Der König im Feld

Interessante Bräuche und inspirierende Ideen für eine bedeutungsvolle Vorbereitung zum jüdischen Neujahrsfest Rosch Haschana

Von Rabbiner Elischa Portnoy

Wenn wir an den nichtjüdischen Jahreswechsel denken, fallen uns vor allem solche Begriffe ein wie Feuerwerke, Champagner und gute Vorsätze. Wir alle möchten, dass im neuen Jahr alles besser wird, und wir gesund und erfolgreich werden. Doch all dies, was das „Vorbereiten“ auf den Jahreswechsel beinhaltet (Champagner, gute Vorsätze, Böller), beeinflusst unser Leben im neuen Jahr nur wenig. Die Stimmungsmacher werden schon am Morgen vergessen und die guten Vorsätze werden nicht mehr als ein paar Wochen gehalten. Deshalb bleibt unser Leben nach dem kalendarischen Jahreswechsel meistens so wie im vorigen Jahr.

Ganz anders sieht es mit dem jüdischen Neujahrsfest Rosch Haschana aus. Rosch Haschana ist kein ordinärer Jahreswechsel, dieser Tag ist der Tag des Gerichts! Alles, was im kommenden Jahr passiert, Freude und Unglück, Vergnügen und Leiden, Geburten und Ableben, Krankheiten und Heilungen werden an diesem Tag für das ganze Jahr entschieden. Der große mittelalterlicher Weise Rif (Rabbi Jitzhak ben Jakob Alfasi, 1013-1103) schrieb sogar, dass manche Sachen, die an diesem Tag entschieden werden, das ganze Leben eines Menschen beeinflussen werden!

Wenn man die Bedeutung dieses Tages versteht, dann möchte man natürlich gut darauf vorbereitet sein, um sein Schicksal nicht zu vergeigen.

Unsere Weisen bestätigen, dass die richtige und sorgfältige Vorbereitung tatsächlich nötig ist, und da diese Tage so schicksalhaft sind, haben wir einen ganzen Monat dafür Zeit!

Schon der hebräische Name dieses Monats „Elul“ hat es in sich. Die Buchstaben Alef, Lamed, Vav und Lamed sind laut der Überlieferung ein Hinweis auf den Vers in Schir haSchirim (Hohelied 6:3) „Ani leDodi veDodi Li“ („Ich gehöre meinem Geliebten und mein Geliebter mir“). Daraus entnehmen unsere Weisen, dass dieser Monat sehr besonders ist und großes Potenzial beinhaltet. Doch diese Besonderheit und das Potenzial von Elul sind nicht zufällig entstanden, sondern haben mit bestimmten geschichtlichen Ereignissen zu tun.

 

Das Goldene Kalb

Als die Juden kurz nach dem Auszug aus Ägypten am 17. Tammuz das Goldene Kalb gemacht haben, hat Mosche Rabejnu die von G’tt gegebenen Bundestafeln mit den 10 Geboten zerschlagen. Danach hat Mosche 40 Tage zu G’tt gebetet, um Verzeihung für diese Sünde des Volk zu erbitten. G’tt hat das Gebet Mosches gehört und bat Mosche zwei neue Tafeln zu machen, und auf den Berg zu Ihm zu kommen. Dort verbrachte Mosche noch 40 Tage. Am Ende dieser Zeit bekam unser Lehrer nicht nur die neuen Bundestafeln, sondern auch die vollständige Vergebung der Sünde des Kalbes. Dass Mosche nach diesen letzten 40 Tage am Jom Kippur (Tag der Sühne), am 10.Tischrej zurückkam, bedeutet, dass sein Aufenthalt bei G’tt am Berg Sinai am 1. Elul begann (genau 40 Tage vor Jom Kippur).

Deshalb sagen unsere Weisen im Midrasch Tanchuma, dass so wie die ersten 40 Tage, als Mosche nach der Offenbarung bei der Thora-Übergabe bei G’tt blieb (vom 7. Siwan bis zum 17. Tammuz), voll Wohlgefallen waren, so waren auch diese letzte 40 Tage vom 1. Elul bis Jom Kippur voll Wohlgefallen.

Alle Ereignisse der jüdischen Geschichte hinterlassen einen bleibenden Eindruck in deren Zeit. Deshalb bekam auch der Monat Elul die Eigenschaft von „Jemej Ratzon“ (Tage des Wohlgefallens). Der Alte Rebbe (1. Ljubawitscher Rebbe Rabbi Scheur Salman von Liadi) pflegte die Bedeutung dieser Tage mit einer schönen Parabel zu erklären: ein König, der normalerweise in seinem Palast sitzt, ist für einfache Mensch unerreichbar. Wenn der König jedoch ins Feld spazieren geht, dann haben seine Untertanen die seltene Möglichkeit ihn dort zu treffen, ihn anzusprechen und ihm seine Sorgen und Wünsche zu erzählen.

Das trifft auch auf den Monat Elul zu: während des Jahres sitzt G’tt, der König der Welt, in Seinem „Schloss“, fast unerreichbar für uns. Jedoch, im Elul kommt Er „ins Feld“, näher zu uns, wo wir Ihn leichter „treffen“ können.

Um diese gesegnete Zeit richtig zu nutzen, entstanden zahlreiche Bräuche und Verfügungen unserer Weisen, die in keinem anderen Monat zu finden sind.

 

Schofar-Blasen

So wird den ganzen Elul lang Schofar nach dem Morgengebet Schacharit geblasen. Nur am Tag vor Rosch Haschana unterbricht man es, unter anderen um den Satan (Ankläger) zu „verwirren“ (was natürlich eine tiefere Bedeutung hat). Der Grund fürs Schofar-Blasen ist, das Volk zur Rückkehr zu bewegen, denn die Natur des Schofars ist es, zu erwecken und zu erschrecken – wie es beim Propheten treffend beschrieben ist (Amos 3:6): „Wird wohl in der Stadt ins Schofar gestoßen und das Volk erschrickt nicht?“. Wenn man in der Synagoge nicht anwesend war, kann man auch zu Hause während des Tages ins Schofar blasen. Außerdem wird zusätzlich zu den täglichen Gebeten zweimal am Tag der 27. Psalm gelesen, der uns für Spirituelles sensibilisieren soll.

Ein weiterer bekannter Minhag (Brauch) sind die Selichot (Gebete um Verzeihung). Die Sefarden beginnen damit schon am Anfang des Monats, europäische Juden (Aschkenasim) lesen diese Gebete erst eine Woche vor Rosch Haschana. Da Selichot normalerweise in der Morgenfrühe, noch vor dem Morgengebet rezitiert werden, ist es auch ein Zeichen von uns an G’tt: siehe, wir stehen früher auf, geben uns Mühe, weil wir den Ernst der Lage erkannt haben!

 

Die Auswahl eines würdigen Vorbeters

Diese Gebete sind so wichtig, dass man dafür nach zahlreichen Kriterien einen erfahrenen Schaliach Tzibbur (Vorbeter) zu finden versucht. Er soll idealerweise würdig und groß in der Thora und guten Taten sein, über 30 Jahre alt, Kinder haben und von allen Betern respektiert werden. Eine solche Person sollte auch für das Vorbeten zu Rosch Haschana und Jom Kippur gefunden werden. Konnte man so einen perfekten Vorbeter nicht finden, darf jeder Beter die Gebete führen – Hauptsache ist, dass er von allen in der Gemeinde akzeptiert ist und keine Feinde unter den Gemeindemitgliedern hat. Sonst werden weder seine Tfilla (Gebet) noch jene der Gemeinde vom Himmel angenommen.

In den letzten Jahren verbreitete sich der Minhag Tfillin und Mezuzot im Elul zu prüfen. Man möchte sicher sein, dass wenn man von G’tt gerichtet wird und auf ein gutes Urteil hofft, nicht wegen zufällig unkoscher gewordener heiliger Gegenstände in Bedrängnis kommt.

Der wichtigste Tag bei der Vorbereitung ist der Tag direkt vor dem Feiertag selbst (Erew Rosch Haschana). Viele fasten einen halben Tag (bis Mittag), viele Männer tauchen im rituellen Tauchbad „Mikwe“, um sich spirituell zu reinigen.

Nur vor Roscha Haschana gibt es den Brauch zu den Gräbern der Tzaddikim (Gerechten) zu gehen. Dabei wird natürlich nicht zu den Verstorbenen gebetet, denn das wäre die Übertretung eines Thora-Verbots. Vielmehr hoffen wir, dass die Verdienste dieser gerechten Menschen uns beim Gericht beistehen werden. Deshalb werden am Grab folgende Wörter gesprochen: „Möge es wohlgefällig sein, dass die Ruhe dessen, der hier begraben, in Ehre sein und sein Verdienst mir beistehe“.

Interessanteweise warnen die Kabbalisten davor das selbe Grab an einem Tag zweimal zu besuchen.

Außerdem pflegen viele gleich nach dem Morgengebet die Aufhebung der Gelübde zu machen. Der Text dafür steht in vielen Siddurim, und wenn man es auf Hebräisch nicht versteht, soll man die Aufhebung in der Sprache machen, die man versteht. Am Ende dieses intensiven und ereignisreichen Tages zieht man sich festlich an und geht mit Zuversicht und Freude in die Synagoge.

Es ist natürlich kein Zufall, dass der Monat Elul gerade vor Rosch Haschana kommt. Unser lieber G’tt hat uns eine fantastische Möglichkeit gegeben, uns geistig und spirituell zu steigern und uns zum Gefäß zu formen, das imstande ist, G’ttes Segen zu empfangen.

Und wenn wir uns Mühe geben und diese Möglichkeit aufgreifen, können wir die zwei Feiertage von Rosch Haschana so nutzen, dass wir für uns und unsere Familien ein süßes und gesegnetes Jahr verdienen!

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