Leben in Israel?
Welche Beziehung haben wir zu Israel? Erwartet G’tt von uns, dass wir alle im „Gelobten Land“ leben?
Das Leben im Gelobten Land verlangt große spirituelle Anstrengungen © Menahem KAHANA / AFP
Es gibt eine bekannte Anekdote, die zeigt, dass manche wichtige Entscheidungen oft schwer zu treffen sind: Ein kleines Schtetl in der Ukraine im 18. Jahrhundert.
Ein durch Europa reisender Jude aus dem Land Israel übernachtet für ein paar Tage in einer Herberge, die von einem jüdischen Paar betrieben wird. Der Gast macht es sich bequem, bekommt was zu essen und unterhaltet sich mit dem Wirt namens Mosche. Nach einer Weile fragt der Gast, ob Mosche mit seiner Frau nicht nach Israel umsiedeln möchte? Es ist immerhin das Land, das den Juden von G’tt versprochen wurde. Und bald kommt auch der Maschiach (Erlöser) und wird auf alle Juden in Israel warten… Mosche überlegt ein wenig und sagt dem Gast, dass er seine Frau fragen soll. Der Wirt geht zu seiner Frau und erzählt ihr über das Angebot des Gastes. Seine Frau ist davon nicht begeistert: „Mojschele, welches Israel, welcher Maschiach?! Wir haben gerade das Haus renoviert, ein bisschen Vieh dazugekauft, neue Verträge mit Adeligen abgeschlossen, wie können wir nach irgendwo reisen?! Nein, nein, das kommt für uns zurzeit nicht in die Frage!“.
Mosche geht zum Gast und berichtet ihm die Antwort seiner Frau. Der Gast lässt aber nicht locker: „Und was wird, fragt er, wenn die Kosaken kommen, das Haus zertrümmern, das Vieh töten, euch schlagen?“. Für Mosche ist es ein gewichtiges Argument. Nochmal geht er zu seiner Frau. Die Frau überlegt kurz und antwortet: sag bitte dem Gast, dass Maschiach die Kosaken nach Israel mitnehmen soll und wir hier dann ruhig bleiben können!“
Wir lachen gern über dieses einfältige Paar, die sich ein ruhiges unproblematisches Leben wünschen, statt irgendwelche abenteuerliche Visionen. Doch wir müssen uns auch mal fragen, was eigentlich unsere Beziehung zum Land Israel ist? Warum leben wir in der Diaspora und nicht im Heiligen Land? Und was sagt das jüdische Gesetz, die Halacha zu diesem Thema?
Fasten und trauern
Diese Frage ist gerade jetzt, in diesem Monat sehr aktuell, wenn wir, wie jedes Jahr, am 9.Aw des jüdischen Kalenders (Sonntag, den 7. August in diesem Jahr) einen nationalen Fastentag begehen werden. Am 9.Aw trauern wir nicht nur um zwei zerstörte Tempel in Jerusalem, sondern um alle Unglücke, die dem jüdischen Volk in seiner langen Geschichte passierten. Aber nicht nur der 9.Aw selbst, sondern die ganze erste Hälfte des Monats Aws ist für Juden unglücklich.
Doch wie wurde der Monat Aw zum Unglücksmonat für die Juden? Die Tragödie, die diese Sommerzeit negativ geprägt hat, ereignete sich nur kurze Zeit nach dem Auszug der Juden aus Ägypten. Das jüdische Volk hat die Tora am Berg Sinai empfangen, das mobile Heiligtum „Mischkan“ aufgebaut und eingeweiht und stand bereits vor dem Eintritt ins Land Kenaan – das Gelobte Land, das G’tt den Juden versprochen hat. Eigentlich konnte nichts mehr schieflaufen. Doch die Juden haben es doch kräftig vermasselt: sie kamen zu Mosche und baten ihn, Spionen ins Land Kenaan zu entsenden, um zu prüfen, ob dieses Land tatsächlich gut ist und ob man es erobern kann. Auch wenn Mosche schon geahnt hat, dass es keine gute Idee war, hat er doch entschieden, dieser Bitte nachzugeben. Er hatte Angst, dass wenn er diese Auskundschaftung ablehnen würde, dies unter den Menschen Befürchtungen schüren könnte, mit diesem Land könnte tatsächlich etwas nicht stimmen.
Verdammnis und Bestrafung
Und diese Mission ging tatsächlich schief: auch wenn Mosche aus jedem Stamm, den besten und wichtigsten Menschen gesendet hatte, hat es nicht funktioniert. Die zehn der zwölf Gesandten sind nach vierzigtägiger Reise durch das Land Kenaan mit schlechten Nachrichten zurückgekommen. Ja, das Land ist tatsächlich unglaublich gut, jedoch sind die dortigen Einwohner sehr stark und es gibt sogar Riesen! Es sollte also unmöglich sein das Land Kenaan zu erobern. Das Volk war von diesen Nachrichten schwer betroffen. Und auch wenn die restlichen zwei der zwölf Gesandten versucht haben, das Volk zu beruhigen und zu versichern, dass mit G’ttes Hilfe alles möglich ist, war das vergeblich: das Volk hat der Mehrheit der Spione geglaubt und wollte nicht mehr ins Gelobte Land gehen. Das war natürlich ein unglaublicher Affront gegenüber G’tt, der gerade für diese Menschen so viele Wunder vollbracht hatte: Auszug aus Ägypten mit den zehn Plagen als Wunder, Spaltung des Schilfmeers, das himmlische Brot Manne. War das alles nicht genug, damit das Volk vollkommen an G’tt glaubt?! Deshalb griff G’tt hart durch: diese Menschen (vor allem Männer im Alter zwischen 20 und 60 Jahre) wurden zur 40-jährigen Wüstenwanderung verdammt und sollten alle in dieser Zeit sterben. Nur ihre Kinder (und die meiste Frauen) sollten dann das zukünftige Land Israel betreten. Auch die zehn Gesandten, die schlecht über das Gelobte Land gesprochen haben, wurden bestraft: sie starben in der gleichen Nacht an einer fürchterlichen Epidemie.
Warum urteilten die Gesandten derart?
Die Hauptfrage unserer Weisen zu dieser Geschichte, die in der Tora (4.Buch Moses 13:1-14:45) beschrieben ist, ist, wie die zehn Gesandten dazu kommen konnten, schlecht über das Heilige Land zu sprechen?! Das waren ja nicht irgendwelche einfache ungebildete Leute, es waren große Würdenträger von jedem Stamm! Und die Kommentatoren der Tora sind sich einig: wenn diese Menschen für ihre Mission von Mosche ausgewählt wurden, waren sie alle große Gerechten! Wie konnten sie also in so einer kurzen Zeit von Guten zu Bösen werden?
Unsere Weisen geben mehrere Antworten darauf. Eine dieser Antworten ist, dass diese Männer eigentlich gute Absichten bei der Sache hatten. Sie haben sich Folgendes überlegt: wenn wir jetzt in der Wüste sind, sind wir von G’tt vollständig versorgt. Wir haben Brot vom Himmel, Wasser vom Miriam’s Brunnen und sogar unsere Kleider werden von Wolken gereinigt (wie es im Midrasch steht). Und damit haben wir alle Zeit, um die Tora zu lernen, zum andächtigen Beten und zum spirituellen Wachstum. Warum sollen wir dann in das Land Kenaan gehen?! Dort, nachdem wir es erobern, sollen wir bauen, handeln, pflanzen und ernten. Das wird Zeit und Kraft kosten und damit wird unser geistiges Level sinken. Deshalb haben sie das Volk irregeführt, um in der Wüste zu bleiben und dort zu großen Gerechten werden.
Doch das war natürlich nicht das, was G’tt wollte. G’tt wollte ja, dass das jüdische Volk in das Heilige Land kommt, dort baut, handelt und wirtschaftet und trotzdem spirituell wächst. Dafür hat uns G’tt zahlreiche Gebote gegeben, die mit dem Land Israel verbunden sind, wie Zehntel, Orla (Früchte des dritten Jahres), Chala (Teigabgabe an die Priester), Peah (Ecke des Feldes, die ungeerntet für die Armen gelassen werden soll), Schmita (das Ruhen des ganzen Landes im Siebten Jahr) und viele mehr. Und das Gelobte Land selbst hat eine heilige Atmosphäre, die dem spirituellen Wachstum hilft. Und das haben leider weder die zehn „bösen“ Kundschafter noch andere Männer des jüdischen Volkes verstanden und dadurch haben sie eine unglaubliche Gelegenheit, das Land Israel zu bekommen, verpasst.
G`ttes Wille
Im Gegensatz zu diesen Männern zeigt die Heilige Schrift (27:1-11), dass die Frauen die Kostbarkeit des Landes gespürt haben und unbedingt dieses Land bekommen wollten. Am Ende der Wüstenwanderung kamen zu Mosche fünf Töchter von Zelofchad, um folgende Frage zu klären. Ihr Vater (Zelofchad) war bereits gestorben und hatte keine Söhne, die seinen Anteil im Land Kenaan nach der Eroberung bekommen sollten. Deshalb wollten seine Töchter wissen, ob sie ihren Vater beerben dürfen und dieses Land bekommen können. Mosche musste sich mit G’tt beraten, Der bestätigt hat, dass die Töchter tatsächlich erben dürfen und das Landstück ihres Vaters bekommen sollen. Für unsere Weisen war das eine klare Botschaft: während Männer in der Wüste bleiben wollten, wollten die Frauen unbedingt ins Heiligen Land und nicht nur dort leben, sondern es auch noch besitzen.
Daraus sehen wir, wie es für G’tt wichtig ist, dass die Juden im Land Israel leben. Auch unsere Weisen haben stets die Verbindung zwischen dem jüdischen Volk und dem Land Israel betont. Diese Verbindung können auch wir mit unseren eigenen Augen sehen. Im Mittelalter, als in Israel nur ein paar Tausend Juden in wenigen Städten lebten, war das Land in einem schrecklichen Zustand. Wüsten, Sümpfe, gefährliche wilde Tiere – das alles machte das Land praktisch unbewohnbar. Selbst noch vor ca. 150 Jahren hat Mark Twain bei seiner Reise durch das Heiligen Land in seinem Reisebuch das Land als „versteppt, verödet, versumpft, menschenleer, heruntergekommen und armselig“ bezeichnet. Und als die Juden in das Land zurück waren, blühte das Land wieder auf (wie übrigens auch unsere Propheten vorhergesagt haben). Außerdem haben unsere Weisen immer betont, wie heilig dieses Land ist und dass echtes spirituelles Wachstum nur im Heiligen Land möglich ist.
Gründe für das Leben in Israel
Früher war es oft schwer nach Israel zu gelangen oder dort zu leben. Doch jetzt, da es den Staat Israel gibt, der alle Juden willkommen heißt und wenn alle Juden die Möglichkeit haben, dort zu leben, zu arbeiten und spirituell zu wachsen, warum leben immer noch viele Juden außerhalb von Israel?
Wenn wir über die säkularen Juden sprechen, dann ist es noch verständlich. Für sie hat das Land Israel keinen besonderen Wert und die Menschen versuchen dort zu leben, wo es für sie bequem ist. Und wenn es in New York, London oder Berlin bequemer ist als in Tel Aviv oder Haifa, dann leben sie eben in New York, London oder Berlin.
Was ist aber mit den orthodoxen bzw. traditionellen Juden? Sie verstehen schon, wie heilig das Land Israel ist und wie wichtig es ist, dort zu wohnen. Schließlich ist es ein Teil ihrer Weltanschauung und es wird auch in den täglichen Gebeten thematisiert. Wie können solche Juden nicht in Israel leben?!
Diese Frage stellt sich um so mehr, dass unsere Weisen im Talmud mehrmals darauf hingewiesen haben, dass man in Israel leben soll, auch wenn es nicht einfach ist. Rambam (Rabbi Mosche ben Maimon, 1138-1204) bringt in seinem Werk „Mischne Tora“ (Hilchot Melachim und Milchamot 5) mehrere solche Aussagen unserer Weisen, die er als wegweisend betrachtet. So, zum Beispiel, sagen die Weisen des Talmud, dass es besser sei, in einer Stadt in Israel zu leben, wo die Mehrheit Nichtjuden sind, als in einer Stadt in der Diaspora, wo die Mehrheit Juden sind (5:12). Außerdem sagen unsere Weisen, dass diejenigen, die im Land Israel leben, die Sünde verziehen werden! Jeder, der dort nur vier Schritte gemacht hat, verdient das ewige Leben in der kommenden Welt! Sogar diejenigen, die im Heiligen Land einfach nur begraben sind, haben großes Verdienst!
Unterschiedliche Meinungen
Doch das alles war geschrieben, als die Juden keinen eigenen Staat hatten. Wie ist es in einem jüdischen Staat zu leben, der von säkularen Juden gegründet wurde und nicht nach jüdischem Gesetz (Halacha) aufgebaut ist? Diese Frage wurde kontrovers diskutiert, als im 19. Jahrhundert die ersten Zionisten Pläne für einen eigenen Staat im damaligen Palästina diskutieren zu begangen.
Unter den größten Rabbonim der damaligen Zeit gab es grundverschiedene Meinungen. Die „Antizionisten“, deren bekanntester Vorsprecher der Satmarer Rebbe Rabbi Mosche Teitelbaum war, lehnten diese Idee vollkommen ab. Ihr theologisches Argument (sehr vereinfacht) bestand darin, dass G’tt uns aus dem Land Israel vertrieben hat und Er wird uns dorthin (durch Maschiach) wieder zurückbringen. Und sicherlich nicht durch gottlose säkulare Juden. Ihnen widersprachen die religiösen Zionisten, unter Führung von Rabbi Abraham Isaak Kook (1865-1935), der auch erster aschkenasischer Großrabbiner von Palästina wurde. Aus seiner Sicht wäre die Gründung des Staates Israel nicht nur richtig, sondern die direkte Erfüllung der Prophetien und G’ttes Wille.
Man muss aber auch betonen, egal welche Richtung des orthodoxen Judentums man angehörte, alle waren sich einig, dass es wichtig ist, dass die Juden in Israel leben. Mehrere chassidische Rebben und auch große „litvische“ Rabbonim (wie Vilner Gaon) sandten ihre Anhänger im 17.-19. Jahrhundert nach Israel, auch dann, wenn das Leben im Land sehr schwierig, ja fast unmöglich war. Man stritt im 19.-20.Jahrundert nur über die Frage, ob man den jüdischen Staat anerkennen soll oder weiterhin auf Maschiach warten sollte. Sogar jetzt wohnen in Israel mehrere Gruppen von Antizionisten, die den Staat Israel vollkommen ablehnen und nicht mal eine Krankenversicherung benutzen.
Und wenn dem so ist, warum leben viele (vor allem) religiöse Menschen in Antwerpen, Wien, Amerika oder London, warum nicht in Israel?!
Strengere Gesetze im Gelobten Land
Rabbi Mosche Feinstein (1895-1986), führender halachische Autorität des 20. Jahrhunderts, der in Amerika lebte, wurde einmal von einer religiösen Familie gefragt, ob es laut der Tora die Pflicht gibt, in Israel zu leben (wenn es möglich ist) und ob man nach Israel umziehen soll?
Rabbi Feinstein hat geantwortet, dass es heutzutage keine solche Pflicht gibt. Und auch wenn es tatsächlich wunderbar ist, in Israel zu leben, erklärte Rabbi Feinstein weiter, beim Gedanken nach Israel umzuziehen, muss man mehrere Faktoren berücksichtigen. Erstens, muss garantiert werden, dass die Familie dort ein jüdisches Leben führen kann, ohne ihre Lebensqualität durch verschiedene Nachteile (finanzielle, soziale usw.) zu vermindern. Zweitens muss man beachten, dass man sich in Israel noch sorgfältiger an die Gebote der Tora halten soll als in der Diaspora. Unsere Weisen vergleichen das Heilige Land mit dem Thronsaal des Königs und dort muss man sich noch besser benehmen und penibel auf seine Taten und Wörter achten als außerhalb des Palastes. Unsere Weisen im Talmud betonen, dass wenn man sich in Israel „schlecht benimmt“, könnte man von G’tt rausgeworfen werden. Sie illustrieren es mit folgendem Beispiel: Ein Prinz, Sohn des Königs, kam von einer Sause, wo er viel Alkohol getrunken hat. Als er in den Palast kam, hat er sich übergeben. Darauf befahl der König seinen Dienern, den Prinzen aus dem Palast zu werfen, bis er sich in wieder in Ordnung gebracht hat.
Und wenn man die heutige Situation mit dem jüdischen Leben in Israel betrachtet, muss man als Neuankömmling (Ole Chadach), der ein traditionelles spirituelles Leben führen möchte, sehr stark sein. Ein israelischer Lehrer, der in einer säkularen Schule unterrichtet, hat seit Kurzem auf seiner Facebook-Seite folgendes erzählt. Er hat ein paar Wochen vor dem Schawuot-Fest seine Schüler, die in Israel geboren und aufgewachsen sind, gefragt, warum wir Schawuot feiern. Nur ein paar Schüler aus der Klasse wussten die Antwort! Als er die Schüler anderer Klassen fragte, wo die Flüchtlinge aus der Ukraine lernen, wusste schon die Hälfte der Klasse die richtige Antwort. Diese Schüler haben in der Ukraine die Sonntagschule von Chabad besucht und kannten unsere Tradition besser als die israelischen Kinder!
Rat beim Rabbi suchen
Deshalb soll jeder für sich klar verstehen, wo es für ihn, seine Familie besser sein wird, entsprechend der jüdischen Tradition zu leben. Und wo seine Kinder besser die jüdischen Werte erlernen können. Und noch besser ist es mit seinem lokalen Rabbiner zu beraten, der die Situation der Familie kennt.
Wie es schon erwähnt wurde, haben große Rabbonim ihre Anhänger oft nach Israel geschickt. Jedoch nicht jeden, der das machen wollte. Es wird erzählt, dass einmal zu einem von Ljubawitschen Rebben, der in Weißrussland lebte, ein Mann kam und den Rebben fragte, ob er nach Israel umziehen soll. Der Rebbe überlegte kurz, lächelte den Mann an und sagte: „Mache dir Israel hier“…
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Judentum und Religion