tragen, und ein Mann soll keine Weiberkleider anziehen; denn wer solches tut, denn ein Gräuel von HaSchem, deines G‘ttes, ist, wer so etwas tut“. Also, einmal ist der Frau verboten „Männersachen“ anzuziehen, und einmal ist dem Mann verboten typische Frauenkleider zu tragen.

Es stellt sich natürlich die Frage, was daran so schlimm ist, wenn eine Frau zum Beispiel Cargo-Hosen anzieht, oder ein Mann in einem Rock herumläuft? Unsere Weisen geben unterschiedliche Antworten auf diese Frage. So bringt Raschi (Rabbi Schlomo ben Jitzhak, 1040-1105) „die Thora hat nur ein solches Kleid verboten, das zu Unzucht führt“. Mit anderen Wörtern, wenn eine Frau sich „männlich“ kleidet, um wie ein Mann auszusehen und mit Männern zu verkehren und umgekehrt, wenn ein Mann sich „weiblich“ macht, um unter Frauen zu weilen, wird das früher oder später zur Unzucht führen und den Zorn G’ttes erregen.

 

Der Feminismus und die Frauenkleidung

Rambam bemerkt, dass „Umkleiden“ früher bei Götzendienst und Hexerei Praxis war, und deshalb dürfen wir auch nicht annähernd mit diesen verwerflichen Praktiken in Berührung kommen.

Andere Weise meinen, dass der Grund für dieses Verbot darin besteht, dass die Rollen, die Mann und Frau bei der Erschaffung bekommen haben, nicht vertauscht werden sollen: die Frau soll weiblich bleiben, der Mann männlich – und jeder soll seine persönlichen Aufgaben in dieser Welt erfüllen, wie es von G’tt geplant wurde.

Interessant ist, dass entsprechend der Mündlichen Thora nicht nur „fremdes Kleiden“ verboten ist. So darf eine Frau nicht nur keine typischen Männerhosen anziehen, sondern sich auch keine „männliche“ Frisur machen und auch keine Waffen tragen. Und auch für Männer gelten mehrere Halachot in diesem Bereich: unter anderem dürfen Männer ihre Haare nicht färben, wie Frauen es tun usw. Unter Halacha-Experten ist sogar das Verkleiden fürs Theater oder das Purim-Spiel umstritten.

Auch wenn solche Verbote insbesondere für moderne Menschen nicht „zeitgemäß“ oder „zu weit hergeholt“ scheinen, sagt der Ljubawitscher Rebbe, dass die Bedeutung dieser Verbote viel tiefer liegt und eine zeitlose Botschaft beinhalten. Besonders in unserer Zeit, in der der Feminismus eine immer größere Rolle spielt, kann der falsche Eindruck entstehen, dass die Frauen durch solche Gebote in eine „schlechtere Stellung“ als die Männer geraten sollen. Schließlich wurden doch auch Frauen nach dem Ebenbild G’ttes erschaffen. Aber dieser Gedanke, betont der Rebbe, ist ziemlich gefährlich: das degradiert Frauen, vernichtet ihre Einzigartigkeit und ihre eigene Wertschätzung, zwingt sie dem Mann zu „ähneln“. Genau das aber versucht die Thora mit diesen Geboten zu verhindern: wenn die Frau den Mann nachahmt, kann sie ihr eigenes Potenzial nicht entdecken und wird auch nie in den Genuss dieses Potenzials kommen. Die Weiblichkeit ist um G’ttes Willen nicht eine Schwäche, die man überwinden muss, sondern ein Geschenk G’ttes, das geschätzt und anerkannt werden sollte.

 

Dosierte Freude

Der Wochenabschnitt „Ki Tawo“ beginnt mit der Mitzwa von Bikurim (Erstlinge). Nachdem die ersten Früchte geerntet wurden, sollte der jüdische Bauer die Erstlinge der „Sieben Arten“ (Weizen, Gerste, Granatapfel, Weintrauben, Olive, Datteln, Feigen) nach Jerusalem bringen und bei einem der Priester im Tempel abgeben. Bei der Übergabe sollte der Bauer die sogenannte „Mikra Bikurim“ – einen Abschnitt aus unserer Parascha (26:3-10), in dem G‘tt gegenüber Dankbarkeit für Seinen Beistand ausgedrückt wird – rezitieren.

Merkwürdigerweise beginnt diese „Mikra Bikurim“ mit der Erwähnung von schweren Zeiten, die Juden in der Vergangenheit erleben mussten: das gefährliche Leben von Jakow beim Lawan und die Versklavung in Ägypten. „Du sollst anheben und sprechen für HaSchem, deinen Gott: Ein herumirrender Aramäer war mein Vater, und er ging hinab nach Mizrajim und weilte daselbst mit einem geringen Häuflein, und wurde daselbst zu einem Volk, groß, mächtig und zahlreich. Und es misshandelten uns die Ägypter und drückten uns und legten uns schwere Lastarbeit auf.“ Danach folgt die Aufzählung von Wundern, die G’tt für unser Volk vollbracht hatte und die Erwähnung der Tatsache, dass jetzt das Gebot von den Erstlingen erfüllt ist.

Unsere Weisen haben dieses Prozedere als äußert fröhliches und festliches Ereignis beschrieben. Deshalb stellt sich Frage, warum ausgerechnet in einem so freudigen Moment der Bauer die Unglücke der Vergangenheit erwähnen sollte?

Rabbi Jakob ben Jitzhak Aschkenasi (1550-1620) bringt in seinem berühmten Kommentar zur Thora „Tzena uRena“ eine denkwürdige Idee, die auch für uns sehr wichtig sein könnte. Damit lehrt uns die Thora – so Rabbi Jakob – dass sogar bei den freudigsten Anlässen in unserem Leben, unsere Simcha (Freude) nicht ausufern soll. Auch in diesen Momenten sollen wir daran denken, dass es einmal nicht so gut war – und wenn man sich nicht hütet, könnte auch in Zukunft etwas Negatives passieren.

Es gibt eine bekannte Legende über König Schlomo, der einen Gegenstand haben wollte, der die Traurigen fröhlich macht und die Freudigen traurig. Ein Juwelier machte also einen Ring mit einer Inschrift aus den drei Buchstaben Gimel, Zein und Jud. König Schlomo verstand sofort, was diese Buchstaben bedeuten: „Gam ze jaawor“ (auch dies wird vorbei sein).

Deshalb sollte „Mikra Bikurim“ sowohl dem Bauern, der die Erstlinge zum Tempel gebracht hat, als auch allen Generationen von Juden, die diesen Abschnitt lesen, die gleiche Idee mitgeben: es gibt weder ständiges Glück noch ständiges Unglück. Die Zeiten und Lebensphasen ändern sich und wir sollen weder in bodenlose Trauer noch in ausufernde Freude verfallen.

Es gibt nichts Unmögliches

Der viertletzte Wochenabschnitt der Thora „Nitzawim“, der Ende September direkt vor Rosch Haschana gelesen wird, beschreibt den Anfang vom Ende. Es wird begonnen mit der Schilderung vom letzten Lebenstag von Mosche Rabejnu, seinen letzten Taten und seinen Abschiedsworten.

Es gibt keine Zurechtweisungen mehr und keine Erinnerungen an die Vergangenheit, sondern einen dringenden Appell das Gesagte zu verinnerlichen und entsprechend der Gebote und Anweisungen das Land Israel zu erobern und zu besiedeln. Es ist quasi das Testament von Mosche in seiner Liebe zum jüdischen Volk und in der Verantwortung für die große Zukunft seiner Menschen.

In seiner Rede erwähnt Mosche auch die Ereignisse, die vor unseren Augen passieren: die Entstehung des jüdischen Staates nach Tausenden Jahren des Exils („So wird HaSchem, dein G‘tt, zurückführen deine Gefangenen und Erbarmen mit dir haben, und dich wieder sammeln aus all den Völkern, dahin HaSchem, dein G‘tt, dich zerstreut hat… Und HaSchem, dein G‘tt, wird dich in das Land bringen, das deine Väter besessen, und du wirst es besitzen, und er wird dir wohltun und dich vermehren mehr als deine Väter“), eine massenhafte Teschuwa-Bewegung, bei der viele säkulare Juden ihre Tradition entdecken und zum Glauben ihrer Väter finden („Du aber wirst zurückkehren und gehorchen der Stimme von HaSchem, und ausüben all seine Gebote, die ich dir heute gebiete… Wenn du gehorchen wirst der Stimme von HaSchem, deines G‘ttes, zu beachten seine Gebote und seine Satzungen, die in diesem Buche der Lehre geschrieben; so wirst du zurückkehren zu HaSchem, deinem Gott, mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele“).

Und dann spricht Mosche unauffällig das Gebot vom Thora-Lernen an, was aber bei genauer Betrachtung eines der wichtigsten Grundsätze des Judentums beinhaltet: „Es ist nicht im Himmel, dass du sagst: Wer steigt für uns in den Himmel hinauf und holt es uns, und macht es uns kund, dass wir es tun. Und es ist nicht jenseits des Meeres, dass du sagst: Wer reist für uns jenseits des Meeres hin und holt es uns und macht es uns kund, dass wir es tun“. Dazu sagt der große Raschi: „Denn, wenn es im Himmel wäre, müsstest du zu ihm emporsteigen und es dort lernen“.

Was zuerst eine schöne Metapher zu sein scheint, ist jedoch eine außerordentlich wichtige Botschaft: nichts ist unmöglich! Wäre die Thora im Himmel gewesen, so wäre es möglich dorthin zu kommen und im Himmel die Thora zu lernen! Und da die Thora sich doch bei uns auf der Erde befindet, so kann jeder Jude diese erlernen!

Wenn es früher noch Mangel an Büchern und mancherorts an Lehrern gab, so ist es besonders in unserer Zeit ganz anders: es gibt viele große jüdische Verlage, die zahlreiche Thora- und Talmudkommentare in verschieden Sprachen herausgeben, im Internet kann man eine Vielzahl von Videos mit Unterricht (Shiurim) von berühmten Rabbinern aller Richtungen zu allen Themen zu jeder Zeit ansehen, zahlreiche WhatsApp- und Messenger-Gruppen bieten täglichen Halacha- und Mischna-Versand. Man kann heutzutage unglaublich viel Thora lernen und zum großen Gelehrten werden, ohne auch nur das eigene Zimmer zu verlassen!

Deshalb ist gerade für uns die ewige Botschaft „Thora ist nicht Himmel“ aktueller denn je. Und wenn wir diese wunderbare Chance richtig nutzen, dann können wir dem Vermächtnis von Mosche gerecht werden!

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