Ein Seelenschrei unter den Trümmern des Schweigens

Zum 120. Geburtstag der DDR-treuen Schriftstellerin Anna Seghers und ihren verdrängten jüdischen Wurzeln

Ging nach dem Krieg in den kommunistischen Teil Deutschlands: Anna Seghers

Von David Schimanowski

In der Sowjetunion und den Staaten der sogenannten „Volksdemokratie“ waren Anna Seghers‘ Bücher Pflichtlektüre für die Schüler, war sie doch die Vorsitzende der Schriftstellerunion in der DDR, Mitglied der Deutschen Akademie der Künste, des „Weltrates des Friedens“ und des Internationalen Ausschusses für die Lenin-Preise.

Die Werke dieses anerkannten Klassikers des sozialistischen Realismus‘ sind bei den heutigen Lesern nicht mehr gefragt. Dabei sind viele wichtige Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts ohne diese Bücher nur schwer zu verstehen.

 

Ein Kind des Jahrhunderts

Am 19. November 1900 kam in der Familie des Mainzer Antiquitätenhändlers, Mitglieds der neuorthodoxen Synagoge Isidor Reiling die Tochter Netti zur Welt. Ihre Mutter Hedwig stammte aus einer Frankfurter Kaufmannsfamilie; sie führte den Haushalt und engagierte sich in der Wohltätigkeitsarbeit.

Der Vater eröffnete dem einzigen Kind bereits früh die Welt der Literatur und der Kunst; die stille, zurückhaltende Netti war intellektuell weit über ihr Alter hinaus entwickelt. Mit sieben Jahren besuchte sie eine Privatschule und mit zehn eine höhere Mädchenschule. In Köln und Heidelberg studierte sie danach Kunstgeschichte und Kulturologie. Ihre ästhetischen Vorlieben wurden von Traditionen sowohl der deutschen als auch der Weltliteratur und Kunst geformt. Während ihres Studiums interessierte sie sich für die Werke des Philosophen Martin Buber und der Schriftsteller Honoré de Balzac, Franz Kafka, Lev Tolstoi. 1924 promovierte sie an der Heidelberger Universität mit der Dissertation „Jude und Judentum im Werk Rembrandts“.

Ihre erste Erzählung „Die Toten auf der Insel Djala“ wurde in der Beilage zur Frankfurter Zeitung unter dem Pseudonym Anna Seghers veröffentlicht; das Pseudonym lieh sich die Autorin vom niederländischen Maler des 17. Jahrhunderts Hercules Seghers. Bei einem Jugendtreffen lernte Netti einen ungarischen Juden, den Doktor der Philosophie und Kommunisten László Radványi kennen. Bald darauf heirateten sie und zogen nach Berlin; das Paar bekam zwei Kinder – einen Sohn und eine Tochter.

 

Sie verließ die jüdische Gemeinde, blieb dennoch dem Glauben der Eltern treu

Das erste Buch (1928) „Aufstand der Fischer von Santa Barbara“ erschien ebenfalls unter dem Pseudonym Anna Seghers; das war eine Geschichte vom erfolglosen Kampf der Seearbeiter gegen die Armut und die Willkür der Schiffseigner. Das Buch wurde mit dem renommierten Kleist-Preis ausgezeichnet. Zur selben Zeit trat Anna der Kommunistischen Partei Deutschlands bei, wo sie einen aktiven Kampf mit den Nationalsozialisten begann. Sie verließ die jüdische Gemeinde, blieb dennoch dem Glauben der Eltern treu: Sie war der Auffassung, dass der Kommunismus die soziale Mission des Judentums vollenden würde.

Auch weiterhin schrieb Seghers über die Glücklosen und Diskriminierten dieser Welt: Die Hauptperson ihrer Novelle „Grubetsch“ ist arbeitslos, die Erzählung „Die Ziegler“ handelt vom ruinierten Leben der pleitegegangenen Heimhandwerker, ihr Essay „Auf dem Weg zur amerikanischen Botschaft“ erzählt über die Proteste gegen die Todesstrafe im Prozess Sacco und Vanzetti (Sacco und Vanzetti waren italienische Einwanderer, die sich in den USA einer anarchistischen Arbeiterbewegung anschlossen; sie wurden der Beteiligung an einem Raubmord angeklagt und 1921 in einem umstrittenen Prozess schuldig gesprochen; 1927 wurden sie hingerichtet, - Anm. d. Übers.).

1930 reiste Anna Seghers in die Sowjetunion auf die Internationale Konferenz der revolutionären Schriftsteller und, zurück nach Deutschland, berichtete sie begeistert von den Bauschaffenden des Sozialismus. 1932 wurde ihr Roman „Die Gefährten“ über den Widerstand der Kommunisten verschiedener Länder gegen ihre Unterdrücker veröffentlicht. Die Revolutionäre – ein Ungar, ein Pole, ein Bulgare, ein Italiener und ein Chinese – sind zielstrebig, kämpfen entschlossen für Freiheit und Gleichheit. Die Autorin idealisierte ihre schematischen Charaktere und überschätzte eindeutig die Rolle der UdSSR im Kampf zwischen den reaktionären Kräften und dem Fortschritt. Das Buch sollte der erste Versuch eines antifaschistischen epischen Romans werden.

 

Exiljahre in Frankreich und Mexiko

Nach der Machtergreifung Hitlers wurde Anna von der Gestapo verhaftet; man drohte ihr mit Vernichtung, solle sie ihre politische Aktivitäten und auch ihre literarische Tätigkeit nicht einstellen. Einige Wochen später wurde sie freigelassen, nachdem man ihre „zivile Hinrichtung“ öffentlich gemacht hatte: ihre Bücher wurden in ihrer Anwesenheit verbrannt. Versuche, die Schriftstellerin einzuschüchtern, endeten mit der Umwandlung von einer „gewöhnlichen Hausfrau und Mutter der Familie“, wie sie es selbst beschrieb, in eine unermüdliche Kämpferin gegen die nationalsozialistische Ideologie. Zusammen mit ihrem Mann und den Kindern reiste Anna Seghers nach Frankreich und ließ sich in Paris nieder. Dort gab sie eine Zeitschrift heraus, in der sie den Kampf gegen den Faschismus fordert und sich an der Entstehung der antifaschistischen Volksfront und an der Einberufung des Internationalen Kongresses zur Verteidigung der Kultur (1935) beteiligt.

Sie schrieb Artikel in scharfer Diktion, hielt Reden, enthüllte den reaktionären Kern des Faschismus. Von Paris aus schickte sie Untergrundliteratur nach Deutschland, unterstützte die Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg, erforschte die Gründe für den Sieg der Nazis. In dieser Zeit hat sich die führende antifaschistische Ausrichtung von Seghers‘ literarischer Arbeit verfestigt. Im Roman „Der Kopflohn“ (1933) beschreibt Seghers die tiefste Provinz am Vorabend des Putsches der Nazis und den Versuch eines Kommunisten, die Bewohner für den Kampf für ihre Rechte zu rekrutieren, der aber an deren politischer Blindheit und Trägheit scheitert . Der Roman „Der Weg durch den Februar“ (1935) widmet sich den Ursprüngen, dem Verlauf und den Lehren der Niederlage des Aufstands der Wiener Proletarier im Februar 1934. 1937 wurde ein weiteres Buch „Die Rettung“ zum Thema Uneinigkeit der deutschen Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik veröffentlicht.

Nachdem die Deutschen in Paris einmarschiert sind, wurde Radványi in einem Lager in Südfrankreich interniert. Anna floh mit den Kindern nach Marseille und unternahm große Anstrengungen, um ihren Ehemann zu befreien. Die Vereinigten Staaten weigerten sich, die kommunistische Familie aufzunehmen, doch ein mexikanisches Visum erlaubte es ihnen, nach Mexiko-Stadt zu reisen. László bekam einen Job an der Universität, Anna gründete die antifaschistische Zeitschrift „Freies Deutschland“, den Heinrich-Heine-Club und unterhielt enge Beziehungen zu deutschen Untergrundkämpfern und Emigranten. In Mexiko erreichte sie die Nachricht vom tragischen Schicksal ihrer Eltern: Ihre Mutter weigerte sich aufgrund einer schweren Krankheit ihres Vaters auszuwandern, wurde nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Anna Seghers selbst wurde mehrfach zum Ziel anonymer Angriffe und ist dem Tod nur knapp entkommen. Einmal wurde sie von einem Lastwagen angefahren, der dann spurlos verschwand. Zwei Monate lang lag sie mit einer schweren Kopfverletzung im Koma.

Dennoch arbeitete sie weiterhin unermüdlich und schrieb die Erzählung „Der Ausflug der toten Mädchen“ – die Erinnerungen an die Freundinnen ihrer Jugend, an Liebe und persönliche Würde. 1944 kam das Essay „Transit“ – über einen Auswanderer, der die düstere Geschichte seiner Flucht aus dem Lager erzählte und von stillem Glück träumte. Das Hauptwerk von Seghers, das in Mexiko veröffentlicht und in den USA verfilmt wurde, war der 1942 erschienene Roman „Das siebte Kreuz“, der weltweiten Ruhm errang. Die Handlung basierte auf der Geschichte der Flucht von sieben Gefangenen aus dem Konzentrationslager. Den Nazis gelingt es, alle außer den Kommunisten Geissler wieder zu fangen, dem auf seinem Fluchtweg zahlreiche Deutsche begegnen, die unterschiedliche Ansichten vom Nationalsozialismus haben. Dabei beteiligen sich viele – aus verschiedenen Gründen – an der Rettung des Flüchtlings, was einen Dominoeffekt der Solidarität zur Folge hat. „Das Siebte Kreuz“ wurde zu einem facettenreichen Abbild der Gesellschaft, das die Vielfalt der Formen des Widerstands gegen den Nationalsozialismus enthüllte. Das Buch wurde in 40 Sprachen übersetzt und in Auszügen in Zeitungen auf der ganzen Welt veröffentlicht.

 

Dem Sozialismus dienen

Nach der Niederlage des Faschismus kehrte Anna Seghers in ihre Heimat zurück und entschied sich für ein Leben in Ostdeutschland, denn dort sah sie bessere Chancen, das Land auf dem Weg zum Sozialismus zu erneuern. Sofort nahm sie die Arbeit zur Wiederbelebung von Kultur und Demokratie auf. Die DDR-Behörden belohnten sie großzügig für ihre aktive soziale und politische Tätigkeit. 1947 erhielt Seghers den größten Literaturpreis – den Buchner-Preis. „Als Kommunistin, Schriftstellerin und Mutter werde ich alles tun, um einen Krieg zu verhindern“, sagte sie, als sie 1951 den Stalin-Friedenspreis erhielt. Um die Vergangenheit Deutschlands besser zu enthüllen, kehrte Seghers in der Geschichte „Die Saboteure“ (1946) zu ihren Helden des Romans „Das siebte Kreuz“ zurück, die versuchen, den Nationalsozialismus zu bekämpfen, indem sie defekte Granaten für die Wehrmacht herstellen. In dem Roman „Die Toten bleiben jung“ von 1949 wurden die wichtigsten Ereignisse in der Geschichte des deutschen Volkes von 1918 bis 1943 wiederbelebt und die Rolle der Magnaten, des Militärs und der Politiker bei Hitlers Aufstieg zur Macht sowie die Trägheit und Unentschlossenheit der Bildungsschicht, der Bauern, der Handwerker und der Arbeiter in künstlerischer Form hervorgehoben. Die offizielle Kritik in der DDR warf der Schriftstellerin allerdings vor, die Charaktere von Kommunisten oberflächlich dargestellt zu haben.

Vom wahren sowjetischen „Sozialismus“ hatte Anna Seghers nur eine vage Vorstellung; den sozialistischen Aufbau in der DDR idealisierte sie. In der Dilogie „Die Entscheidung“ (1959) und „Das Vertrauen“ (1968) arbeitete sie das Thema Leben in Ost- und Westdeutschland nach dem Krieg auf. Ihr Augenmerk richtete sie auf die Bildung einer neuen Gesellschaft, die am Beispiel der Geschehnisse in einer metallurgischen Fabrik und des Kampfes um die Seele eines durchschnittlichen Deutschen behandelt wird, „um dieser Seele zu helfen, sich selbst zu reinigen und zu erstarken“. Die Schriftstellerin versucht, Veränderungen in der Psychologie der Menschen vor dem Hintergrund von Klischeekonflikten zwischen Konservativen und Progressiven, Führern und gewöhnlichen Arbeitern aufzudecken. Die sozialen Prozesse in der BRD beschreibt sie überwiegend negativ. Und in dem Roman „Das Vertrauen“ zeigt Seghers die Charaktere in einem Moment der tragischen Ereignisse – des politischen Streiks der Arbeiter am 17. Juni 1953 – und versucht diesen durch die Fehleinschätzungen der wirtschaftlichen Führung zu erklären, die die Antikommunisten ausnutzten. Die Schriftstellerin legt den Schwerpunkt auf Wachsamkeitserziehung in Kombination mit dem Vertrauen in diejenigen, die es verdienen.

Der sozialistische Realismus, dem Seghers in ihrer Arbeit folgte, entsprach nicht ganz den ideologischen Dogmen der SED. Trotz der Parteikritik versuchte sie vor allem die ethischen und psychologischen Aspekte des Handelns von Vertretern verschiedener Schichten und Generationen zu erforschen. Dabei konzentrierte sie sich auf die Entwicklung der inneren Motivation der Menschen in Form des Pflichtgefühls und der Stimme des Gewissens. Seghers spricht darüber in der Geschichte „Der Mann und sein Name“, in den Sammlungen von Kurzgeschichten und Essays „Die Linie“, „Frieden der Welt“, „Der erste Schritt“, „Die Kraft der Schwachen“ usw. Auch passten ihre Phantasie-Geschichten, Legenden, Gleichnisse („Das Argonautenschiff“, „Sonderbare Begegnungen“, „Sagen von Artemis“ usw.), in denen sie die Welt in einem philosophischen und ästhetischen Sinne reflektiert, nicht in die vorgeschriebenen Richtlinien der Staatsorgane.

Obwohl vieles in dem totalitären Regime der DDR für sie inakzeptabel war, kritisierte Seghers dieses nicht offen. Sie verteidigte ihre Kollegen, die bei den Behörden in Ungnade gefallen waren, konnte aber einem Freund, dem Direktor eines Verlags, der zu einer langen Haftstrafe verurteilt wurde, nicht helfen. Nach ihrem Tod im Jahr 1968 wurde die Geschichte „Der gerechte Richter“ entdeckt, deren Held selbst ins Gefängnis kommt, weil er gegen ein unfaires Urteil protestiert. Der Dichter Stefan Hermlin erinnerte sich:

„Ich wusste immer, dass Anna Seghers Schmerzen in den Tiefen ihrer Seele und unter den Trümmern des Schweigens einen Schrei verbirgt – einen Schrei, den noch niemand gehört hat. Aber eines Tages [...] ließ sie ihrem Schmerz freien Lauf und sagte: ‚Mein geliebtes jüdisches Volk!‘ Wahrscheinlich erinnerte sie sich ihrer Mutter, aber auch etwas Anderes steckte dahinter – die Erkenntnis ihrer Obdachlosigkeit und Ohnmacht.“

 

Übersetzung aus dem Russischen von Irina Korotkina

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