Schutz für die Seele

Das Erfüllen von Versprechen, das Beschützen der Seele, die Definition des Fremden und der Fleischgenuss in der Übersicht der Wochenabschnitte des Monats August.

Der Veganismus ist gerade sehr beliebt in Israel. Das Judentum allerdings erlaubt Fleischkonsum. © JACK GUEZ, AFP

Von Rabbiner Elischa Portnoy

Im Monat August haben wir wieder einmal fünf Schabbatot, an deren gleich sechs Parschijot gelesen werden! Mit dem doppelten Wochenabschnitt „Matot-Masej“ („Stämme“-„Reisen“) wird das 4. Buch der Thora „Bamidbar“ beendet, und mit den Parschjot „Dewarim“ („Reden“), „Vaetchanan („Und ich flehte“), „Ekew“ („Sofern“) und Re’e („Sehe“) das letzte 5. Buch der Thora fast zur Hälfte gelesen.

 

Das Versprechen der Politiker

Die Wochenabschnitte „Matot“ und „Masej“ werden sehr oft zusammen an einem Schabbat gelesen, und sie bilden mit 244 Versen die größte Thora-Lesung des Jahres. Wenn man daran denkt, dass die größte Einzel-Parascha („Naso“) „nur“ 176 Verse beinhaltet, ist diese Lesung beachtlich lang.

„Matot“ beginnt mit den Gesetzen über die Gelübde. Das Merkwürdige dabei ist, dass diese Gesetze nicht allen Juden von Mosche mitgeteilt wurden, sondern nur den Stammesfürsten vorgestellt wurden.

„Und Mosche redete mit den Fürsten der Stämme der Kinder Israels und sprach: das ist‘s, was der HERR geboten hat: Wenn jemand dem HERRN ein Gelübde tut oder einen Eid schwört, dass er seine Seele verbindet, der soll sein Wort nicht aufheben, sondern alles tun, wie es zu seinem Munde ist ausgegangen.“

Auch wenn sich alle Kommentatoren der Thora einig sind, dass die Gesetze der Gelübde für alle Juden gelten, versuchen viele nachzuvollziehen, warum in diesem Fall die Fürsten ausdrücklich erwähnt sind.

Es gibt viele verschiedene Herangehensweisen, um das zu erklären. Eine davon ist ziemlich humorvoll und auch in unserer Zeit brandaktuell. Bekanntlich geizen die Politiker vor den Wahlen nicht mit Versprechen. Es solle alles besser werden, dringende Reformen müssen her und alles sollte auch noch schnell und transparent umgesetzt werden.

Nach den Wahlen vergessen oft viele gewählte „Diener des Volkes“ ihre Versprechen zu erfüllen. Deshalb waren die Gesetze, die auf die Wichtigkeit des Erfüllens des Versprechens hinweisen, zuerst den Fürsten gesagt worden, weil für sie dieses Thema besonders bedeutend und relevant ist.

Aber nicht nur für die Politiker ist das Einhalten von Versprechen wichtig. Unsere Weisen haben ausdrücklich betont, wie streng man mit Versprechen umgehen muss. Das Sprechen ist das, was den Menschen von den Tieren unterscheidet, und diese Eigenschaft eines Menschen hat eine unglaubliche Kraft. Mit den Wörtern kann man heiligen und segnen, und mit Wörtern kann man Leben, Karriere oder Frieden zerstören. Deshalb haben unsere Rabbonim uns davor gewarnt leichtsinnig Versprechen zu machen. Nur wenn es sehr nötig ist, darf man sein Wort auf etwas geben, sonst ist es besser zu versuchen das Nötige zu erfüllen, ohne gleich darauf zu schwören. Und aus Kabbala-Quellen ist bekannt, dass das Nichteinhalten von Versprechen schlimme Folgen für die Familie dieser Person haben könnte.

 

Hauptsache – in Bewegung bleiben!

Der Wochenabschnitt „Masej“ ist dafür bekannt, dass dort alle Stationen der Wüstenwanderung aufgelistet sind.

Unsere Weisen bemerken, dass wenn man diese Stationen genauer anschaut, sich herausstellt, dass die Juden während der 40 Jahren in der Wüste sehr wenig unterwegs gewesen sein mussten. Aus 42 erwähnten Übergängen gab es 14 im ersten und 8 im letzten vierzigsten Jahr. In 38 Jahren dazwischen musste das Volk also nur noch 20 Märsche machen. Daraus sehen wir, dass G’tt zu Seinem Volk sehr barmherzig war, auch wenn dieser langer Wüstenaufenthalt durch Sünden verursacht wurde.

Bemerkenswert ist auch, dass der Vers, der diese Stationen auflistet, nicht vom Lagern, sondern von den Wanderungen spricht: „Das sind die Reisen der Kinder Israel, da sie aus Ägyptenland gezogen sind mit ihrem Heer durch Mose und Aaron!“ Daraus können wir auch eine für uns wichtige Idee ziehen: die Hauptsache im Leben ist nicht stehenzubleiben, sondern sich weiterzubewegen, sich weiterzubringen.

Man soll von einem Meilenstein zum anderen gehen, immer neuen Herausforderungen begegnen und sie bewältigen. Ein schöner Fahrplan für die geistige Steigerung bieten uns unsere Weisen im Traktat „Pirkej Avot“:

„Er pflegte zu sagen: Im Alter von fünf Jahren zur Schrift, im Alter von zehn Jahren zur Mischna, im Alter von 13 Jahren zu den Geboten, im Alter von 15 zum Talmud, im Alter von 18 zur Heirat, im Alter von 20 zum Streben, im Alter von 30 zur Kraft, im Alter von 40 zur Einsicht, im Alter von 50 zum Rat, im Alter von 60 die Altersreife, im Alter von 70 das Greisenalter, im Alter von 80 die sittliche Überlegenheit, im Alter von 90 zum Sinnen, im Alter von 100 wie abgestorben für die Welt und ihr entrückt“!

Daraus ist auch zu entnehmen, dass man in jedem Alter eigene Ziele setzen und diese auch erreichen kann, aber nur dann, wenn man nicht stehen bleibt!

 

Die wahre Hölle

Der Wochenabschnitt „Dewarim“, der das 5. Buch der Thora eröffnet, beginnt mit der Zurechtweisung von Mosche an das jüdische Volk. Es stellt sich die Frage, warum Mosche jetzt und warum diese Menschen überhaupt zurechtweisen soll, wenn es sich um eine neue Generation handelt, die sich nicht schuldig gemacht hat!

Der große Thora-Kommentator Raschi (Rabbi Schlomo ben Jitzhak, 1040-1105) bringt mehrere Gründe, warum dieser Zeitpunkt (kurz vor Mosches Ableben) für die Kritik der passendste war. Erstens ist es einfacher einen Vorwurf einmal zu hören, als viele Male. Zweitens, ist es leichter Kritik aufzunehmen, wenn man den Belehrenden nie wieder treffen wird. Drittens, man wird dem Sterbenden nicht grollen und wird seine Wörter ernstnehmen. Viertens, man wird den Sterbenden nicht der Sünden bezichtigen, um selber besser da zu stehen.

Bleibt jedoch die Frage, warum sollte die Generation diese Kritik anhören, die das alles nicht gemacht hat? Ihre Väter, die aus Ägypten ausgezogen sind und viele Fehler in der Wüste gemacht haben, waren schon verstorben. Was sollte also die Zurechtweisung ihrer Kinder bewirken?

Die Antwort ist, dass Mosche ihnen damit vor Augen führen wollte, was passieren könnte, wenn man das eigene Potenzial nicht nutzt und die sich bietenden Möglichkeiten nicht ergreift. Unsere Weisen bemerken, dass dies eine von den berühmt-berüchtigten Qualen sein wird. Wenn der Mensch nach seinem Leben diese Welt verlässt und seine Seele vor G’tt gerichtet wird, wird ihm sein ganz Leben wie in einem Film gezeigt. Und der Mensch wird selbst erkennen, welche Möglichkeiten er ungenutzt ließ, welche vermeidbaren Fehler leichtsinnig gemacht wurden, wie er kostbare Zeit, die für sein spirituelles Wachstum gedacht war, für sinnfreie Beschäftigungen, Streitereien, Gelüste usw. verschwendet hat. Da wird es für die Seele sehr schmerzhaft sein, das alles anzusehen und zu realisieren – eine echte Hölle eben.

 

Der Gerechte verliert nicht

Einer der Vorwürfe, die Mosche in seiner Abschiedsrede macht, ist, dass sich die Juden über die Ernennung von vielen Richtern gefreut haben. Ihre unterschwellige Hoffnung war, dass unter diesen Richtern ihre Verwandten oder Freunde sein werden, und sie damit im Gericht einen Vorteil haben werden.

Jedoch warnt Mosche die ernannten Richter ausdrücklich davor das Gesetz zu biegen: „Keine Person sollt ihr im Gericht ansehen, sondern sollt den Kleinen hören wie den Großen, und vor niemandes Person euch scheuen; denn das Gerichtamt ist G‘ttes“. Die Rabbonan im Traktat „Sanhedrin“ des babylonischen Talmuds erklären die Wörter „denn das Gerichtamt ist G’ttes“ folgendermaßen: „G’tt sagt damit zu den Richtern: was du dem einen wider Recht wegnimmst, zwingst du Mich, ihm wiederzugeben; also hast du Mein Recht gebeugt“.

Basierend darauf entnehmen unsere Weisen einen faszinierenden Gedanken. Manchmal passiert es im Leben eines Menschen, dass er unfair behandelt wurde, manchmal wird er betrogen, benachteiligt oder seine Verdienste werden nicht anerkannt. Dieser Mensch wird traurig, enttäuscht oder sogar wütend. Es kann sogar dazu kommen, dass dieser Mensch für seine Rechte zu kämpfen beginnt und dabei auch zu nicht erlaubten Mitteln greift. Er glaubt ja, dass wenn er keine Gerechtigkeit wiederherstellt, er der Verlierer, der Dumme sein wird. Das stimmt aber nicht, wie uns dieser Vers beweist. Wenn der Mensch etwas ungerechterweise verliert, wird G’tt ihm seinen Verlust erstatten. G’tt wird schon dafür sorgen, dass der Gerechte sein verlorenes auf irgendwelche Weise zurückbekommt und der Betrüger das zu Unrecht erbeutete Geld bei den Ärzten, Anwälten und Behörden zurücklässt.

Wenn man mal Opfer einer Ungerechtigkeit geworden ist, so muss man also weder weinen noch wüten. Man muss sich einfach auf G’tt verlassen – er wird schon dafür sorgen, dass der Gerechte nicht verliert.

 

Auch die Gesundheit ist eine fromme Angelegenheit

Der Wochenabschnitt „Waetchanan“ ist dafür berühmt, dass er gleich zwei wichtige jüdische Texte beinhaltet: die Wiederholung der 10 Gebote und den 1.Abschnitt von „Schma Jisrael“.

Jedoch gib es in der Parascha auch mehrere andere wichtige Grundsätze und Prinzipen, die unser tagtägliches Leben prägen sollen.

So wird erwähnt, dass wir unsere Seelen hüten müssen: „So bewahret nun eure Seelen wohl, weil ihr keine Gestalt gesehen habt an dem Tage, als der HERR aus dem Feuer heraus mit euch redete auf dem Berge Horeb“. Auch wenn die einfache Bedeutung des Verses ist, dass man sich vor Götzendienst hüten muss, so lehren unsere Weisen basierend auf dieser Überlieferung auch, dass man auf die eigene Gesundheit achten muss.

Dabei ist es nicht nur ein guter Rat oder eine schöne gute Idee, sondern eine religiöse Pflicht!

Rambam (Rabbi Mosche ben Maimon, 1135-1204), der selbst praktizierender Arzt war, schreibt in seinem großen halachischen Kodex „Mischne Tora“ sehr viel dazu. Er gibt auch praktische Anweisungen, wie man leben sollen, um gesund zu sein und ein langes Leben haben. Es ist unmöglich, schreibt Rambam, Gebote auszuführen und G’tt zu erkennen, wenn man krank und schwach ist. Deshalb muss man sich von Dingen fernhalten, die für seinen Körper schädlich sind und sich an die Sachen gewönnen, die nützlich und gesund sind.

Auch andere unserer Weisen in allen Generationen haben oft die Wichtigkeit der Gesundheit für das religiöse Leben betont. Mezerizher Maggid, Rabbi Dov Ber (18. Jahrhundert) sagte einmal, dass ein kleines Loch im Körper ein großes Loch in der Seele verursachen kann.

Interessanterweise gibt es eine Aussage im bekannten kabbalistischen Werk „Sohar“, dass scheinbar diesen Aussagen wiederspricht. Dort steht, dass die Schwächung des Körpers die Stärkung der Seele verursacht. Der 7. Ljubawitscher Rebbe Rabbi Menachem Mendl Schneerson (1902-1994) erklärt, dass es hier keinen Wiederspruch gibt. Im „Zohar“ ist gemeint, dass man nicht nur auf den Körper und die Fitness achten darf. Man kann stark und kerngesund sein, aber wenn man sich nicht um die eigene Seele kümmert, liegt man ebenfalls falsch. Deshalb muss jeder Mensch eine richtige Balance finden: man muss sich schon um das eigene Wohlbefinden kümmern und den Körper nicht verkümmern lassen. Jedoch soll es nicht auf Kosten der geistigen Entwicklung gehen und nicht Ziel statt Mittel sein.

 

Segnen, wenn du satt bist

Auch im Wochenabschnitt „Ekew“ gibt es viele bekannte und grundlegende Gebote, wie z.B. das Gebot die eigenen Kinder die Thora zu lehren oder sich um das Wohl der Tiere zu sorgen. Unter anderem befindet sich dort auch das bekannte Gebot nach dem Essen zu „Bentschen“ (segnen): „Darum, wenn du gegessen hast und satt geworden bist, sollst du den HERRN, deinen G‘tt, loben für das gute Land, das er dir gegeben hat“.

Es ist bemerkenswert, dass dieser Segenspruch der einzige Segenspruch bezüglich des Essens ist, den uns die Thora befiehlt. Die Thora verlangt nicht vor dem Essen zu segnen – das haben unsere Weisen eingeführt. Stellt sich die Frage, warum das so ist und was der Unterschied zwischen dem Segen vor - und jenem nach dem Essen ist!

Unsere Weisen zeigen uns, dass der Unterschied leicht nachzuvollziehen ist: wenn man hungrig ist oder in Not, dann versteht man gut, dass man auf G’tt angewiesen ist und ohne Seinen Beistand auch das Essen nicht unbedingt da wäre. Deshalb fällt das Segnen vor dem Essen nicht schwer. Jedoch wenn man satt ist, wenn es einem gut geht, dann tendieren die Menschen dazu G’tt zu vergessen. Man glaubt, dass man seinen Wohlstand aus eigenen Kräften und durch eigene Talente verdient hat. Einige jüdische Kommersanten, die vor der kommunistischen Revolution in Russland sehr reich waren, haben erzählt, dass sie sicher waren, dass ihnen nichts passieren kann. Jedoch kam die Revolution, sie haben in kurzer Zeit alles verloren und viele von ihnen wurden in die Lager nach Sibirien geschickt. Dort haben sie verstanden, dass man auch bei Wohlstand, im „Satt-Sein“, G’tt segnen soll.

 

Freudiger Fleischgenuss

Es ist ein heiß und kontrovers diskutiertes Thema in unserer heutigen Welt: darf man Fleisch essen, und wenn ja – würde es vielleicht Sinn machen auf Fleischkonsum freiwillig zu verzichten?

Die üblichen Argumente pro und kontra sind bekannt. Was aber sagt die Thora dazu?

Im Wochenabschnitt „Re’e“ wird dieses Thema angesprochen:

„Wenn aber der HERR, dein G‘tt, deine Landesgrenzen erweitern wird, wie er dir versprochen hat, und du sprichst: ‚Ich will Fleisch essen!‘ weil deine Seele gelüstet, Fleisch zu essen, so iss Fleisch nach aller Lust deiner Seele“.

Mit diesem Vers scheint die Frage zum Fleischkonsum eigentlich eindeutig beantwortet zu sein. Außerdem weiß jeder, der mit dem authentischen jüdischen Leben in Berührung kam, dass die Fleischgerichte ein fester Bestandteil der Mahlzeiten am Schabbat und an den Jomim Towim (Feiertagen) sind. Hähnchensuppe am Freitagabend, Tscholent mit Rindfleisch am Schabbesmittag, Kischke und Leberpastete am Jom Tow sind weltweit bekannt und beliebt.

Doch, wie es so oft im Judentum der Fall ist, ist auch die Frage des Fleischessens nicht so einfach. Schon zu den oben erwähnten Worten im Vers „Wenn aber der HERR, dein G‘tt, deine Landesgrenzen erweitern wird…“ zitiert Raschi eine Lehre unserer Weisen aus dem Traktat Chulin: „Die Thora lehrt hiermit eine Lebensregel, dass man nur im Überfluss und Reichtum verlange Fleisch zu essen“. Mit anderen Worten ist der Fleischkonsum kein Muss, sondern eher ein Bonus: nur wenn man genug für Brot und Wein hat, darf man sich das Fleisch leisten. Außerdem bemerken unsere Rabbonim, dass Fleisch eine schwere Kost ist und es die „tierischen“ Elemente in unserer Seele stärken könnte.

Anderseits war Essen vom Opferfleisch eines der wichtigsten Elemente des Tempeldienstes, als der Tempel noch stand. Darauf bezieht sich auch die Aussage unserer Weisen im Talmud, dass es keine größere Freude für den Mann gibt als das Fleisch und den Wein.

Was ist also angesagt? Darf man Fleisch essen oder sollte man besser zum Vegetarier werden? Die Antwort ist eigentlich ziemlich simpel: G’tt hat uns schon viele Lebensmittel wie Schwein oder Raubvögel verboten. Wenn also das erlaubte Fleisch schon existiert, dann ist es für die Menschen nicht nur gesund, sondern auch nötig, und diejenigen, die Fleisch „aus Überzeugung“ ablehnen, liegen falsch und haben die jüdischen Werte nicht verstanden. Jedoch muss man sicherlich nicht jeden Tag Fleischgerichte konsumieren. Der Genuss von Tscholent am Schabbes oder Leberpastete am Jom Tow aber tun unserer Gesundheit gut und verhelfen zur richtigen Freude an diesen speziellen Tagen.

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