Das verlorene Königreich
Der große Fehler eines Königs, eine himmlische Reinigung, ein Check-Up für die Seele und gefährliche Illusionen in der Übersicht der Haftorot, die im Monat März gelesen werden.
Nicolas Poussin: Die Anbetung des goldenen Kalbes (1633–1634) © WIKIPEDIA
Im Monat März beenden wir das 2. Buch der Tora „Schmot“ und beginnen mit dem 1. Wochenabschnitt des 3. Buches „Wajikra“. Drei der vier Haftorot, die an vier Schabbatot des Monats gelesen werden, sind sehr speziell. In der Zeit rund um den jüdischen Monat Adar haben unsere Weisen verfügt vier spezielle Tora-Abschnitte an vier bestimmten Schabbot zu lesen:
Paraschat „Schkalim“ (vor Beginn des Monats Adar), Paraschat „Zachor“ (vor Purim), Paraschat „Parah“ (vor dem darauffolgenden vierten speziellen Abschnitt), Paraschat „HaChodesch“ (vor oder am Rosch Chodesch Nissan). In diesem Jahr fallen drei der vier dieser speziellen Parschijot auf den Monat März. Und immer, wenn etwas Zusätzliches aus der Tora gelesen wird, wird dazu nicht der reguläre Prophetenabschnitt gelesen, sondern eine alternative Haftora, entsprechend dem Thema dieses speziellen Tora-Abschnittes.
Auch wenn es sich kompliziert anhört, ist es im Grunde ziemlich einfach. So wird zum Beispiel am ersten Schabbat im März neben dem regulären Wochenabschnitt „Tetzawe“ auch noch (aus der zweiten Tora-Rolle) der spezielle Abschnitt „Zachor“ (Erinnere!) gelesen. Deshalb wird nicht die Haftora von „Tetzawe“ (aus dem Prophet Ezeckiel) gelesen, sondern eine interessante Geschichte aus dem 1. Buch von Schmuel.
Ein unverzeihlicher Fehler
Das Thema des zusätzlichen Tora-Abschnittes „Zachor“ ist die Erinnerung an Amalek – die Gegenspieler des jüdischen Volkes. Die Amalekiter waren auch die ersten, die die Juden nach dem Auszug aus Ägypten anzugreifen wagten. Auch später haben sie immer wieder versucht das jüdische Volk als Volk G’ttes auszulöschen. Wir sind aufgefordert uns an das Böse zu erinnern, und dafür zu sorgen, dass es vernichtet wird.
Das gleiche Thema wird auf eine spannende Weise in der Haftora fortgesetzt. Im Buch vom Propheten Schmuel (1. Buch 5:1-34) wird vom ersten jüdischen König Schaul erzählt. Nach den ersten Schwierigkeiten hat Schaul seine Herrschaft gefestigt und sich Respekt bei seinen jüdischen Untertaten verschafft. In dieser Zeit bekommt er einen Auftrag von G’tt: „So spricht der HERR Tzewakoth: Ich habe bedacht, was Amalek Israel tat und wie er ihm den Weg versperrte, da er aus Ägypten zog. So zieh nun hin und schlage die Amalekiter und verbanne sie mit allem, was sie haben…“.
Eigentlich war dies ein klarer Auftrag, jedoch hat Schaul einen Fehler dabei gemacht:
„Aber Schaul und das Volk verschonten den Agag, und was gute Schafe und Rinder und gemästet war, und die Lämmer und alles, was gut war, und wollten es nicht verbannen; was aber schnöde und untüchtig war, das verbannten sie“.
Auch wenn schon das ein großer Fehler des Königs war, machte er es noch schlimmer. Als G’tt den Propheten zu Schaul sendet, um ihn darauf hinzuweisen, versucht Schaul sich auch noch rauszureden! „Schaul sprach: Von den Amalekitern haben sie sie gebracht; denn das Volk verschonte die besten Schafe und Rinder um des Opfers willen des HERRN, deines Gottes; das andere haben wir verbannt“. Der König nennt hier im Prinzip zwei Gründe, warum er nicht getan hat, was ihm von G’tt befohlen wurde: erstens wurde das Vieh nicht einfach verschont, sondern um davon G’tt ein Opfer zu bringen. Zweitens habe das nicht der König entschieden, sondern das „Volk“. Und das war eigentlich der entscheidende Fehler: damit zeigte Schaul, dass er nicht geeignet war, ein König zu sein.
Ein König muss führen
Der jüdische König ist nicht einfach ein Herrscher, wie alle andere Völker mal einen König hatten. Er ist dafür da, um G’ttes Willen auszuführen und die dafür nötigen Entscheidungen zu treffen. Monarchie ist keine Demokratie, wo Politiker ständig „riechen“ sollten, was die Menschen gerade wollen (auch wenn das kontraproduktiv für die Gesellschaft sein könnte). Der König wurde von G’tt nicht dazu ausgewählt, um auf dem Tron zu sitzen und eine Krone zu tragen – er soll das Volk anführen und ein religiöses Vorbild sein.
Ein König soll g’ttesfürchtig, gelehrt und mutig sein, um seiner Aufgaben gerecht zu werden. Auch Schaul hatte großes Potenzial und hätte ein großartiger König werden können. Jedoch wurde er vom Volk wegen seiner falschen Bescheidenheit irregeführt und zur Sünde verleitet. Das hat der Prophet ihm sehr schön erklärt: „Schmuel sprach: auch wenn du klein in deinen Augen bist, wurdest du das Haupt der Stämme Israels, und der HERR salbte dich zum König über Israel!“. Schaul hat leider nicht verstanden, dass er die Verantwortung von G’tt übertragen bekommen hat und er selbst entscheiden soll, und nicht dem Volk die Entscheidung überlassen soll. Es war jedoch nicht dieser Irrtum, der ihn alles gekostet hat.
Hätte Schaul seinen Fehler sofort gestanden und ihn sofort wieder gut gemacht, hätte er wohl sein Königreich behalten. Da er aber noch versucht hat sich zu rechtfertigen und Schuld auf andere zu schieben, zeigte er, dass er der großen Verantwortung nicht gerecht ist. So wurde er von G’tt „abgewählt“, und wenig später wurde David ben Ischaj an seiner Stelle vom Prophet Schmuel zum nächsten König gesalbt.
Schauls Fehler blieb übrigens nicht ohne Folgen für das jüdische Volk. Der von Schaul verschonte Amelekiter Agag konnte vor seinem Tod noch ein Kind zeugen, zu dessen Nachkommen der berühmt-berüchtigte Haman aus der Purim-Geschichte zählte…
Reinigung vom Himmel
Am darauffolgenden Schabbat wird zusätzlich zur Parascha „Ki Tisa“ der Abschnitt „Parah“ (Kuh) gelesen. Das Hauptthema dieses Abschnittes ist die rituelle Reinigung von der rituellen Unreinheit. Dieser Abschnitt wurde eingeführt, um daran zu erinnern, dass als der Tempel noch stand, alle Menschen, die zum Tempel pilgern wollten, sich davor von der rituellen Unreinheit reinigen mussten.
Passend dazu wird als Haftora eine Prophetie von Ezeckiel (36:16-38) vorgelesen. Der Prophet gibt das Wort G’ttes wieder, wo der Allmächtige die Juden beschuldigt, das Land und G’ttes Name durch ihre schlimmen Taten zu „verunreinigen“. „Menschensohn, als das Haus Israel in seinem Lande wohnte, verunreinigten sie dasselbe mit ihrem Wandel und Taten, wie die Unreinigkeit einer Abgesonderten war ihr Wandel vor mir“. Dafür wurde das jüdische Volk bestraft, musste ins Exil gehen und dort viel Leid und viel Spott von Einheimischen hinnehmen. Jedoch verspricht Ezeckiel Hoffnung für die Zukunft:
„Denn ich will euch aus den Nationen herausholen und aus allen Ländern sammeln und euch wieder in euer Land bringen. Ich will reines Wasser über euch sprengen, dass ihr rein werdet; von aller eurer Unreinigkeit und von allen euren Götzen will ich euch reinigen“.
Dieser Vers über die „Reinigung“, die eigentliche Verbindung zwischen dem speziellen Wochenabschnitt und der Haftora, hat es in sich. Es soll sofort auffallen, dass das Wort „rein“ in diesem Vers gleich dreimal vorkommt („reines Wasser“, „rein werden“, „euch reinigen“). Das ist natürlich – wie alles in den Propheten – nicht zufällig, sondern weist auf ein großes Prinzip des Judentums hin.
Sehr oft sind wir in unserem Leben mit großen Herausforderungen konfrontiert, die uns unüberwindbar, fast tragisch erscheinen. Es können Gesundheitsprobleme sein, Stress in der Ehe, Schwierigkeiten mit den Kindern oder Ärger auf der Arbeit. Manchmal ist die Situation so verfahren, dass sie einfach aussichtlos erscheint und der Mensch ans Aufgeben denkt. Jedoch haben unsere Weisen stehts betont, dass G’tt niemals einem Menschen eine Herausforderung gibt, die er nicht bewältigen kann. Hauptsache, dass der Mensch nicht aufgibt, dass er nach Lösungen sucht und immer wieder etwas probiert. Dann könnte G’tt die Bemühungen des Menschen belohnen und ihm Starthilfe geben. Dann wird der Betroffene nicht nur aus der Krise rauskommen, sondern vielleicht solches Erreichen, wovon man nicht zu träumen wagte.
Das beste Beispiel dafür ist die Pessach-Geschichte: die Juden in Ägypten waren nicht nur versklavt und unterdrückt, sondern auch erniedrigt, geschlagen und gefoltert. Es kam sogar dazu, dass jüdische Jungs in den Nil geworfen wurden! Die Situation schien schwarz und aussichtlos zu sein, und die Juden riefen G’tt um Hilfe. Da sendete G’tt Mosche, bestrafte die Ägypter und führte die Juden aus der Sklaverei heraus. Danach brauchte die Juden 49 Tage, um spirituell zu wachsen und würdig für die Tora-Übergabe am Berg Sinai zu sein. In so einer kurzen Zeit änderte sich ihr Schicksal auf eine unglaubliche und absolut unerwartete Weise zum Guten.
Der Ljubawitscher Rebbe Rabbi Menachem Mendel Schneerson zeigt, dass unser Vers auf gleiche Weise auf die T’schuwa (Rückkeher zu G’tt) hinweist. „Ich will reines Wasser über euch sprengen“ – G’tt weckt uns, gibt uns einen Impuls, um über unsere Taten nachzudenken. Wenn wir diesen Weckruf hören, können wir den Weg zu G’tt finden („ihr rein werdet“). Und dann „von allen euren Götzen will ich euch reinigen“ – G’tt hilft uns solche spirituelle Höhen zu erreichen, die für uns selber nicht zugänglich waren.
Termin für die Seele
Auch die Haftora, die am 3. Schabbat des Monats gelesen wird, kommt aus der Prophetie von Ezeckiel (45:16-46:18). Zusätzlich zu den beiden letzten Wochenabschnitten des Buches „Schmot“ wird an diesem Schabbat der letzte „spezielle“ Abschnitt gelesen. Dieser Tora-Abschnitt heißt „Hachodesch“ (Der Monat) und es handelt sich um das erste Gebot, das das jüdische Volk noch vor dem Auszug aus Ägypten bekommen hat, das Bestimmen des Monatsanfangs.
In der Haftora gibt es mehrere Verbindungen zur Paraschat „Hachodesch“. Das sind sowohl das Feiern von Pessach im zukünftigen dritten Tempel, als auch das Feiern des Neumondfestes (Rosch Chodesch). Eigentlich gibt es in dieser Haftora keine spannenden Geschichten, keine harten Zurechtweisungen oder positiven Aussichten, nur rein „technische“ Information über den zukünftigen Tempeldienst. Jedoch kann man auch hier einiges Lehrreiches und Inspirierendes für unser tagtägliches Leben finden.
Das hebräische Wort „Chodesch“ (Monat) ist die Ableitung des Wortes „Chidusch“ – Neuigkeit, Neuheit, Novum. Diese Bedeutungen sind eng verbunden: jeden Monat wird der Mond für die Beobachter auf der Erde sozusagen „erneuert“. Und alles, was es im Materiellem gibt, gibt es auch im Spirituellem. Jeder Monatsanfang soll die Erinnerung für uns sein, dass auch wir nicht im Stillstand bleiben dürfen. Auch wir sollen uns „erneuern“: es ist eine gute Zeit zu überprüfen, was wir schon erreicht haben und wie es mit unserer (vor allem spirituellen) Entwicklung aussieht.
Das ist kein Selbstläufer, besonders daher nicht, weil wir in einer materiellen Welt leben. Wir können leicht in der Routine des Alltags gefangen werden und unsere Seele ohne „Nahrung“ lassen. Deshalb ist es wichtig ab und zu zu prüfen, ob unsere persönliche Entwicklung nicht ins Stocken geraten ist. Man kann es auch öfter machen, aber mindestens einmal pro Monat ist der Selbsttest sehr nötig. Alle normalen Menschen verstehen, dass der Körper regelmäßig beim Arzt kontrolliert werden muss, um schwere Krankheiten vorzubeugen bzw. früh zu erkennen und zu behandeln. Desto mehr gilt dies für unsere Seele. Der große jüdische Gelehrte, Philosoph und Arzt Maimonides (Rabbi Mosche ben Maimon, 1138-1204) hat in seinem wichtigsten medizinischen Werk betont, dass der beste Körper ohne seelische Gesundheit nie vollständig funktionieren wird. Die geistigen Defizite werden sich früher oder später auf den Gesamtzustand des Menschen auswirken. Deshalb ist der Anfang jedes Monats nicht nur ein Datum im Kalender, sondern eine wichtige Erinnerung an das spirituelle Check-Up.
Gefährliche Illusion
Am letzten Schabbat des Monats beginnen wir das 3. Buch der Tora „Wajkra“ zu lesen. Und da es keine speziellen zusätzlichen Abschnitte mehr gibt, wird die dazugehörige reguläre Haftora aus Jesaia (43:21-44:23) gelesen.
Das einzige Thema des Wochenabschnittes sind die tierischen Opferungen beim Tempeldienst. Dieses Thema wird auch in der Haftora vom Propheten angesprochen. Jedoch im Gegensatz zum Wochenabschnitt spricht Jesaia nicht über den Tempeldienst, sondern über die verwerfliche und primitive Idee vom Götzendienst. Der Prophet fragt, wie naiv man eigentlich sein muss, um zu glauben, dass ein Götze, der von Menschen hergestellt wurde, Macht besitzen kann:
„Er fällt sich Zedern und nimmt eine Steineiche oder eine Eiche und wählt sie aus unter den Bäumen des Waldes. Er pflanzt eine Esche, und der Regen macht sie groß. Die dienen dem Menschen als Brennstoff; und er nimmt davon und wärmt sich damit; er heizt ein, um damit Brot zu backen; davon macht er auch einen Gott und verehrt ihn; er verfertigt sich ein Bild und kniet davor!“.
Für uns sind heutzutage solche Vorstellungen, dass ein Standbild aus Holz oder Metall über Schicksale bestimmen kann, einfach nur lächerlich. Unsere Weisen erzählen, dass die Menschen damals einen großen spirituellen Drang hatten und bei den Steinen, Gestirnen oder Planeten eine Art Mittler zwischen G’tt und Menschen gesehen haben. Deshalb mahnt der Prophet die Juden, ständig an den einzig wahren G’tt zu denken und sich nicht beirren zu lassen: „Bedenke solches, Jakob, und du, Israel; denn du bist mein Knecht! Ich habe dich geschaffen, dass du mein Knecht seiest. O Israel, vergiss meiner nicht!“
Man kann gern über die Irrtümer der antiken Menschen lachen, jedoch machen wir im Grunde oft die gleichen Fehler! Viele Menschen glauben, dass ihr Schicksal und das Schicksal von Völkern von Präsidenten, Politikern und anderen einflussreichen Personen abhängt. Die Wahrheit ist aber – und unsere Haftora ist eine schöne Erinnerung daran – dass alles von G’tt kommt. Kein „falscher“ Präsident, kein böser Milliardär, keine „unfähige“ Regierung kann das Land „zerstören“, wenn G’tt es nicht will. Wenn so etwas tatsächlich passiert, müssen die Menschen vor allem ihre Verbindung zu G’tt stärken und sich dadurch bessere Regierung verdienen. Die Illusion, dass ein anderer Politiker besser wird, und uns alle rettet, ist oft eine Illusion, eine gefährliche dazu…
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Judentum und Religion