Über jeden Verdacht erhaben? Antisemitismus in Kunst und Kultur
Die nationalsozialistische Vergangenheit vieler Kulturinstitutionen blieb nach 1945 weitgehend verdrängt. Dasselbe gilt für personelle und ideologische Kontinuitäten in der Kunst. In der DDR „legitimierte“ die Selbstsicht als „antifaschistischer“ Staat aggressiven Antizionismus. Wie aber steht es um den bis heute bestehenden Antisemitismus in gegenwärtigen künstlerischen und kulturellen Kontexten?
Antisemitismus in Kunst und Kultur wird gerne ignoriert und nur dann wahrgenommen, wenn eine Grenze überschritten wurde, die Betroffene zum Protestieren veranlasst – man denke insbesondere an die wiederholten Entgleisungen der „Süddeutschen“. Antisemitismus ist, zumindest in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, ein nicht wegzudenkendes Phänomen, nicht nur am Rand der Gesellschaft, sondern auch in Kunst und Kultur. Umso wichtiger ist es, sich zu diesem Thema differenziert Gedanken zu machen. Dem vorliegenden Band, der eine Vielzahl von Autoren versammelt hat, ist das in sehr vielfältiger Weise und mit sehr unterschiedlichen Ansätzen gelungen. Er verstört. Und das nicht nur, weil er dem Leser vor Augen führt, wie durchgängig Antisemitismus die Kulturlandschaft in Deutschland prägt, sondern weil viele der Autoren deutlich machen, mit welcher Verwundbarkeit die Betroffenen selbst zu kämpfen haben. Auf den Punkt bringt es das Gedicht von Ramona Ambs: „Doch am Ende bist Du immer nur Jude … Nie ein Künstler“.
Das Buch ist hervorgegangen aus der Arbeit des Vereins „Institut für Neue Soziale Plastik e.V.“, der kulturelle und politische Bildungsarbeit zusammenbringt. Er versteht seine Arbeit als Beitrag zur Entwicklung einer demokratischen Kultur und engagiert sich gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus. Die im Buch veröffentlichten Beiträge reichen von literarischen Beiträgen bis zu wissenschaftlichen Essays, die Themen sind vielfältig, aber Antisemitismus ist in jedem Fall der Bezugspunkt, auf den alle Beiträge referieren: ob im Alltag, in der künstlerischen Auseinandersetzung oder in der Erinnerungskultur. Das Buch lebt von dieser Vielfalt und besonders auch von den persönlichen Erfahrungen einiger Autoren. So bleibt der Band bis zum Ende kurzweilig und bietet dem, der sich darauf einlässt, viele tiefer gehenden Einsichten. Denn: Antisemitismus ist nicht über jeden Verdacht erhaben – Antisemitismus trifft Juden und verletzt sie, auch wenn sie oftmals nicht einmal gemeint sind. Verblüffend und zugleich erschreckend ist dabei die Tatsache, dass eine derart systematische Auseinandersetzung mit dem Thema wie sie die Autoren hier unternehmen, in Deutschland bislang noch nicht stattgefunden hat. Die Autoren betreten somit Neuland und zeigen auf, wie es um die Aufarbeitung von Antisemitismus in der Kultur in Deutschland bestellt ist. Dabei widmen sie sich auch den unterschiedlichen Perspektiven der beiden deutschen Staaten und dem Umgang mit dem Antifaschismus in der DDR, der über antisemitische Ressentiments keineswegs erhaben war. Im Gegenteil, die Politik der DDR war aggressiv antizionistisch und unterstützte die „Palästinenser“ sogar militärisch.
Ein Buch, das die Finger in viele deutsche Wunden legt und wichtige Themen anspricht, deren Bearbeitung oftmals noch ganz am Anfang steht. Dies hat gerade erst aktuell die Initiative GG 5-3 gezeigt, über die auch die Autoren des Buches unterschiedlicher Auffassung sind. Die Herausgeberin Stella Leder stellt in ihrer Einleitung allerdings klar: „An die Stelle des Engagements gegen Antisemitismus trat in dem Plädoyer jedoch schlichtweg der Einsatz gegen den „Antisemitismusvorwurf“. Und: „Wenn über Antisemitismus in (hoch)kulturellen oder künstlerischen Kontexten gesprochen wird, ist man sich schnell einig: Direkte antisemitische Beschimpfungen oder körperliche Übergriffe werden nicht geduldet, damit räumte schon Lessing in seinem Stück auf. Zu anderen Formen von Antisemitismus ist wenig zu vernehmen. Damit wird dieser implizit auf seine Ausdrucksformen im Rechtsextremismus oder bei Jugendlichen reduziert, weit weg jedenfalls von der Kultur der Mehrheit und ihren Institutionen.“
Die Spitze des Eisbergs
Auch wenn man schon wegen der Vielzahl der Autoren und der Zugespitztheit der Themen nicht jede vertretene Meinung teilen kann - die gelieferten Denkanstöße sind wertvoll und können als weitere Grundlagen für notwendige Diskussionen dienen. Das Lesen lohnt in jedem Fall. Und vielen Autoren wünscht man, dass sie mit ihrer weiteren Arbeit Erfolg haben mögen. So etwa der „unvollendeten Geschichte von Bettina Leder, die schreibt: „Es gibt vieles, das ich niemals wissen werde.“ In ihrem Beitrag beschreibt sie sehr eindringlich die Probleme bei sogenannten „Wiedergutmachungsverfahren“ - und ist entschlossen begangenes Unrecht aufzuklären: „Gemeinsam mit der Historikerin Beate Schreiber habe ich einen Antrag beim Zentrum für Kulturgutverluste gestellt, der im März 2021 bewilligt worden ist: wir werden die Geschichte der Sammlung meiner Großeltern erforschen, und wir werden die Bilder aus dem Lift finden“. In den Lifts, großen Umzugskisten, hatten die Großeltern ihre Habe, die sie ausführen durften, verstaut als sie nach England emigrierten. Dort angekommen waren die Lifts aber nie, ihr Verbleib ist nach wie vor unklar. Es hat viel zu lange gedauert, bis diese Forschungsarbeit überhaupt begonnen werden konnte. Diejenigen, die sich mit staatlicher Hilfe bereichert haben, leben nicht mehr so wie jene, die alles verloren haben. Ohne ein derartiges persönliches Engagement würde aber die zweifelhafte Handhabung im Umgang mit jüdischem Besitz durch das nationalsozialistische Unrechtsregime und seine Vertreter wohl niemals aufgeklärt werden und es ist davon auszugehen, dass die Fälle, die nun untersucht werden, nur die Spitze des Eisbergs sind.
Sehr erhellend ist auch der Beitrag von Tania Martini „Wenn Erinnerung diffus wird. Die Shoah im postkolonialen Denken“. Sie zeigt sehr deutlich, wie in dem gegenwärtigen Trend den Kolonialismus zu betrachten eine Unschärfe entsteht, die für eine Aufarbeitung der Vergangenheit nicht hilfreich ist, sondern zu neuen Konfusionen und Unrecht beiträgt. Der von Historikern wie Michael Rothberg geforderten Neuverhandlung der Erinnerungskultur begegnet sie skeptisch, so wie dem „deutschen Gedenktheater“, über das sie schreibt: „Doch Versöhnungskitsch und Mystifizierung stehen eher im Dienste eines neuen Nationalbewusstseins als der Aufklärung“. Differenzierung und eine klare Benennung der Unterschiede bleiben nach wie vor die Voraussetzung für ein künftiges friedliches Miteinander und den Abbau von diskriminierenden Vorurteilen.
So kann man das vorliegende Buch fast als eine Art Referenzwerkzeug zum Thema Antisemitismus in Kunst und Kultur in der jüngsten deutschen Vergangenheit und Gegenwart verstehen. Die Vielzahl der Autoren zeugt davon, wie brennend das Thema nach Bearbeitung schreit.
Stella Leder (Hg.)
Über jeden Verdacht erhaben? Antisemitismus in Kunst und Kultur
Hentrich & Hentrich 2021
242 Seiten, Broschur
ISBN: 978-3-95565-464-1, € 19,90
Mit Beiträgen von Ronen Steinke, Dmitrij Kapitelman, Mirna Funk, Ben Salomo, Lena Gorelik, Samuel Salzborn, Max Czollek, Ali Tonguç Ertuğrul, Sabri Deniz Martin, Vojin Saša Vukadinović, Aram Lintzel, Sharon Adler, Debora Antmann, Leo Fischer, Julia Weinreich, Lars Fischer, Benno Plassmann, Katharina Stengel, Jyl Brandler, Bettina Leder, Ramona Ambs, Matthias Naumann, Rebecca Ajnwojner, Martín Valdés-Stauber, Türkân Kanbiçak, Manfred Levy, Mirjam Wenzel, Tahera Ameer, Julya Rabinowich, Tania Martini, Philipp Peyman Engel
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