Wie politisch darf die Theologie des Judentums sein?

Diese Frage untersucht Elisa Klapheck in ihrem Buch „Zur politischen Theologie des Judentums“. Nach Klaphecks Lesart verlangt die Thora vom Menschen nicht ausschließlich den bedingungslosen Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes, sondern gewährt ihm auch Gestaltungspielräume, wie es an vielen Stellen der Bibel erkennbar ist. Freilich eine Gestaltung, die an Gott „rückgebunden“ werden muss. (JR)

Von L. Joseph Heid

Elisa Klapheck ist seit 2009 Rabbinerin am Egalitären Minjan in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt/Main, Professorin für Jüdische Studien an der Universität Paderborn, Biografin von Deutschlands ersten Rabbinerin „Fräulein“ Regina Jonas mit dem bezeichnenden Titel: „Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?“ Darüber hinaus ist Elisa Klapheck mit bemerkenswerten Publikationen hervorgetreten, aus denen ihre Dissertation aus dem Jahre 2014 über die Philosophin Margarete Susmann und deren jüdischer Beitrag zur politischen Philosophie hervorsticht. 2012 beantwortete Klapheck in ihrem autobiografischen Essay die Frage, wie sie selbst Rabbinerin wurde.

Seit 2015 gibt Elisa Klapheck bei Hentrich & Hentrich die Schriftenreihe „Machloket – Streitschriften“ heraus. Das Wort „Machloket“ steht für Streitbarkeit, ein urjüdisches Thema. Wenn im Talmud zwei Rabbiner eine Machloket, einen Streit, austragen, geht es nicht darum, dass der eine gewinnt und der andere verschwindet, sondern beide Meinungen um des Ganzen willen zur Geltung kommen. Diese Art von Streitbarkeit soll die halbjährlich erscheinende Schriftenreihe „Machloket“ bestimmen. Damit hat Klapheck ein Forum für jüdische Auseinandersetzungen mit relevanten gesellschaftlichen Gegenwartsfragen eröffnet, wie: Europa als Wertegemeinschaft, Menschenrechte und demokratischer Rechtsstaat, Religionsfreiheit, angewandte Ethik, Säkularität, bürgerschaftliches politisches Engagement als jüdische Praxis, Kritik des Christentums und des Islams etc.

Elisa Klaphecks jüdische Stimme, die sich in Streitkultur übt und sich damit in bester jüdischer Tradition über die Frage bewegt, sollen, dürfen oder müssen sich Juden für Politik interessieren, sich einmischen? Die Antwort versteht sich von selbst. Die beschriebene Art von Streitbarkeit bestimmt das publizistische Wirken von Elisa Klapheck, dass sie auch in ihrer neuesten Studie über die politische Theologie des Judentums eindrucksvoll bestätigt. Eigener Selbsteinschätzung nach ist sie eine „politisch bewusste“ Rabbinerin. Und das ist gut so.

 

Gott als politischer Partner der Menschen

Bei Elisa Klapheck steht das Politische im Zentrum der jüdischen Theologie und hier das „gewandelte Verhältnis“ des Menschen zu Gott. Die politische Theologie des Judentums entsteht aus dem produktiven Konflikt des Menschen mit Gott. Und ihre Kernthese lautet: Der in den ersten Bibelerzählungen als machtvollkommener, unbeschränkte Herrschaft verlangende als Despot dargestellte Gott entpuppt sich später als politischer Partner der Menschen, die sich Rechtsnormen zu unterwerfen haben. Damit lässt sich Gott auf eine Integration in die gesellschaftliche Realität ein. Elisa Klapheck: „Die politische Theologie des Judentums vertritt eine Auffassung von einem Gott, der zum Politischen fähig ist – der also nicht in einer Theokratie seine höchste Wirkung findet, sondern im Aushandlungsprozess mit den Menschen seine Geltung erlangt“. Das mündet in eine Einstellung, die auf den Primat des Rechtsstaats hinausläuft und bezeugt eine religiös-säkulare Spannung, die um die zwei Quellen ihrer Rechtstraditionen weiß. Göttlich offenbarte Gesetze sowie weltlich beschlossene Gesetze.

Nach Klaphecks Lesart ist die Thora keine Schrift, die vom Menschen bedingungslosen Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes verlangt, sondern in der die Menschen in einem Aushandlungsprozess mit Gott immer wieder Räume der weltlich-politischen Gestaltung zu erringen suchen – freilich eine Gestaltung, die an Gott „rückgebunden“ werden muss. Diesen Prozess leitet sie aus den rabbinischen Schriften ab, nach denen sich Gott, aristotelisch verstanden, auf die neuen Anforderungen einlässt. Gott mag sich nicht festlegen, indem er zwar eine „theokratische Diktatur“ wolle, diese jedoch zugleich zurückweise. Daraus folgt, dass der Mensch mit Gott ringen müsse. Der dadurch entstehende politische Raum dient Gott zur Ausgestaltung der menschlichen Gesellschaft. Kurz: Die religiös-politische Herausforderung besteht darin, Gott in die säkularen Lebenswelten einzubeziehen.

 

„Die Verbesserung der Welt“

Auf einen der sieben Essays sei, pars pro toto, näher eingegangen: Es handelt sich hier um den produktiven Konflikt mit Gott, den Elisa Klapheck in fünf religiös-säkulare Konzepte innerhalb der jüdischen Gegenwartstheologie abhandelt. Dem Theokratie verlangenden Gott stellen die Menschen einen Autonomievorschlag entgegen, indem sie sich bemühen, göttliche Gesetze - auf menschliche Bedürfnisse heruntergebrochen - zu „korrigieren“! Diese Konzepte sind „uralt“, reichen in die einstigen talmudischen Debatten zurück, wobei es sich zuvorderst um „Tikkun Olam“ handelt, die „Verbesserung der Welt“. Elisa Klapheck übersetzt dieses religiöse Axiom mit „Korrektur“ oder, prononcierter, mit „Reparatur der Welt“, eine Reparatur, die in der jüdischen Tradition an die Stelle messianischer Heilserwartungen getreten ist. Auf die Gegenwart übertragen meint es vor allem: „soziales Engagement“.

Die Klaphecksche Translation verweist auf ihre eigene religiös-rabbinische Sicht: „Verbesserung“ und „Reparatur“ sind zwei voneinander geschiedene Haltungen. Die „Verbesserung“ der Welt geht von einer Welt aus, die an sich in geregelten Bahnen läuft, die scheinbar vervollkommnet, vielleicht verschönert werden könnte – ein erstrebenswertes Ziel, um dass sich der Einzelne bemühen sollte. „Reparatur“ meint dagegen das grundsätzlich Ganze, die Schöpfung selbst: Danach ist die Welt aus den Fugen geraten, sie muss wieder in Stand gesetzt werden, Schäden müssen behoben, nicht verbessert, sondern ausgebessert werden – ein Eingriff in die Schöpfung.

 

Ein Himmelreich auf Erden

In Tikun Olam steckt ein religiös-säkulares Potenzial und wer sich dies zu eigen macht, identifiziert sich mit der demokratischen pluralistischen Gesellschaft und zeigt zugleich ein Bewusstsein für die religiöse Tradition des Judentums: Kein Warten mehr auf den „säumenden“ ein „ganz anderes“ Zeitalter einläutender Messias, kein Vertrösten auf eine jenseitige Welt, sondern das „Himmelreich“ soll im Heineschen Sinne „hier auf Erden“ errichtet werden.

Tikkun Olam ist kein unmittelbares göttliches Gebot, sondern es handelt sich um eine menschliche Initiative, Zerbrochenes zu reparieren. Dabei wird also der Fokus von Gott auf die Menschen verschoben. So gesehen hat Tikkun Olam nichts mit einer Abwendung von Gott zu tun, sondern die „Korrektur“ hat das Ziel, die Beziehung zu Gott zu bestätigen.

In diesen Kontext gehören die als Menschwürde verstandene „Ebenbildlichkeit Gottes“ (Zelem Elohim), auch sie durchaus im kritischen Konflikt mit Gott stehend sowie nicht zuletzt „Dina de-Malchuta“, der Primat des Rechtsstaates – das Gesetz des Staates ist das Gesetz. Für Elisa Klapheck ein unumstößlicher Grundsatz.

So wie Margarete Susman den Begriff vom Judentum immer wieder neu entworfen und in seiner Vielfalt zur Diskussion gestellt hat, geht auch Elisa Klapheck zu Werke: Sie überträgt das jüdisch-religiöse Erbe auf die religiöse Praxis, auf politisch-theologischen Positionen aktueller Debatten, um eine innere religiöse Erneuerung des Judentums durch die politische Herausforderung von außen herbeizuführen. Das gilt nicht zuletzt für die Frage nach der Ausgestaltung des egalitären Rechtsstaats.

Innerhalb des deutschen Judentums hat es nie an gelehrten Rabbinen gemangelt. Auch nicht an solchen, die in verbindlicher Weise die Vorschriften der Thora auslegten und diese zugleich den Bedingungen ihrer Zeit anzupassen suchten. Durch die Verwerfungen der Schoah ist der intellektuelle Faden im deutschsprachigen Judentum gleichwohl verloren gegangen, zumindest unterbrochen.

Es ist kein Zufall, dass Elisa Klapheck die Biografin von Regina Jonas (1902, Berlin – 1944 Auschwitz) wurde, die erste Frau weltweit, die zur Rabbinerin ordiniert wurde und in diesem religiösen Amt tätig war. Elisa Klapheck knüpft den intellektuell-religiösen Faden wieder neu auf. Sie vereint in ihrer Person als Rabbinerin Gelehrsamkeit und Intellektualität gleichermaßen, die sie in religiöse Praxis zu integrieren sucht.

Elisa Klapheck ist überzeugt, dass die rechtsstaatlichen und pluralistischen Gesellschaften ihre Entwicklung zu einem gewissen Teil dem Judentum entnahmen: Über säkulare Wege ist unser heutiges – westliches – Denken geprägt aus der Tradition des Judentums. Europa profitiert von diesem jüdisch-politischen Erbe.

Elisa Klapheck:

Zur politischen Theologie des Judentums. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2022, 242 S.,

24 Euro.

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