Jom Kippur – Warum Versöhnung wichtig ist

Betende Juden in der Synagoge am Jom Kippur, Gemälde von Maurycy Gottlieb, 1878© WIKIPEDIA

Der höchste jüdische Feiertag wird u.a. auch der „Versöhnungstag“ genannt. Im Mittelpunkt steht das Fasten und die Teschuwa (Buße). Am Neujahrstag werden jedem Menschen seine guten Taten gegen seine Sünden abgewogen. Es wird entschieden, wer das kommende Jahr überleben soll und wer nicht. Die Menschen beten, dass sie auch im kommenden Jahr in das Buch des Lebens eingeschrieben werden mögen. Am Yom Kippur Tag wird die göttliche Entscheidung besiegelt. (JR)

Von Rabbiner Igor Mendel Itkin

Der heiligste Feiertag des Jahres ist Jom Kippur, der Versöhnungstag. Er besteht aus zwei Grundelementen: Fasten und Teschuwa. Teschuwa bedeutet Buße, Umkehr von seinen bösen Taten und Hinwendung zu den Mitzwot. Auf diese Weise versöhnen wir uns mit Gott und hoffen auf die Vergebung unserer Sünden. Doch wie genau funktioniert Teschuwa und welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein?

Im Folgenden möchte ich Auszüge aus einem klassischen Text des großen jüdischen Philosophen Maimonides vorstellen. Seit achthundert Jahren ist es notwendig, diesen Text vor Jom Kippur zu studieren, um das Herz für die Teschuwa zu öffnen. Wer alle zehn Kapitel in einer von mir überarbeiteten Fassung lesen möchte, kann dies ab Rosch Haschana auf sefaria.de oder talmud.de tun.

Alle Vorschriften der Heiligen Schrift, seien es Gebote oder Verbote, verlangen, dass derjenige, der wissentlich oder unwissentlich gegen sie verstößt und dies später bereut, dies vor Gott, gepriesen sei Er, bekennt. Denn es heißt (Num. 5:6-7): „Wenn ein Mann oder eine Frau irgendeine Sünde begeht und sich gegen den Ewigen versündigt, so sind sie schuldig. Sie sollen aber ihre Sünde, die sie begangen haben, bekennen“. Dies deutet nun auf ein mündliches Sündenbekenntnis hin, weshalb es sich auch um eine Gebotsvorschrift handelt.

Das Sündenbekenntnis wird wie folgt gesprochen: „Ich flehe Dich an, o Ewiger, ich habe gefehlt, ich bin abgewichen, ich habe die Gebote vor Deinem Angesicht übertreten, ich habe dies und jenes getan. Doch nun bereue ich es, schäme mich meiner Missetaten und will es nicht mehr tun.“ Dies ist die Grundlage des Sündenbekenntnisses; wer aber sein Bekenntnis noch mehr ausdehnt und länger bei dieser Handlung verweilt, der ist nur zu loben.

Ebenso haben alle, die Sünd- und Schuldopfer darbringen, durch das bloße Opfer keine Vergebung ihrer wissentlichen Schuld zu erwarten, solange sie nicht Buße (Teschuwa) getan und ihre Sündenbekenntnisse ausgesprochen haben, wie auch geschrieben steht: „Und er soll bei dem Opfer bekennen, worin er gesündigt hat.“ (Lev. 5:5).

 

Teschuwa Teil der Sühne

Ebenso wird demjenigen, der durch das Gericht die Todesstrafe verwirkt oder eine Geißelstrafe verdient hat, durch die Strafe allein noch keine Vergebung zuteil, solange er nicht Teschuwa getan und sein Bekenntnis abgelegt hat. Ebenso wird demjenigen, der seinem Nächsten an Leib oder Gut Schaden zufügt, auch wenn er ihn später dafür entschädigt, nicht vergeben, wenn er nicht zugleich seine Sünden bekennt und als Büßer den festen Vorsatz fasst, nie wieder so etwas zu tun.

Von einer vollkommenen Teschuwa kann z.B. gesprochen werden, wenn jemand denselben Gegenstand, der ihn früher zur Sünde verleitet hat, wieder in die Hände bekommt, es auch in seiner Macht steht, dieselbe Sünde wieder zu begehen, und er dennoch aufgrund der Kraft seiner Teschuwa und nicht bloß aus Furcht oder Ohnmacht davon absieht, sie zu begehen, sie nicht ausführt.

Wer also einer Frau in sündhafter Weise beiwohnt, nach einiger Zeit wieder mit ihr allein ist, sie noch immer mit derselben Leidenschaft liebt, noch immer seine ungeschwächte körperliche Kraft besitzt, sich auch in derselben Stadt aufhält, in der er die Sünde begangen hat, – und sich reuig der Sünde enthält, der heißt ein vollkommener Teschuwa Tuender. Dies wollte Salomo mit den Worten sagen: „Und gedenke deines Schöpfers in deiner Jugend“ (Koh. 12:1).

Tut er aber die Teschuwa erst in höherem Alter oder gar zu einer Zeit, wo er das, was er früher zu tun pflegte, nicht mehr vermag, so ist die Teschuwa zwar nicht vollkommen, aber sie dient ihm doch zum Heil, und er wird auch ein Büßer genannt. Ist ein solcher auch sein Leben lang ein Sünder gewesen, und er tut an seinem Sterbetage Teschuwa und stirbt in derselben, so werden ihm doch alle seine Sünden vergeben.

Das eigentliche Wesen der Teschuwa besteht darin, dass der Sünder sich von seinen Sünden lossagt, sie aus seinen Gedanken entfernt und in seinem Herzen den festen Entschluss fasst, sie nicht mehr zu begehen, Auch muss er bereuen, was er zuvor getan hat.

Die Teschuwa, wie auch der Versöhnungstag, haben nur die Kraft, die Sünden zu vergeben, die der Mensch gegen Gott begangen hat, z.B. wenn jemand eine verbotene Speise gegessen oder einen verbotenen Umgang mit Frauen gehabt hat und dergleichen mehr. Aber das Unrecht, das ein Mensch einem anderen angetan hat, z. B. wenn jemand seinem Nächsten Schaden zugefügt, ihn beleidigt oder beraubt hat und so weiter, wird ihm nie und nimmer vergeben, ehe er nicht seinem Nächsten das zurückgezahlt hat, was er ihm schuldig war, und ihn besänftigt hat; und wenn er ihm nun auch das Geld zurückgezahlt hat, was er ihm schuldig war, so muss er ihn doch zu besänftigen suchen und ihn um Verzeihung bitten.

 

Verzeihen statt Hartherzigkeit

Auch wenn jemand seinen Nächsten nur mit Worten beleidigt, soll er ihn so lange um Verzeihung bitten, bis der Beleidigte ihm wirklich verziehen hat. Will dieser ihm aber auf seine bloße Bitte hin nicht verzeihen, so soll er eine Versammlung von drei Freunden zu ihm bringen, die ihn bitten und für den Flehenden um Verzeihung bitten. Ist er aber auch dadurch nicht zu besänftigen, so bringe er ihm eine solche zweite und dritte Versammlung. Lässt er sich aber auch dann nicht besänftigen, so kann der Beleidiger sich von ihm entfernen, und die Schuld liegt dann bei dem, der nicht verzeiht.

Es ist aber dem Menschen verboten, hartherzig und unerbittlich zu sein, sondern er soll leicht zu besänftigen und schwer zu erzürnen sein, und er soll von ganzem Herzen und mit williger Seele verzeihen, wenn der Beleidiger ihn um Verzeihung bittet. Wie viel Böses er ihm auch angetan und an ihm verübt haben mag, so soll er sich doch nicht rächen und nicht nachtragen. Dies ist die eigentümliche Weise der Kinder Israel und ihres von Gott gestärkten Herzens.

Jeder Mensch begeht gute Taten und Sünden. Wer mehr gute Taten als Sünden begeht, ist fromm; wer mehr Sünden als gute Taten begeht, ist ein Frevler. Der Mensch, bei dem sich die guten und bösen Taten die Waage halten, wird als mittelmäßig bezeichnet. Wessen Sünden die guten Taten entschieden überwiegen, der wird um seiner Sünden willen umkommen, wie geschrieben steht (Hos. 9:7): „wegen der Größe deiner Schuld“. Ebenso müsste die ganze Welt untergehen, wenn ihre Sünden die guten Taten entschieden überwiegen würden, wie geschrieben steht: (Gen 6:5) „Und der Herr sah, dass die Sünde der Menschen auf Erden zu groß war“. Und so wie die guten Taten eines Menschen in seiner Todesstunde gegen seine Missetaten abgewogen werden, so werden die Sünden eines jeden Erdenmenschen alljährlich am Neujahrstag gegen seine guten Taten abgewogen. Wer als fromm befunden wird, der ist für ein weiteres Leben besiegelt; wer frevelhaft befunden wird, der fällt dem Tode anheim. Über den Mittelmäßigen aber bleibt das Urteil aufgeschoben bis zum Versöhnungstage, wo er zum Leben oder auch zum Tode geführt wird, je nachdem er Teschuwa getan oder nicht.

 

Schofar erweckt die Schlafenden

Obwohl das Blasen der Posaune (Schofar) eine einfache Vorschrift des Gesetzes ist, hat es doch eine tiefere Bedeutung, als wollte es sagen: „Erwacht, die ihr schläft, aus eurem Schlummer, und ihr, die ihr schläft, aus eurem tiefen Schlaf, erforscht eure Taten, kehrt um zur Buße und gedenkt eures Schöpfers! Laßt euch ermahnen, die ihr in den Nichtigkeiten der Zeit die Wahrheit vergesst und eure Lebensjahre in Eitelkeit und Leere verbringt, was nicht hilft und nicht rettet. Richtet euren Blick auf eure Seelen, bessert eure Wege und Taten, und ein jeder von euch verlasse seinen sündigen Weg und wende sich ab von seinen bösen Gedanken“.

Darum muss jeder Mensch sich immer als halb gerecht und halb schuldig oder frevelhaft betrachten, so wie die ganze Welt halb gerecht und halb schuldig ist. Begeht er nun eine Sünde, so fällt sie für ihn wie für die ganze Menschheit entscheidend in die Waagschale des Bösen und bringt Verderben. Tut er aber Gutes, so gibt er nicht nur für sich, sondern auch für die ganze Welt den Ausschlag zum Guten und verschafft sich und allen Menschen Hilfe und Heil, wie geschrieben steht: (Prov. 10:25): „Und der Fromme ist der Welt Stütze“, das heißt: Der Fromme kann für die ganze Menschheit den Ausschlag geben und sie retten. Darum ist es auch Brauch im ganzen Hause Israel, insbesondere Wohltätigkeit und Almosen zu üben und viele heilige Gebote zu halten, und in der Zwischenzeit vom Neujahrs- und Versöhnungstag noch mehr als das ganze Jahr hindurch. Man hat auch allgemein den Brauch angenommen, während dieser zehn Tage noch in der Nacht aufzustehen, um in den Synagogen zu beten, Buße zu tun und Reue zu empfinden, bis der Tag anbricht.

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