Welches Licht hat gewonnen?

Warum Chanukka tatsächlich ein Fest für alle Juden ist

Chanukkia am Brandenburger Tor in Berlin, Dezember 2019© AFP

Von Rabbiner Elischa Portnoy

Chanukka ist ein sehr beliebtes Fest. Es wird sowohl von Ultrareligiösen, als auch von Zionisten und sogar völlig säkularen Juden in der ganzen Welt gefeiert. Lichterfroh brennende Kerzen und Öl in den Chanukkijot, süße Sufganijot (Berliner) und ölige Latkes (Pfannkuchen) machen jeden satt und glücklich, und Drjedel-Spiele mit Kindern sind eine willkommene Abwechselung für den Alltag. Auch die Geschichte hinter diesem Fest kann jeden zufriedenstellen, wenn man sie richtig darstellt: Die Rettung der Thora und der Gebote für die Orthodoxen, die Zurückeroberung der Unabhängigkeit für die Zionisten und der Sieg des Guten über das Böse für die Säkularen. Jeder hat also etwas zu feiern, und es wird gefeiert ohne groß nachzudenken, ob die ruhmreiche Chanukka-Geschichte vielleicht doch nicht so rosig gewesen war.

Wenn man sich mit der Geschichte des Festes auseinandersetzt, und zwar mit den Quellen, würden praktisch alle Gruppen von Juden dort Ereignisse oder Ideen finden, die für sie nicht ins Bild passen oder sogar ziemlich problematisch sein könnten.

Für orthodoxe Juden ist selbst der Sieg von Haschmonaim (die Familie, die den Aufstand begann und das Land von den Eroberern befreite) über die Griechen herausfordernd. Erstens können solche Siege sowohl zu Arroganz führen („wir waren stark und klug!“), als auch zum Vergessen der Rolle G’ttes bei diesem Sieg. Deshalb haben unsere Weisen, als sie die Form des Feierns festgelegt haben, viel größeres Gewicht auf das Wunder mit dem Öl gelegt. Wir feiern acht Tage lang, weil das gefundene Öl in der Menora acht statt nur einem Tag gebrannt hat. Wir entzünden Öl bzw. Kerzen in unseren Chanukkiot, wir essen Gerichte (Sufganiot und Latkes), die mit Öl gebacken werden. Der militärische Sieg wird nur im Gebet, quasi am Rande, erwähnt.

Für die Zionisten ist die Rolle der siegreichen Juden problematisch. Erstens haben die Haschmonaim den Aufstand nur deshalb gemacht, weil es verboten war die Thora zu lernen und die Gebote zu halten. Dass das Land Israel von Griechen regiert wurde, störte sie hingegen wenig. Und dass das Land infolge dieses Sieges unabhängig wurde, wurde eher zum Nebeneffekt. Außerdem waren es die Haschmonaim selbst, die diese Unabhängigkeit nur 200 Jahre später wegen interner Intrigen an die Römer selbst verschenkt haben. Deshalb bleibt für diese Gruppe wohl nur „den Sieg der jüdischen Waffen“ zu feiern, ohne an die anderen Umstände der Geschichte zu denken.

 

Juden an der Seite der Griechen

Das größte Problem mit der Chanukka-Geschichte sollten jedoch die säkularen Juden haben. Denn der Krieg, den die Haschmonaim und ihre Verbündeten mehrere Jahre lang geführt haben, war nicht nur der Kampf gegen griechische Eroberer, sondern auch gegen jene Juden, die die Griechen unterstützt haben. Und solche „hellenisierten“ Juden, die „Mitjawim“ genannt wurden, gab es ziemlich viel. Die Mitjawim waren Juden, die sich zur griechischen Lebensweise hingezogen fühlten und die jüdische Tradition hinter sich lassen wollten. Deshalb waren aus Sicht der Mitjawim die Haschmonaim religiöse Fanatiker und der Sieg der Haschmonaim in diesem blutigen Bürgerkrieg eine echte Tragödie. Denn damit war der Traum der Mitjawim von einem „freien Leben“ ohne Gebote und mit allen lustvollen griechischen Bräuchen zu Ende. Und mit dem Sieg der religiösen Juden (Haschmonaim) waren die „antireligiösen“ Juden (Mitjawim) entweder im Kampf gefallen oder mussten fliehen.

Der berühmte deutsche Rabbiner Samson Rafael Hirsch (1808-1888) merkte an, dass es eigentlich noch viel tragischer war. Die hellenisierten Juden waren nicht irgendwelche marginalen Schlepper, die wegen schwerer tagtäglicher Arbeit so verhärtet waren, dass sie alle Gefühle zu unserer Tradition verloren hatten. Im Gegenteil! Es war die geistige Elite der damaligen Zeit, die Priester und Adeligen!

 

Jüdische Kleidung, Sprache und Namen

Unsere Weisen bringen im Talmud an, dass die Juden durch drei Merkmale äußerlich erkennbar sind: jüdische Sprache, jüdische Kleidung und jüdische Namen. Wenn ein Jude sich von seiner Tradition entfernt, ändert er zuerst die Kleider, dann die Sprache und schlussendlich auch den Namen.

Der jüdisch-hellenistischer Historiker Josephus erzählt, dass es so weit war, dass sogar die Hohepriester ihre Namen geändert haben! So wurde der Hohepriester Jehoschua zu Jason und sein Bruder und Nachfolger Chonja zu Menelaos. Rabbiner Hirsch geht einen Schritt weiter und spricht das Schockierende aus: der griechische Tyrann Antiochos IV. Epiphanes wäre von sich selbst aus eigentlich nie darauf gekommen antijüdische Gesetze, wie das Verbot des Schabbats, der Beschneidung, des Thora-Lernens einzuführen. Für die Griechen, die selbst viele Götter hatten, waren die Religionen der besiegten Völker ziemlich egal. Es könnten vielleicht höhere Steuern bzw. Abgaben sein, warum jedoch sollte man die Ausübung der Religion verbieten, was auch nirgendwo sonst in den eroberten Ländern geschah? Erst als ihm die jüdische Oberschicht gezeigt hatte, dass das Judentum für sie zur Last geworden war, zum Hindernis gegen ein „freies Leben“, entschloss sich der griechische Herrscher zu solchen Maßnahmen. So gesehen, waren es die hellenisierten Juden, die Verfolgungen und den Tod vieler frommer Menschen in Judäa verursacht haben!

Rabbiner Hirsch ging dieses leidige Thema sehr nah. Er hatte in seinem Berufsleben mit den gleichen Problemen zu kämpfen. Die Haskala(„Aufklärung“)-Bewegung hat das jüdische Leben in Deutschland stark verändert und war damit eine große Herausforderung für das traditionelle Judentum. Rabbiner Hirsch, der in der dritten Generation der Haskala lebte, konnte mit eigenen Augen sehen, zu welchen Abgründen diese Philosophie führen kann. Es war sein Zeitgenosse Felix Mendelssohn-Bartholdy (der Enkel des „Vaters der Haskala“ Moses Mendelssohn), der christlich erzogen und getauft wurde. Das war sicherlich nicht das, was sich der orthodoxe Jude Moses Mendelssohn gedacht hatte, als er das Judentum „öffnen“ und die Juden in die deutsche Gesellschafft hinein „emanzipieren“ wollte. Dass schon sein Enkel sich total vom Judentum abwendet, hätte er sich wohl niemals vorstellen können und zum Glück hat er diese Tragödie auch nicht mehr erlebt. Jedoch hat Rabbiner Hirsch das und viele andere Auswüchse der Aufklärung erlebt, und wurde zum größten Kämpfer für den Erhalt der jüdischen Tradition. Der brillanter Rabbiner Hirsch hat selbst vorgelebt, dass man durchaus in die deutsche Gesellschaft und in das gesellschaftliche Leben integriert sein kann, ohne sich zu assimilieren. Er war einer der ersten orthodoxen Rabbiner in Deutschland, der an einer Universität studiert hat (Universität Bonn). Er war einer der ersten, der in der Synagoge auf Deutsch predigte. Und trotzdem veränderte er die traditionelle Liturgie (die in hebräischer Sprache war) nicht, hielt alle Gebote der Tora und der Weisen.

Als er gesehen hat, dass das echte jüdische Leben in der Frankfurter Einheitsgemeinde wegen des steigenden Einflusses des Reformjudentums in Gefahr war, bewies er wieder Mut zum Handeln und trat mit anderen gesetztreuen Juden aus der Gemeinde aus. Damit hat er nicht nur den wenigen traditionellen Familien in Frankfurt geholfen, sondern wurde zum Leuchtturm des orthodoxen Judentums in ganz Europa.

 

Zu Hause praktizieren, nicht nur in der Synagoge

Deshalb war für Rabbiner Hirsch wohl speziell das Chanukka-Fest ein ganz besonderes Ereignis: so wie die Haschmonaim in antiken Zeiten war auch er die kämpfende Minderheit bei der Rettung des Judentums unserer Vorväter.

Deshalb hat der modern denkende Rabbiner Hirsch auch viele Ideen in diesem Fest entdeckt, die auch heute noch für uns von Bedeutung sind.

So betonte Rabbiner Hirsch, dass es wichtiger ist das Judentum zu Hause zu praktizieren als nur in der Synagoge. In den Zeiten der Haschmonaim kam das Unheil aus der „Synagoge“ (Tempel) und die Rettung kam aus einem Haus (Makkabäer). Was hilft es, fragt der Rabbiner, wenn man in der Synagoge schön singt und betet, wenn zu Hause das Judentum nicht praktiziert wird. Wenn es keine Mezuzot bei den Eingängen gibt, wenn die Küche nicht koscher ist, wenn keine jüdischen Bücher in der Regalen stehen und benutzt werden.

Die gleiche Idee, bemerkt Rabbiner Hirsch, sehen wir in der Halacha, die vorschreibt, wo genau die Chanukkia gezündet werden soll. Auch wenn wir unsere Chanukka-Kerzen heutzutage zu Hause anzünden, haben unsere Weisen verfügt, dass diese Kerzen ursprünglich draußen, beim Eingang zu unseren Häusern, gezündet werden sollen. Das soll für uns auch symbolisieren, dass das Licht unserer jüdischen Häuser von innen nach außen leuchten soll. Und das wird nur dann der Fall sein, wenn wir unser Judentum nicht verstecken, sondern es stolz ausleben. Das wäre auch eine wichtige Botschaft an unsere Kinder: die antiken Griechen, Römer und andere Imperien sind Geschichte. Aber wir und unsere lange Tradition leben weiter und werden auch weiterleben. Und sie wird nur dann weiterleben, wenn wir uns an die Thora und an unsere Weisen halten. Das ist die Flamme unserer Tradition, die unverändert über tausende Jahre von Generation zu Generation weitergereicht wurde. Und jeder Versuch diese Tradition zu „verbessern“, „anzupassen“, „Fortschritt“ zu bringen, brachte nur Gefahr und Leiden für das jüdische Volk. Deshalb liegt es jetzt an uns die Fackel des Judentums stolz weiterzutragen und dafür zu sorgen, dass das jüdische Volk weiter existiert.

Wenn man das alles bedenkt, stellt sich jedoch die Frage, ob tatsächlich alle das Chanukka-Fest fröhlich feiern können? Und die Antwort lautet ja. Denn in jedem Juden und in jeder Jüdin gibt es eine G’ttliche Seele. Und diese Seele ist unsere Flamme, die in die spirituellen Welten aufsteigen möchte. Und gerade an den jüdischen Feiertagen spüren alle Juden die Inspiration und erinnern sich an unsere tausendjährige Tradition. Deshalb, wenn wir zu Chanukka die Kerzen anzünden, Sufganijot und Latkes essen und fröhliche Lieder singen, dann wacht auch unsere Seele auf und beleuchtet uns und die Welt um uns herum.

Und das ist der Sieg des Lichtes über die Dunkelheilt, die wir alle zusammen feiern.

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