Daf Yomi – Stellen aus dem Talmud

In der Ausgabe vom Januar 2022 hat die Jüdische Rundschau damit begonnen, auszugsweise Stellen aus dem Talmud darzulegen und zu erörtern. Die Auswahl der Stellen erfolgt dabei anhand des festgelegten Lesezyklus, der als „Daf Yomi“ bezeichnet wird. Dieser Beitrag stellt eine Fortsetzung der jüdischen Lern-Initiative dar. (JR)

Von Patrick Casiano

Eines der aktuellen Blätter – Der Tod von Rabbi Akiwas Schülern während Sfirat ha-Omer

Wir befinden uns in einer Zeit des Jahres, in der viele besondere Tage eng beieinander liegen.

– Erstes Pessach-Fest

– Chol ha-Mo’ed während der Pessach-Woche

– Zweites Pessach-Fest

– Sefirat ha-Omer-Zählung

– Lag ba-Omer

– Schawu’ot

Pessach liegt nun bereits hinter uns. Daher wollen wir mit der Sefirat Ha-Omer-Zählung beginnen. Basierend auf dem 3. Buch Moses, Kapitel 23, Verse 15f. und auf dem 5. Buch Moses, Kapitel 16, Vers 9 haben wir ein Gebot, beginnend mit dem Ausgang des ersten Pessach-Festes 49 Tage zu zählen. Dazu finden wir heutzutage eine Formulierung im Gebetsbuch. Und am 50. Tag ist Schawu’ot. Dieser Tag wird in der Bibel als eine Art Erntedankfest beschrieben. Aber viel bekannter ist er als der Tag, an dem das jüdische Volk die Tora am Berg Sinai empfangen hat. In dieser Nacht ist es Brauch, nachts aufzubleiben und Tora zu lernen. Die Zeit der 49 Tage war ursprünglich eine reine Zeit der Freude in Erwartung von Schawu‘ot, aber heute ist sie mit einigen Trauerbräuchen vermischt (weder Haare noch Bart schneiden, keine Hochzeiten oder andere Feierlichkeiten abhalten und keine Musik hören oder tanzen). Der Grund dafür liegt in einem Ereignis, über das in Yevamot 62b (Daf Yomi vom 8. Mai 2022) berichtet wird:

„Zwölf Tausend Schüler-Paare hatte Rabbi Akiwa, von Gewat bis Antipatris, und alle starben innerhalb einer kurzen Zeit, weil sie einander nicht ehrten. Und die Welt war daraufhin öde. Bis Rabbi Akiwa zu unseren Gelehrten im Süden ging und sie unterrichtete. Dies sind Rabbi Me’ir, Rabbi Jehuda, Rabbi Josi, Rabbi Schim’on und Rabbi El’azar ben Schamo’a. Und sie waren es, welche die Tora damals wieder aufrichteten. Es wird gelehrt, dass sie alle [die o.g. 24.000 Schüler] zwischen Pessach und Schawu’ot starben.“

Gewat ist eine Stadt im Norden und Antipatris ist eine Stadt im Süden. Es verbleiben somit noch die Fragen was ein Schüler-Paar ist und was genau es mit ihrem Tod auf sich hat.

 

Warum starben die Schüler von Rabbi Akiwa?

Es gibt in jüdischen Quellen verschiedene Erklärungen für dieses Ereignis. Gemeinsam ist allen, dass man es nicht beim simplen Wortlaut belassen kann. Denn es gibt verschiedene Probleme damit.

So reden wir hier von Leuten auf einer spirituellen Stufe, die wir uns heutzutage gar nicht mehr vorstellen können. Dass sie einander nicht geehrt haben, muss etwas anderes bedeuten als das, was der normale Sprachgebrauch uns glauben machen würde. Keinesfalls geht es hier um feindselige Streitereien, Beleidigungen, usw.

Auch waren sie nicht die Schüler von irgendeinem Rabbiner, sondern von Rabbi Akiwa, gerade der Rabbiner, der für seine ständig im Mund geführte Weisheit bekannt ist: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst – dies ist ein wichtiger Grundsatz der Tora“. Dieses aus dem 3. Buch Moses, Kapitel 19, Vers 18 bekannte Gebot, reiht sich nicht einfach nur in die Liste der anderen Gebote ein, sondern ist eine Grundvoraussetzung für das korrekte Erfüllen vieler weiterer Gebote. Wie konnten seine Schüler also gegen so etwas Grundlegendes verstoßen?

Und letztlich scheint eine fehlende Ehrerbietung keine ausreichende Rechtfertigung für den Tod dieser Schüler zu sein.

Aber bezüglich des letzten Punktes muss man wissen, dass das Verhalten eines Menschen nicht in absoluten Maßstäben beurteilt wird, sondern im Verhältnis zu seiner spirituellen Stufe. Wenn ein Kind im Kindergarten seinem Kameraden Süßigkeiten entreißt, wird die Pädagogin wohl einschreiten und auch versuchen ihm sein Fehlverhalten zu erklären, aber ansonsten wird dieser Vorfall kein weiteres Aufsehen erregen. Ein Raub im Erwachsenenalter wird hingegen schwerwiegendere Konsequenzen nach sich ziehen. Und was für das Verhältnis eines Kindergartenkindes zu einem Erwachsenen gilt, ist hier übertragbar auf das Verhältnis zwischen Personen einer sehr niedrigen und einer sehr hohen spirituellen Stufe. Somit ist die fehlende Ehrerbietung gravierender, als sie sich anhören mag.

Aber die wichtigere Frage ist, worin diese fehlende Ehrerbietung überhaupt bestanden hat. Was haben die Schüler Rabbi Akiwas getan? Eine der verschiedenen Erklärungen lautet wie folgt: Seine Schüler waren sehr bescheidene Leute, die sich selbst als unwürdig angesehen haben und für sich selbst keine Ehrungen wollten. Den Grundsatz „liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ haben sie falsch verstanden. Es war ihre Annahme, dass der besagte Satz sie von der Ehrerbietung ihren Kollegen gegenüber befreien würde, denn was für einen selbst gilt, gelte auch für den anderen. Aber lieben und ehren ist nicht dasselbe. Es gibt im Judentum verschiedene Formen der äußerlichen Ehrerbietung. Zum Beispiel dass man aufsteht, wenn die Tora-Rolle gerade durch die Synagoge getragen wird oder wenn ein Gelehrter den Raum betritt. Und man muss bedenken, dass all diese „Schüler“ bereits Gelehrte waren und ihnen als lebende Personifizierung der Tora Ehrungen zu Teil werden sollten. Als weiteres Beispiel für eine solche äußerliche Ehrerbietung kann dienen, dass man sich am Schabbat feierlich anziehen und besser essen soll als am Werktag, auch wenn man nur allein zu Hause ist. Denn das Herz kann solchen Äußerlichkeiten leicht folgen und sich dadurch in Gang setzen lassen.

In der zitierten Talmudstelle wurde bereits Rabbi El’azar ben Schamo’a erwähnt. Er war ein Teil der zweiten Schüler-Gruppe Rabbi Akiwas, nachdem dieser seine ersten Schüler verloren hatte. Bezeichnenderweise ist er es, der im vierten Kapitel von Pirkei Avot (Sprüche der Väter) eine Formulierung getroffen hat, die einem solchen Missverständnis entgegenwirkt: „Die Ehre deines Schülers soll dir so teuer sein, wie deine eigene. Die Ehre deines Freundes soll für dich sein wie die Ehrfurcht vor deinem Lehrmeister. Und die Ehrfurcht vor deinem Lehrmeister soll für dich sein wie die Ehrfurcht vor dem Himmel.“ Der „Lehrmeister“ steht hier für jemanden einer höheren Position als man selbst, also anders als der „Nächste“. Es ergibt sich, dass es zwar lobenswert ist, auf Ehrerbietung gegenüber sich selbst zu verzichten, aber seinem Nächsten muss man sie dennoch erweisen.

Eine andere Erklärung besagt, dass aufgrund ihrer Liebe zueinander die Lernpartner einander von dem eigenen (also dem richtigen) Verständnis bezüglich dem Lehrstoff überzeugen wollten (vgl. weiter unten) und dass es in diesem Kontext zu Vorfällen kam, in dem sie einander nicht ehrten.

Wiederum eine andere Erklärung geht davon aus, dass die Schüler im Rahmen ihrer Teilnahme am Bar-Kochba-Krieg gestorben sind. Sie bezieht auch andere Quellen mit ein und ist mit dem Wortlaut unserer oben zitierten Talmud-Stelle nicht leicht zu vereinbaren.

 

Was sind „Schüler-Paare“?

Zu unserer zweiten offenen Frage, ist zu erklären, dass 24.000 Schüler mit „zwölf Tausend Schüler-Paaren“ gemeint sind. Es geht hierbei um das Konzept von „Chewruta“, d.h. die seit früher Zeit übliche Praxis, dass beim Unterricht in Jeschiwot (Religionsakademien) jeweils zwei Schüler miteinander gepaart werden und einen großen Teil ihrer Studien im Zweierteam absolvieren. Wenn vier Augen mehr sehen als zwei, dann verstehen zwei Gehirne auch mehr als eins. Die komplizierten Texte sollen miteinander diskutiert werden und jeder hat die Möglichkeit sein Gegenüber von dem eigenen Verständnis des Textes zu überzeugen.

Das Wort „Chewruta“ leitet sich vom Wort für „Freund“ ab. Und tatsächlich ergeben sich durch diese Lernsituation auch starke Freundschaften. Der bekannteste solcher Fall ist sicherlich der von Rabbi Jochanan und Resch Lakisch im dritten Jahrhundert. Letzterer war ursprünglich der Anführer einer Räuberbande und betätigte sich auch als Gladiator. Als er eines Tages auf Rabbi Jochanan traf, veranlasste dieser ihn zur reuigen Umkehr. Resch Lakisch wurde zunächst der Schüler von Rabbi Jochanan und später sein ebenbürtiger Lernpartner. Als Resch Lakisch starb, hat das Rabbi Jochanan stark getroffen. Man hat daraufhin einen neuen Lernpartner für ihn gesucht, aber dieser stimmte immer mit Rabbi Jochanan überein und gab ihm immer nur Recht. Rabbi Jochanan beklagte sich diesem neuen Lernpartner gegenüber: „Wenn ich etwas sagte, dann hat Resch Lakisch es aus 24 Blickwinkeln angegriffen und ich habe daraufhin 24 Erwiderungen dargelegt und dies hat zu einem tieferen Verständnis geführt.“ (Bawa Metzi’a 84a). Rabbi Jochanan wurde durch seinen neuen Lernpartner nicht über den Verlust von Resch Lakisch hinweggetröstet und starb kurze Zeit später an gebrochenem Herzen.

Es gibt verschiedene Programme, die Interviews mit Interessenten durchführen und dann geeignete Lernpartner (auch zum Lernen übers Telefon oder Internet) zusammenführen. Neben der klassischen Chewruta von zwei Lernpartnern auf etwa dem gleichen Stand, gibt es auch Fortgeschrittene, die in freiwilligem Rahmen Anfänger an die Hand nehmen und ihnen beim Verständnis jüdischer Konzepte und Quelltexte helfen. Für englischsprachige Personen gibt es verschiedene solcher Programme. Verbunden mit der Chabad-Bewegung gibt es z.B. das Jewish Learning Network (www.jnet.org). Darüber hinaus sollte man sich auch noch (www.torahmates.org) und (www.partnersintorah.org) ansehen. Es mag noch weitere gute Seiten geben, die ich übersehen habe, aber es gibt auch einige, die ich bewusst ausgelassen habe, da ich sie nicht für seriös halte.

Für deutschsprachige Personen gibt es so etwas bisher noch nicht in einer institutionalisierten Form. Aber bei (www.moadim.com) ist es für die nächsten Monate geplant und zwischenzeitlich kann man auch außerhalb eines solchen Rahmens bei orthodoxen Gemeinden und Organisationen in den deutschsprachigen Ländern nach Auffindung eines Lernpartners anfragen.

 

www.intellectual-services.com

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