Die Wiederjudmachung

Eine Reise in die österreichisch-jüdische Nachkriegsgeschichte

Der Stadttempel ist die Hauptsynagoge von Wien© Murat KULA / TURKISH PRESIDENTIAL PRESS SERVICE / AFP

Von Peter Sichrovsky (Schlaglichter.at)

Ein paar Jahre nach Ende des Krieges in Wien geboren, lebte ich mit meinen Eltern in Wien-Hietzing in einem halb zerbombten Haus, im vierten Stock, in einer großen Wohnung mit einem eigenen Kinderzimmer, damals ein echter Luxus. Mein Vater beschrieb mir später dieses Zimmer meiner frühen Kindheit als großen Raum gleich neben der Küche, mit genügend Platz für Gitterbett und Teppich, auf dem ich spielen konnte, und einer Tür an der gegenüberliegenden Wand, die mit Holzbrettern vernagelt war. Die Tür führte ins Nichts. Hinter ihr, wo vielleicht früher ein nobles Wohnzimmer mit bequemer Sitzgarnitur zum Lesen und zur Unterhaltung einlud, ging es hinunter in den Abgrund. Dieser Teil des Hauses war bei einem Bombenangriff zerstört worden.

Meine Eltern kamen nach dem Krieg aus London zurück nach Wien. Wobei es eigentlich nur für meinen Vater ein Zurückkommen war, meine Mutter verließ 1938 Prag in Richtung England, lebte jedoch die Jahre zuvor immer ein Jahr in Prag und eines in Wien und sprach fließend Wienerisch mit einem noblen Hietzinger Akzent. Mein Vater wuchs im Zweiten Bezirk auf, sprach zwar Hochdeutsch mit uns, jedoch im Streit mit einem Taxifahrer konnte er sehr schnell auf den Dialekt der Leopoldstadt wechseln. Nach ein paar Jahren im vernagelten Kinderzimmer zogen wir in ein Reihenhaus in Meidling, dem 12. Bezirk in Wien. Angeblich bekam es mein Vater von der britischen Armee zugewiesen. Er hatte sich nach seiner Flucht von Wien nach England zur Armee gemeldet und kam als britischer Soldat zurück nach Wien, verließ dann die Armee und versuchte sich als Journalist.

Dem winzigen Reihenhaus mit einem verwilderten Garten auf der Rückseite und papierdünnen Wänden verdanke ich mein erstes eher indirektes erotisches Erlebnis, wenn unsere Nachbarn jeden Mittwochabend offensichtlich in ihrem Schlafzimmer, das an das Kinderzimmer angrenzte, wenn auch im Nebenhaus, sich dem regelmäßigen, wöchentlichen Beischlaf hingaben und ihn lautstark genossen. An diesen Abenden ging ich zum Erstaunen meiner Eltern immer freiwillig früh zu Bett mit einem Buch in der Hand und gab vor, in Ruhe lesen zu wollen.

Auch sonst habe ich dieses Haus als ein Zentrum spannender und aufregender Erlebnisse in Erinnerung. Unsere Familie war ein Treffpunkt der Gestrandeten und Überlebenden. Zu den Besuchern gehörten zurückgekehrte Emigranten, Überlebende der Konzentrationslager und Flüchtlinge, die sich den alliierten Armeen angeschlossen hatten. Alle vier Besatzungsarmeen waren manchmal in unserem Haus vertreten. Vier Wiener, die Wien in britischer, französischer, amerikanischer und russischer Uniform besetzten oder befreiten. Bei all dieser Vielfalt hatten sie auch ihre Gemeinsamkeiten. Sie waren Juden, lebten vor dem Krieg in Österreich und hatten den Großteil ihrer Familien unter den Nationalsozialisten verloren.

 

Vier Freunde in Uniformen der Alliierten

Da gab es den Onkel Lajos, von dem ich bis heute nicht weiß, warum ich ihn Onkel nannte. Er war weder mit meiner Mutter noch mit meinem Vater verwandt und hatte einen Schäferhund, eher selten für einen Juden damals. Als Jugendlicher meldete er sich zur Thälmann-Brigade in Spanien. Nach der Niederlage gegen Franco schlug er sich bis in die Sowjetunion durch, wo er sich der Roten Armee anschloss und 1945 als Soldat nach Wien kam. Der Onkel David, auch kein echter Verwandter. Er sprang vom Zug nach Auschwitz und versteckte sich jahrelang. Eine stark geschminkte Sonja mit ihrem dicklichen Mann, die, mit genügend Geld ausgestattet, die Kriegsjahre in Los Angeles in einer Villa mit Schwimmbad verbrachten, uns immer wieder Fotos zeigten und den Tag verfluchten, an dem sie zurück nach Wien kamen.

All diese Berichte ersetzten mir Bücher, Radio und Kino. Ich lebte sozusagen in einem Abenteuerfilm. Nur wenige sprachen selbst über die eigene Flucht oder das Überleben in den Lagern. Es waren immer die einen, die über die anderen sprachen, wenn sie nicht anwesend waren. Ich verstand später nie die oft pathetische Heiligsprechung der Überlebenden. Natürlich hatten sie schreckliche Qualen durchgemacht, aber wie mir einer, er hieß Onkel Robert, der drei Jahre in Buchenwald war, versicherte, sei er nicht stolz darauf, überlebt zu haben. Es empfinde das als Beleidigung der Ermordeten. Da gäbe es nichts, worauf man stolz sein könnte, und er war einer der wenigen, die überhaupt über ihre Erlebnisse sprachen. Er beschrieb das Suchen nach Toten, die die Nacht nicht überlebt hatten, zeitig am Morgen auf den Pritschen in der Baracke, um ihnen die Schuhe auszuziehen. Die Geduld, die man haben musste, um beim Suppentopf, der auf dem Tisch stand, zu warten, bis der untere Teil verteilt wurde, da er immer dickflüssiger und ausgiebiger war als der obere Teil. Und die vielen Freunde, die er in den Jahren dort verloren hatte.

Unter den Bekannten und Freunden meiner Eltern, die diesen Horror irgendwie überstanden hatten, waren Dichter und Denker, die ganze Strophen deutscher Gedichte und Szenen von Theaterstücken auswendig konnten, Professoren, Ärzte und Ingenieure, aber auch Gauner und Diebe, die nicht die geringsten Hemmungen hatten, einen anderen mit ähnlichem Schicksal zu betrügen oder zu bestehlen. Religion hatte damals kaum eine Bedeutung in dieser Gesellschaft. Manche gingen zwar zu den Festtagen in die Synagoge und zu Pessach gab ein großes Abendessen, doch ebenso feierten sie Weihnachten und Ostern.

 

Meine Familie lebte seit 200 Jahren in Wien

Die meisten Synagogen waren zerstört und die Israelitische Kultusgemeinde Wien (IKG) musste sich nach dem Krieg neu organisieren. Vor dem Krieg hatte sie 185.000 Mitglieder, nach 1945 lebten nur mehr etwa 8.000 Juden in Wien, fast alle keine Wiener Juden, sondern Flüchtlinge und Überlebende, die in Wien hängen geblieben waren. Das traditionelle Wiener Judentum existierte nicht mehr. Meine Familie, die seit 200 Jahren in Wien lebte und ein paar Freunde meiner Eltern machten vielleicht noch 50 Familien aus, die bereits vor dem Krieg in Wien wohnten.

Das Leben der Juden in Wien geht bis zur Römerzeit zurück und im 12. Jahrhundert wurden die ersten Juden namentlich in Dokumenten erwähnt. In den Jahrhunderten der Monarchie erlebten Juden die unterschiedlichsten Perioden, je nachdem wie tolerant oder weniger tolerant ein Kaiser oder eine Kaiserin war. Es gab Zeiten, da lebten 2.000 bis 3.000 Juden in Wien und das religiös-kulturelle Leben blühte auf, dann wurden sie wieder vertrieben und verließen Wien, um vielleicht hundert Jahre später unter einem anderen Kaiser wieder zurückzukommen. Der bürgerliche Aufschwung im 18. Jahrhundert schuf wohlhabende jüdische Unternehmer und Bankiers, die sich mehr und mehr in die Gesellschaft integrierten.

So ist wahrscheinlich heute wenig bekannt, dass die Treue zu Österreich der jüdischen Untertanen auch die Sympathien für die Französische Revolution übertraf. Juden übernahmen sogar die Kosten zur Aufstellung von Einheiten gegen Frankreich und wohlhabende Bankiersfamilien wie Arnstein oder Eskeles finanzierten den Aufstand von Andreas Hofer. Doch keine Periode war jemals so vernichtend und zerstörend wie die zwischen 1938 und 1945 und dementsprechend übertrugen sich diese traumatischen Ereignisse auf die Überlebenden und auch ihre Nachkommen. Nur wenige Freunde meiner Eltern sprachen offen über Flucht und Konzentrationslager. Meine Eltern konnten überhaupt nicht darüber sprechen, doch je älter ich wurde, desto mehr interessierte mich die Vergangenheit.

 

Suche nach der Familiengeschichte

Mit sechzehn beschloss ich, die unbeantworteten Fragen nicht mehr zu akzeptieren und mich selbst in die Familiengeschichte zu stürzen. Von meiner Mutter wusste ich, dass sie als Sechzehnjährige 1938 alleine, ohne ihre Mutter, von Prag nach England fuhr. Eine Quäkerfamilie in Falmouth nahm meine Mutter auf und sie ging dort zur Schule. Ich fand den Namen dieser Familie in alten Dokumenten und ohne es mit meinen Eltern zu besprechen, schrieb ich nach Falmouth und bat, sie zu besuchen. Sie antworteten begeistert und luden mich ein. Ich nahm den Zug nach Prag und fuhr die gleiche Strecke wie meine Mutter nach England. Zwei Wochen blieb ich in Falmouth, sah die Schule, die meine Mutter besucht hatte, und traf auch ihre Direktorin, die bereits über neunzig war, sich jedoch an meine Mutter erinnern konnte. Vom Vater dieser Familie erfuhr ich zum ersten Mal, dass meine Mutter mit einem gefälschten Taufschein, den ihr ein Priester in Prag mitgegeben hatte, mit dem Zug durch Deutschland fuhr. Der tschechische Pass hatte kein „J“ eingestempelt, sodass sie ungehindert Belgien und England erreichen konnte.

Als nächstes Projekt suchte ich nach Informationen über die Flucht meines Vaters. Von einem seiner Freunde erfuhr ich, dass er Wien nach dem Einmarsch der Deutschen, ohne seine Eltern zu informieren, mit zwei Freunden verlassen hatte. Er war damals 17 Jahre alt. Die drei versuchten sich in einem Zug zu verstecken, wurden jedoch an der Grenze zu Belgien verhaftet. Nach mehreren Tagen Gefängnis hätte ein Offizier sie während der Nacht aus den Zellen geholt, mit seinem eigenen Auto zur Grenze nach Belgien gefahren und sie dort abgesetzt. So überlebte mein Vater. Ich fragte meinen Vater, ob diese Geschichte des Freundes stimmen würde, und er nickte, mehr sagte er nicht. So überlebten meine Eltern. Die Grundlage meines Daseins ist die Tatsache, dass zwei Personen sich nicht an die Vorschriften hielten, ein Priester in Prag und ein deutscher Offizier. Eine Erfahrung, die mich ein Leben lang verfolgte und viele meiner Entscheidungen beeinflusste.

 

Säkulare jüdische Großeltern

Nachdem ich erfahren hatte, wie meine Eltern fliehen konnten, wollte ich mehr über Verwandte wissen, die nicht es nicht geschafft hatten. Ein Jahr später beschloss ich, nach Auschwitz zu fahren, nachdem ich herausgefunden hatte, dass die Mutter meiner Mutter dort ermordet worden war. Selbst diese Recherche war schwierig. Meine Eltern waren nie Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Wien, doch im Zuge meines wachsenden Interesses am Judentum beschloss ich, selbst um die Mitgliedschaft in der IKG anzusuchen. Das stellte sich als komplizierter heraus, als ich es mir vorgestellt hatte. Der Nachweis des Judentums meiner Mutter – das einzig wichtige Kriterium im Judentum – fehlte, da bereits die Eltern meiner Mutter, obwohl beide Juden waren, Religion strikt ablehnten und in den Dokumenten meiner Mutter kein Hinweis auf ihr Judentum zu finden war. Nach längerem Suchen fand ich die Todesurkunde ihrer Mutter, meiner Großmutter. Sie war in Auschwitz ausgestellt worden und bezeichnete meine Großmutter als Jüdin. Das genügte der IKG und war der Grund, dass ich mich auf den Weg nach Auschwitz machte.

Im Gegensatz zu heute besuchten damals nur wenige das Konzentrationslager. Ich fuhr gemeinsam mit Ava, einer Freundin, die etwas älter war als ich. Wir waren kein Paar, kannten uns über unsere Eltern und auch in ihrer Familie gab es zahlreiche Verwandte, die nach Auschwitz deportiert worden waren. Wir ahnten beide, dass wir diese Reise nicht alleine schaffen würden und erreichten das Museum im November, es war grau und kalt, das Museum nicht beheizt. Führungen oder Erklärungen gab es keine. Das Erlebnis ist nicht einfach zu beschreiben. Zwei Jugendliche gingen ziemlich verloren zwischen den Baracken herum, standen vor den Gaskammern und vor einem Berg mit Löffeln, Messern und Gabeln, Brillen und Koffern mit Namensschildern und versuchten, die Namen von Verwandten zu entziffern. Im Museum fanden wir dann die Namen der Verwandten, bürokratisch genau festgehalten mit deutschem Ordnungssinn. Tag der Einlieferung, Tag der Ermordung, manchmal derselbe Tag, manchmal ein paar Wochen später. Es fehlt mir bis heute die sprachliche Begabung, die Eindrücke damals in Worte zu fassen. Im Zug zurück nach Wien sprachen wir kaum, saßen meist stumm nebeneinander, berührten uns mit den Schultern, und manchmal nahm Ava meine Hand, drückte sie, sah mich an und begann zu weinen.

Zurück in Wien beschloss ich, wieder Jude zu werden. Das Versteckspiel meiner Eltern musste ein Ende nehmen. Ich war der Sohn von jüdischen Überlebenden, die keine Juden mehr sein wollten. Allerdings nur jüdische Freunde hatten und mit den Schuldgefühlen lebten, oft als einzige der Familie überlebt zu haben und es auf ihre Kinder übertrugen. Ich verweigerte diese Opferrolle und nichts war mir unangenehmer als Mitleid und larmoyante Reden an Gedenktagen. Warum sollten die Erlebnisse meiner Eltern und ihr Entschluss, nicht mehr aktiv am jüdischen Leben teilzunehmen, mich beeinflussen? Ich wollte meine eigenen Entscheidungen treffen und den Weg in diese Heimat versuchen.

Also fuhr ich nach Israel. Entdeckte dort Verwandte meines Vaters, die ich nie zuvor gesehen hatte und traf Freunde meiner Eltern, die mir das Land zeigten. Die Absurdität meines Daseins erreichte mich auf dieser Reise, wenn Israelis mich auf Hebräisch ansprachen und mir nicht glaubten, ich könnte die Sprache nicht. Ich würde aussehen wie ein israelischer Offizier, erklärten sie mir, und nicht wie ein Tourist aus Wien. Ich besuchte den Bruder meines Vaters in Berlin, seine Schwester, die in Frankreich lebte und die beiden Tanten meiner Mutter in London und saß stundenlang mit ihnen zusammen und stellte Fragen über Fragen. Sie zeigten mir Fotos und erzählten von Erinnerungen, bis ich dieses weite Loch, das meine Eltern mit ihrem Schweigen hinterlassen hatten, langsam füllen konnte.

 

Neues jüdisches Leben in Wien

Parallel zu meiner persönlichen Entwicklung veränderte sich auch das jüdische Leben in Wien. Die Nachkriegsgeneration übernahm die Präsidentschaft und wichtige Funktionen in der Jüdischen Gemeinde, war weniger belastet durch persönliche Erlebnisse, unbefangener und mutiger. Schulen und Kindergärten wurden gebaut, die verschiedenen Gruppen innerhalb der Gemeinde öffneten eigene Synagogen und neue Gebetsstätten. Das Judentum teilt sich vereinfacht in Bezug auf Religiosität in drei Gruppen. Die orthodoxen, die konservativen und die liberalen Juden. Die Regeln sind derart kompliziert, dass eine eigene wissenschaftliche Arbeit notwendig wäre, um die Unterschiede vollständig zu erfassen. Am besten erklärt es wie so vieles im Judentum ein Witz: Bei drei Hochzeiten, einer orthodoxen, einer konservativen und einer liberalen, könnte bei der orthodoxen Hochzeit die Mutter der Braut schwanger sein, bei einer konservativen möglicherweise die Braut, und bei einer liberalen Hochzeit der Rabbiner.

Wie schon vor dem Zweiten Weltkrieg konzentriert sich auch heute die jüdische Bevölkerung im Zweiten Wiener Gemeindebezirk. Manche Schätzungen gehen davon aus, dass zwar der Prozentsatz der Juden in Wien weniger als ein halbes Prozent beträgt, in der Leopoldstadt, der ehemaligen „Mazzes-Insel“, sind es jedoch mehr als drei Prozent. Die Zahl der Jüdinnen und Juden ist nicht einfach zu erfassen, da viele nicht Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde sind. Manche Schätzungen gehen von 10.000 bis 15.000 aus, die in Wien leben, während andere von etwa 20.000 sprechen.

Im Herbst 2008 übersiedelte die Jüdische Schule in einen Komplex nahe dem Messezentrum mit jüdischem Kindergarten, Volksschule und Gymnasium für rund 600 Kinder. In der Nähe befinden sich seit März 2008 das wiedereröffnete Hakoah-Sportzentrum im Prater, ein Bildungszentrum und das jüdische Pensionistenheim. In der Leopoldstadt befinden sich acht aschkenasische und drei sephardische Synagogen und zahlreiche Bethäuser, sieben jüdische Bildungseinrichtungen, mehrere koschere Supermärkte, Bäckereien und Restaurants. Es gibt einen jüdischen Gebetsraum im Allgemeinen Krankenhaus, eine Bucharische und Georgische Synagoge, eine Mikwe, das jüdische Bad und ein eigenes Zentrum der liberalen Juden, der Or Chadash. Warum es für so wenige Juden so viele Synagogen und Bethäuser gibt, kann ebenfalls ein Witz erklären: Als ein Überlebender eines Schiffsunglücks nach vielen Jahren gerettet wurde und er seine Retter durch die einsame Insel führte, zeigte er ihnen zwei Hütten auf einem Hügel, die er als seine Synagogen beschrieb. Als ihn einer fragte, warum er zwei Synagogen baute, wenn er doch hier alleine lebte, antwortete er: „In die eine gehe ich zum Beten und in die andere würde ich nie hineingehen.“

Sie brauchen die Vielfalt, die Unterschiede und die Auswahl und es sind weniger praktische Gründe, wie viele Synagogen es geben könnte und wie groß sie sein müssten. So klein eine Gemeinde auch sein mag, sie wird sich spalten, wird verschiedene Gruppen haben und bald auch mehrere Rabbiner, die ihren Gläubigen erklären, warum die anderen das heilige Buch, die Thora, auch anders verstehen würden. Und dennoch sind sie eine Gemeinschaft, widersprüchlich und unzertrennlich, wie auch die Gesellschaft in Israel mit Emigranten aus der ganzen Welt letztlich doch einen Staat bildete.

Die Wiederbelebung des jüdischen Lebens in Wien erreicht auch eine gesellschaftliche Bedeutung. Vertreter jüdischer Organisationen melden sich zum Tagesgeschehen, nehmen an Diskussionen teil und sind präsent im politischen Alltag – von den Jüdischen Hochschülern bis zu Frauenorganisationen und den Pensionisten. Etwa ein Dutzend jüdischer Magazine erscheint regelmäßig, eine jüdische Filmwoche und Kulturwoche belegen diese fast schon euphorische Wiedergeburt. Die gut organisierte Internetseite der IKG gibt genaue Auskunft über aktive Synagogen, Bäckereien, Restaurants, Supermärkte und jüdische Festivals.

 

Meine Reise in die Tradition

Da ich diesen Bericht mit meinen persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen begann, möchte ich ihn auch damit beenden. Heute, mehr als fünfzig Jahre nach meinem Entschluss, wieder Jude zu werden, bin ich immer noch kein gläubiger Jude. Das Fehlen der religiösen Erziehung durch meine Eltern konnte oder wollte ich nicht nachholen. Zum Beten fehlen mir die Überzeugung und vielleicht auch der Glaube. Doch das Judentum gibt einem diesen herrlichen Ausweg, auch als Atheist Jude zu sein, es als kulturelle Tradition zu verstehen, als eine Zugehörigkeit zu empfinden und mit der Vielfalt von den nichtgläubigen bis zu den streng orthodoxen Juden sich als Gemeinschaft zu verstehen.

Vor einem Jahr feierte mein Enkelsohn seine Bar Mitzvah und las als Dreizehnjähriger aus der Thora vor der versammelten Gemeinde in der Synagoge einer Kleinstadt in New Jersey, nicht weit von Manhattan. Als Großvater wurde ich für einen Segensspruch zur Thora aufgerufen, obwohl ich meine Tochter vorher erinnerte, dass ich weder Hebräisch lesen konnte, noch irgendeinen Segenspruch kannte. Doch alles wurde für mich vorbereitet, mit einer einladenden Selbstverständlichkeit, die bedeutete: Du sagst den Segen hier, du bist der Großvater, und wir werden dir dabei helfen, egal was du kannst oder weißt. Der Spruch lag auf einem Zettel mit lateinischen Buchstaben geschrieben auf dem Pult und der Rabbiner sprach mir langsam die Worte vor, so dass ich sie richtig betonte.

Meine mit 16 begonnene Reise in die jüdische Heimat mit dem Versuch, trotz der gewaltsamen Unterbrechung durch die Erlebnisse meiner Eltern, unsere Familientradition zu bewahren, könnte ich vielleicht mit einem Spruch von Albert Einstein fortsetzen:

„Schau ich mir die Juden an, hab’ ich wenig Freude dran. Fallen mir die andern ein, bin ich froh, ein Jud zu sein.“

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