„Warum bist du der, der du bist?“

© MIGUEL MEDINA/AFP
Was beeinflusst den Menschen stärker, seine Anlagen oder seine Erziehung? Moderne oder antike Geschichten über das Vertauschen von Babys oder fragwürdige Experimente in der Zwillingsforschung geben Einblick in die Entwicklung der Menschen. Rabbi Nachman stellt die Bedeutung von sozialer Herkunft und Umgebung für die Entwicklung eines Individuums in Frage. Er verdeutlicht die Bedeutung von Identität, Selbstbild und persönlichen Werten für das individuelle Glück. (JR)
Es gibt eine uralte Frage, mit der sich jeder von uns beschäftigt: "Warum bist du der, der du bist? Weil du so aufgewachsen bist, oder ist es etwas anderes – Seele? Schicksal? Genetik?" Philosophen nehmen die Natur und die Erziehung miteinander ins Streitgespräch. Akademisch lautet die Frage: Was beeinflusst den Menschen stärker, seine Anlagen oder seine Erziehung?
Der Dokumentarfilm “Drei gleiche Fremde” (2018) erzählt die schockierende Geschichte von Drillingen, die bei ihrer Geburt getrennt wurden, ohne es zu wissen.
1980, besuchte einer von ihnen, Bobby, das Sullivan County Community College in den New Yorker Catskills. Er merkte sehr schnell, dass hier etwas nicht normal ist, denn viele Leute die er gar nicht kannte, grüßten ihn. Er wurde sogar von Mädchen geküsst und alle nannten ihn „Eddy“. Als ein Kumpel von Eddy nicht verstand, warum er sich so komisch verhält und in ein anderes Zimmer im Studentenwohnheim geht, wurde allen klar, dass das nicht Eddy ist, sondern Bobby, Eddys Zwillingsbruder. Als dann später auch noch David auftauchte war die Verwirrung perfekt.
Diese Geschichte hört sich sehr herzerwärmend an, doch die wahre Geschichte dahinter ist sehr grausam. Edward 'Eddy' Galland, David Kellman und Robert 'Bobby' Shafran, die drei Brüder, waren Versuchsobjekte in einem geheimen Experiment. Die Adoptionsagentur trennte die Drillinge vorsätzlich und vermittelte sie an unterschiedliche Familien: eine Arbeiterfamilie, eine Familie der Mittelschicht und in die eines wohlhabenden Arztes. Forscher versuchten dann herauszufinden, wie sich die Jungs mit den gleichen biologischen Voraussetzungen entwickeln würden, wenn sie getrennt voneinander und geprägt von unterschiedlichen Erziehungsstilen, aufwachsen.
Auch Rabbi Nachman, der chassidische Tzaddik aus Breslev, erzählt uns so eine unfassbare und schockierende Geschichte, die jeden Hollywood-Film locker übertrifft: „Die ausgetauschten Kinder“ fesselt wie ein Krimi.
Eine Hebamme vertauscht nach der Geburt absichtlich zwei Babys, den Sohn der Königin mit dem Sohn der Hausdienerin, um zu sehen, was passieren wird. Und es passiert eine Menge!
Zwillingsstudie
Rabbi Nachman stellt zunächst die Bedeutung von sozialer Herkunft und Umgebung für die Entwicklung eines Individuums in Frage. Der echte Prinz, der nun in Armut aufwächst, entwickelt sich dennoch zu einem klugen und tugendhaften jungen Mann, während der Sohn der Magd, der im Palast aufwächst, egoistisch und verwöhnt wird.
Ich habe dazu mal eine sehr spannende Zwillingsstudie der Humboldt Universität Berlin gelesen. Es ging da um zwei Zwillingsbrüder. Ihre Eltern waren kein Musterbeispiel an Erziehung, beide hochkriminell, drogen- und alkoholsüchtig und landeten schließlich hinter Gittern. Einer der beiden Zwillinge entwickelte sich zu einem erfolgreichen Menschen, sowohl familiär als auch beruflich. Sein Bruder hingegen plagte dasselbe Schicksal seiner Eltern, auch er war vorbestraft und mit Suchtproblemen im Gefängnis. Die Forscher stellten den Zwillingen dann dieselbe Forschungsfrage: “Warum denkst du, ist aus dir geworden, was du heute bist?”
Die Antwort beider ist verblüffend und auch noch dieselbe: “Ja mit solchen Eltern, was soll da schon aus mir werden!?”
Das Leben ist also nicht nur schwarz und weiß, sondern farbenfroh. Auch wenn die “Startbedingungen” nicht unbedingt perfekt sind, kann man sein Leben in schöne Sphären bringen. Äußere Umstände bestimmen zwangsläufig nicht das innere Wachstum und die Entwicklung eines Menschen.
Falscher Fokus
Als die Wahrheit über den Babytausch schließlich ans Licht kam, mussten sich der echte Prinz und der Sohn der Magd mit ihrer neuen Identität auseinandersetzen. Das war für Beide nicht einfach und jeder wählte für sich die Flucht aus dem Königreich. Eines Nachts, kam es dann zu dem sagenhaften Treffen zwischen den echten Prinzen und dem Sohn der Magd. Sie trafen dabei auch auf einen Mann im Wald, der sie fragte, was sie im Wald verloren haben?
Sie erzählten ihm, dass sie ihren Tieren hinterherlaufen, sie versuchen sie wieder einzufangen. Als der Mann (des Waldes) das so hörte meinte er: "Hör endlich damit auf, deinen Sünden hinterherzujagen, denn das sind gar keine Tiere, sondern deine Sünden, die dich so herumführen. Genug jetzt! Du hast deine Strafe schon erhalten. Nun hört auf, ihnen weiter hinterherzujagen. Komm mit mir; du wirst zu dem gelangen, was für dich richtig ist."
Was genau jagen wir hinterher? Und wieso?
Was - unseren Ängsten, unseren eigenen Fehlern und negativen Verhaltensweisen jagen wir hinterher.
Wieso? Psychologisch betrachtet offenbart Rabbi Nachman uns auch wieso nicht, also auf welche verschiedene Faktoren sich so ein falsches “Jagdverhalten” zurückzuführen lässt.
1. Bei unseren Protagonisten sehen wir ein niedriges Selbstwertgefühl, bei dem man sich selbst als unwürdig oder schlecht betrachtet und daher immer wieder auf seine Fehler zurückgeworfen wird.
2. Ebenso sind Muster der Selbstbestrafung zu erkennen, bei dem man unbewusst dazu neigt, sich für seine Fehler zu bestrafen, anstatt konstruktive Lösungen zu finden.
3. Außerdem erkenne ich in der Erzählung große Ängste, die Angst vor dem Versagen, die Suche nach Anerkennung, die Unsicherheit im Beziehungsleben, die Flucht vor der eigenen Vergangenheit, die Herausforderung der Verantwortungsübernahme, die Angst vor der Zukunft, die Flucht vor der Einsamkeit und die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit.
Rabbi Nachman verdeutlicht in dieser Geschichte die Bedeutung von Identität, Selbstbild und persönlichen Werten für das individuelle Glück.
Wenns es also zwickt: Lass los! Fokussiere dich auf dein persönliches Wachstum und deine positiven Veränderungen.
Wir sollen unsere Sünden oder Fehler als solche anerkennen, aber wir dürfen sie auf keinen Fall zu unserem Lebensmittelpunkt machen, denn dort muss Emuna stehen, dein persönliches Kraftwerk.
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