Ein Jahrhundertleben in 101 Minuten
Ein neuer Dokumentarfilm beleuchtet das Leben des jüdischen Schriftstellers Walter Kaufmann, dessen Eltern in Auschwitz ermordet wurden, und der selbst durch den Kindertransport gerettet wurde.
Walter Kaufmann im Jahre 2020© www.walterkaufmannfilm.de
Nach ihrem weltweit beachteten und preisgekrönten Film „Wir sind Juden aus Breslau“ widmet sich der neue Kinodokumentarfilm von Karin Kaper und Dirk Szuszies dem außergewöhnlichen Leben des Schriftstellers Walter Kaufmann, der kurz nach Fertigstellung des Films am 15. April 2021 im Alter von 97 Jahren in Berlin gestorben ist. Leider war es Walter Kaufmann nicht mehr vergönnt, die Uraufführung der Verfilmung seiner faszinierenden Lebensgeschichte zu erleben. Die beindruckende und berührende Dokumentation „Walter Kaufmann – Welch ein Leben!“ feierte am 13. August 2021 ihre Weltpremiere auf dem Jüdischen Filmfestival Berlin-Brandenburg. Der künstlerisch höchst anspruchsvolle Film erhielt im September Einladungen zum Filmkunstfest in Schwerin und wurde am 22.9. auf der Filmkunstmesse in Leipzig öffentlich präsentiert. Am 30.9. erfolgte der bundesweite Kinostart. Die Regisseure sind auch Eigenverleiher des Films und werden diesen bis Ende 2022 persönlich auf vielen Sonderveranstaltungen vorstellen. Der Film hat auch bereits international Beachtung gefunden, etliche jüdische und andere Filmfestivals haben ihr Interesse signalisiert.
Der u.a. von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und mit großem Engagement von „321-2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland e.V.“ geförderte Film folgt dem Leben einer außergewöhnlichen Persönlichkeit in all ihren Facetten. Walter Kaufmann, geboren als uneheliches Kind 1924 im ärmlichen, ostjüdisch geprägten Berliner Scheunenviertel, wurde drei Jahre später von einer bürgerlichen Duisburger Familie, dem Anwalt und Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Sally Kaufmann und dessen Frau Johanna, adoptiert. In Duisburg besuchte er das Steinbart-Gymnasium. Am Tag seines 15. Geburtstages am 19. Januar 1939 gelang ihm die Flucht mit einem jüdischen Kindertransport nach Großbritannien. Die Adoptiveltern wurden nach Theresienstadt deportiert und später in Auschwitz ermordet. Bei Kriegsbeginn wurde er von den Briten als „feindlicher Ausländer“ interniert und anschließend mit ca. 2500 Mithäftlingen per Schiff nach Australien deportiert, wo er noch fast zwei Jahre in einem Internierungslager verbringen musste. Nach seiner Befreiung erwarb er die australische Staatsbürgerschaft, diente in der Armee und blieb nach dem Krieg in Australien, wo er als Obstpflücker, Landarbeiter, Hafenarbeiter, Seemann und Fotograf arbeitete. Er wurde Mitglied der Kommunistischen Partei Australiens und versuchte, seinen Erlebnissen schriftstellerisch Ausdruck zu verleihen. Er begann 1949 mit der Abfassung seines ersten Romans „Stimmen im Sturm“, der 1953 in Melbourne erschien. Er verarbeitete darin seine Vergangenheit im nationalsozialistischen Deutschland.
Mit der australischen Staatsbürgerschaft in die DDR
1955 wurde er zu den Weltfestspielen nach Warschau eingeladen. Dort begegnete er einem Verleger aus der DDR, der ihn nach Ost-Berlin einlud. Walter Kaufmann nutzte den Deutschland-Besuch, um auch seine Heimatstadt Duisburg wiederzusehen. Diese Erfahrung war niederschmetternd. Man ließ ihn spüren, unerwünscht zu sein. Besonders bitter war die brüske Abweisung, die er von der Familie erfuhr, die sein Elternhaus an sich gebracht hatte und ihm zu verstehen gab, dass all seine Restitutionsansprüche zum Scheitern verurteilt seien. Geschockt vom „Wirtschaftswunder“ und dem Verdrängen der NS-Zeit im Westen, entschied er sich bewusst für ein Leben in der DDR. 1957 übersiedelte er von Australien nach Ost-Berlin, behielt jedoch die australische Staatsbürgerschaft.
Mit seinem australischen Pass durfte er als Journalist und Schriftsteller reisen und verarbeitete diese Erfahrungen in zahlreichen Reportagen und Büchern, die in der DDR in hohen Auflagen erschienen. Von 1985 bis 1993 stand er als Generalsekretär dem PEN-Zentrum vor. Hochrangige Auszeichnungen wie der Fontane-Preis, der Heinrich-Mann-Preis sowie der Literaturpreis Ruhr wurden ihm zugesprochen.
Zeit seines reichen Lebens war er ein Verfechter der Außenseiter der Gesellschaft und auch seiner jüdischen Religion. Dem Film gelingt es, dem Zuschauer dieses außergewöhnliche Leben zu vermitteln. Chronologisch bietet er mit historischem Archivmaterial den Hintergrund zum fast hundertjährigen Leben Kaufmanns und ermöglicht dadurch die präzise geschichtliche Einordnung.
Wo vorhanden bekommt der Zuschauer parallel dazu private Bilder und Filmaufnahmen. Diese werden ergänzt durch Texte aus Kaufmanns Schriften im Off, die seine Gedanken und seine erlebte Geschichte beschreiben. Texte, die teilweise auch sehr poetischen und philosophischen Charakter besitzen, verstärkt durch atmosphärisch schöne Bildkompositionen, die einen perfekten inhaltlichen Kontext besitzen. Besonders hervorzuheben ist auch die Filmmusik des bekannten Komponisten Benedikt Schiefer, der subtil und einfühlsam die Erzählungen von Walter Kaufmann zur Wirkung kommen lässt. Zudem sorgt die souveräne Montagearbeit von Tobias Rahm und Dirk Szuszies dafür, dass die Zuschauer dieser komplexen Weltreise konzentriert und voller Spannung folgen können.
Im Film wird auf imponierende Weise deutlich, wie sich Walter Kaufmann bis ins hohe Alter seinen wachen Geist, scharfen Verstand, genaue Beobachtungsgabe und soziales Engagement bewahrt hat. Er fordert dazu auf, Mut und Zivilcourage zu zeigen und nicht nachzulassen im Kampf gegen jedwede Ungerechtigkeit. Er hat viele Konflikte auf dieser Welt hautnah erlebt, die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA, den israelisch-„palästinensischen“ Konflikt, den Zusammenbruch der DDR. Das sind alles Themen, die uns heute immer noch beschäftigen. Und natürlich: Walter Kaufmann hat den Holocaust überlebt, seine Eltern sind grausam in Auschwitz ermordet worden. Davon legt er im Film Zeugnis ab. Ein wichtiges im Film wiederkehrendes dramaturgisches Element ist die Umsetzung des Briefwechsels von Sally und Johanna Kaufmann mit ihrem Adoptivsohn Walter. Dieser erhaltene bewegende Austausch beginnt mit dem Kindertransport von Walter Kaufmann nach England am 19. Januar 1939 und endet an dem Tag der Deportation der Eltern am 24. Juni 1943.
Die Edition jener Briefe ist soeben erschienen: „Alles Schreiben hat ja das Ziel, daß wir drei wieder zusammenkommen“ ( Klartext Verlag, Essen 2021).
Schulvorführungen
Den Regisseuren Karin Kaper und Dirk Szuszies ist es ein ausdrückliches Anliegen, dass der Film auch von jungen Menschen wahrgenommen wird. Deshalb sind viele Schulvorführungen in Kinos geplant, filmpädagogisches Begleitmaterial wird Lehrkräften zur Verfügung gestellt.
Zum Tod Walter Kaufmanns betonte in Berlin Christoph Heubner, der Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees: „Walter Kaufmanns Leben und sein literarisches Werk spiegelten immer die Erinnerungen an das Elend des antisemitischen Hasses und den Schmerz, die Fülle und die Herausforderungen des Exils wider. Walter Kaufmann war bis in seine letzten Tage hinein ein beherzter literarischer Beobachter und ein sensibler Zeitgenosse, den das Leben seiner Mitmenschen und die Ungerechtigkeiten der Welt nie kalt gelassen haben und der dennoch immer wieder von der Schönheit dieser Welt bewegt und angetrieben war. Er war als Schriftsteller ein Meister der short-story und der Reportage. Es ist tröstlich, dass als Vermächtnis dieses großen Zeitzeugen nicht nur seine Bücher, sondern auch der Dokumentarfilm ‚Walter Kaufmann – Welch ein Leben!‘ der renommierten Filmemacher Karin Kaper und Dirk Szuszies bleiben werden.“
Alle Infos und Termine: www.walterkaufmannfilm.de
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