„Was Nina wusste“

In dem neu im Hanser-Verlag erschienenen Buch dieses Titels erzählt David Grossmann die Geschichte von drei Generationen einer jugoslawisch-jüdischen Familie und wie sie alle Lügen und Unklarheiten der Vergangenheit klären konnten.

Von Jazlynn Schröder

Vera, Nina, Rafi und Gili sind drei Generationen einer Familie, deren Geschichte durchzogen ist von Geheimnissen und Lügen, die sich bis in die Gegenwart auf die Beziehungen innerhalb der Familie auswirken. In dem neu im Hanser-Verlag erschienenen Buch „Was Nina wusste“ erzählt David Grossmann die Geschichte dieser Personen und wie sie alle Lügen und Unklarheiten der Vergangenheit klären konnten.

Vera Novaks 90. Geburtstag wird im Kibbuz in Jerusalem gefeiert und alle Nachkommen erscheinen. Sogar Nina, Veras einzige leibliche Tochter, hat sich entschieden, nach längerer Zeit der Abwesenheit, sich wieder bei der Familie blicken zu lassen. Nina fühlt sich von ihrer Mutter verraten und verlassen, weil sie als Kind von ihr alleingelassen worden ist, als sie ins titoistische Umerziehungslager auf der jugoslawischen Insel Goli Otok gehen musste, weil man den Vorwurf von Staatsverrat gegen sie und ihren damaligen Ehemann Miloš erhob. Diese Missstände und Missverständnisse werden geklärt, als Nina, Rafi, Vera und Gili sich auf eine Reise begeben, auf Spurensuche nach der Familiengeschichte. Die vier Reisen von Jerusalem nach Kroatien, zum Geburtsort der Großmutter, bis hin auf die ehemalige jugoslawische Gefängnisinsel Goli Otok. Nina ist demenzkrank, weswegen Gili und Rafi, die beide aus der Filmbranche kommen, einen Dokumentarfilm drehen, in dem die für die Familiengeschichte wichtigsten Orte besucht werden, und Mutter und Tochter beide berichten, was sie damals an jenem Ort erlebt haben. Dies führt zur Auflösung der Missverständnisse und deckt die Lügen der Vergangenheit auf.

Die auf einer wahren Begebenheit basierende Geschichte wird emotional und mitreißend erzählt. David Grossmann hat es geschafft Spannung, Romantik und Humor in ein Buch zu bringen, dass sehr ernste und auch traurige Themen behandelt.

Grossmann verwendet in seinem Buch verschiedene Erzählarten, um eine zeitliche Einordnung des Beschriebenen zu erschaffen. Die verschiedenen Erzähltechniken sind vergleichbar mit Flashbacks aus Filmen. Plötzlich gibt es einen Cut im Film und es wird zu einer anderen Sequenz gesprungen, um die Vergangenheit beziehungsweise eine Erinnerung zu zeigen.

Wenn die Handlung in der Vergangenheit stattfindet, verwendet Grossmann eine personale Erzähltechnik aus der Sicht einer dritten Person. Sobald die Handlung wieder in der Gegenwart spielt, wird aus der Ich-Perspektive von Gili erzählt. Zusätzlich verwendet er verschiedene Schriftfonts für die verschiedenen Zeiten. Diese Abwechslung der Erzählperspektiven macht das Werk anspruchsvoller und kann anfangs für eine leichte Verwirrung beim Lesen sorgen, welche jedoch schnell aufklart, da es in der Gesamtheit des Werkes für einen zeitlichen Überblick sorgt.

Grossmann schreibt die wörtliche Rede der kroatischstämmigen Vera in einer Art, dass der Akzent, der ihre Sprache durchzieht, beim Lesen „hörbar“ wird. Es ist faszinierend, wie gut er das bewerkstelligt hat.

Goli Otok

Grossmann verleiht dem Leser in seinem Buch Einblicke in das Umerziehungslager Goli Otok, und vermittelt dem Leser unter welchen Umständen die Häftlinge dort gelebt haben. Dies wird deutlich erkennbar, wenn Vera in die Vergangenheit schlüpft und sich an das Lager erinnert. Für Personen, die sich bis dato nicht allzu sehr mit dem Jugoslawienkrieg und den zugehörigen Umerziehungslagern auseinandergesetzt haben, ist der Roman unter anderem auch sehr informativ.

Grossmann verwendet einen sehr detaillierten und bildlichen Schreibstil, der einen in das Geschehen hineinversetzt und miterleben lässt. Dies bewirkt er durch beschreibende Begriffe und Adjektive, welche das Beschriebene greifbar machen und Bilder im Kopf erzeugen. Die direkte Rede macht einen Großteil der Geschichte aus und erzeugt den Eindruck als sei man selbst Zeuge des Geschehens.

In dem Roman geht es auch um die Psyche der Protagonisten. Grossmann schafft es die innere Verfassung authentisch und natürlich in dem Roman darzustellen, dass man fast glauben mag, dass die betroffenen Personen den Text selbst verfasst hätten, dies bewirkt er durch die Anpassung seines Schreibstils an die jeweilige Person, um die es gerade geht. Da ein beträchtlicher Teil der Geschichte aus der Perspektive von Gili erzählt wird, erfahren wir auch viel über ihre Eindrücke und Empfindungen. Somit sind auch die Wahrnehmungen der verschiedenen Personen teilweise sehr subjektiv, da es nicht direkt aus deren Perspektive beschrieben wird, sondern aus Gilis.

Abgesehen von der Didaktik des Romans, ist er auch inhaltlich sehr umfassend aufgestellt. Er behandelt die Themen Liebe, Beziehungen inner- sowie außerhalb der Familie, Historische Aspekte wie die Verfolgung von Systemkritikern, der Umgang mit Krankheiten wie Demenz und die Auswirkung von frühkindlichen Ereignissen, die die ganze Entwicklung eines Menschen bis ins Alter beeinflussen können. Diese ganzen Themen bringt Grossmann unter einen Hut, ohne mittendrin den Faden zu verlieren.

 

Viele Figuren

Der Roman hat mich von Beginn an gefesselt. Anfangs wird man mitten ins Geschehen geworfen und es ist fragwürdig wer gerade erzählt und worüber gesprochen wird. Doch genau das gibt den Anreiz weiter zu lesen. Die sich, durch fast das gesamte Werk, stellende Frage, um die sich das Buch dreht, regt einem zum Nachdenken an, wie man selbst in solchen Situationen reagieren würde. Es kommen die Fragen auf, ob man den vor kurzem verstorbenen Ehepartner und all dessen als auch seine eigenen Werte und Prinzipien verleumdet oder ob man standhaft bleibt und das schreckliche Schicksal für sich und seine Tochter in Kauf nimmt, welche für einige Jahre als Waise aufwachsen muss.

Es ist ein anspruchsvoller Roman, welcher den Leser zum Denken und Reflektieren anregt. Sehr ernste und teils auch triste Themen werden behandelt, ohne dass der Roman melancholisch wirkt. Im Gegenteil sogar, der Roman beinhaltet reichlich Humor und leichte Themen, die die gesamte Atmosphäre der Geschichte erhellen. Der Roman ist literarisch und inhaltlich eindrucksvoll und entfesselt mit seiner durchwachsenen und lebendigen Geschichte eine Leseerfahrung, die bemerkenswert ist. Ich kann den Roman von David Grossmann nur wärmstens empfehlen und hoffe, dass es auch andere Literaturbegeisterten gefallen. Definitiv ein Buch, dass ich erneut lesen werde.

 

 

„Was Nina wusste“

David Grossmann

352 Seiten

ISBN: 978-3446267527

Carl Hanser Verlag

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