Düstere Erinnerungen an Tarnow: „Wir waren auf Judentreibjagd“

Agnieszka Wierzcholska beschreibt in ihrem Buch „Nur Erinnerungen und Steine sind geblieben. Leben und Sterben einer polnisch-jüdischen Stadt: Tarnów 1918-1945“ das Schicksal und die Geschichte der jüdischen Einwohner. Während des Holocaust wurden 27.000 Juden aus Tarnow ermordet, ihre Häuser und Synagogen geplündert. Von der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung der Stadt gab es kaum Solidarität, viele zogen sogar Profit aus den Pogromen und der Deportation. (JR)

Von Theodor Joseph

Es gibt ein Foto, vermutlich von einem Wehrmachtssoldaten aufgenommen, das einen orthodoxen Juden mit umgehängten Tallit, aber ohne Kippa, zeigt. Der Jude kniet mit erhobenen Armen und verängstigtem Blick vor einer Gruppe uniformierter Deutschen. Der vordere Soldat steht breitbeinig und grinsend, in der Rechten einen Prügelstock, vor dem Juden, noch unschlüssig, wie er mit dem gedemütigten Juden weiter verfahren soll – eine Szene aus Tarnów, eine polnische Kleinstadt, in die die Wehrmacht am 8. September 1939 einmarschiert war. Im Gefolge der Wehrmacht erschienen die Einsatzgruppen, mobile Tötungseinheiten.

Tarnów ist eine Stadt im oberschlesischen Polen, östlich von Krakau gelegen. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts sind in der Stadt Juden bezeugt. Vor dem Zweiten Weltkrieg war die Hälfte der Bevölkerung jüdisch. Fromm ging es unter den Tarnówer Juden zu. Die Synagogen und Gebetstuben waren am Schabbat voll. Die Stadt war dann wie verwandelt. Ein Rabbiner erinnert sich: „Seine Majestät, der shabes, verbreitete sein Königreich über alle Gassen und Viertel, wo Juden mit seidenen kapotes und shtraymlekh umhergingen“. Die Topografie der Stadt war von jüdischen und katholischen Gottes- bzw. Gebetshäusern geprägt, der Schabbat war für die Christen ein bekannter und sichtbarer Feiertag, die Kirchenglocken waren sonntags für die Juden der Stadt hörbar.

 

Keine Solidarität für die jüdischen Mitbürger

Zwischen den Weltkriegen hatten die 25 000 Tarnówer Juden unter einer diskriminierenden, antisemitischen Politik der Zweiten Polnischen Republik zu leiden. Agnieszka Wierzcholska, Historikerin für polnisch-jüdische Beziehungsgeschichte, zeichnet in ihrer Fallstudie die Sozialgeschichte der polnisch-jüdischen Stadtbevölkerung nach, bevor die deutschen Besatzer diese unterwarfen und ermordeten, während der Gewaltherrschaft und auch nachdem die Besatzer wieder abgezogen waren.

In Tarnów wurde die jüdische Bevölkerung, auf der niedrigsten Stufe der von den Besatzern oktroyierten rassistischen Hierarchie stehend, vor den Augen ihrer nichtjüdischen Nachbarn in einem Blutrausch auf bestialische Weise gequält und auf verschiedenste Arten ermordet. Immer wieder boten sich für nichtjüdische Polen Gelegenheitsfenster, um von den deutschen Maßnahmen gegen Juden zu profitieren. Das von den Deutschen induzierte maligne Machtgefälle unter den ungleichen Opfern – nichtjüdische Polen einerseits und Juden andererseits – rief seit Beginn der Besatzung Profiteure unter der Lokalbevölkerung auf den Plan. Zudem konnte sich dieses von den Deutschen neu eingeführte Machtgefälle zum Teil auf die bereits vorhandenen antisemitischen Muster stützen und eine eigene Dynamik entfalten. Es gab keine breite Norm der Solidarität mit den verfolgten Juden.

Die ausgeübte Gewalt wurde unmittelbar und in größter Nähe ausgeübt. Die nichtjüdischen Stadtbewohner sahen, hörten und rochen, wie ihre Nachbarn, Handelspartner sowie Schulkameraden mitten in der Stadt in einem Blutbad ermordet wurden. Manche stolperten buchstäblich über Leichenteile in den umliegenden Wäldern, kurz: es war eine mit allen Sinnen wahrnehmbare Erfahrung des Genozids in ihrer Heimatstadt. Die große Nähe der ausgeübten Gewalt und zum Teil die „Intimität des Gewaltgeschehens“, so Wierzcholska, machten jegliche Passivität oder lediglich ein Bystanding unmöglich. Und damit waren alle nolens volens involviert in das sich abspielende Geschehen.

Die Deutschen hatten es bei ihrem Überfall auf Polen am 1. September 1939 eilig und ließen keinen Zweifel an ihren eliminatorischen Absichten, immer radikaler, immer brutaler: Fünf Tage nach dem Einmarsch mussten jüdische Geschäfte mit einem Davidstern markiert werden. Bei Nichtbefolgung drohte die Todesstrafe. Es folgten Razzien auf der Straße, um Juden für diverse Aufgaben wie Straßenfegen oder Gepäcktragen zu rekrutieren. Deutsche Soldaten fotografierten chassidische Juden und rissen ihnen die Bärte aus. Ab dem 20. Oktober 1939 mussten Juden über 12 Jahre ein weißes Armband mit einem blauen Davidstern tragen.

 

Demütigung und Gewalt

Am 9. November 1939, dem ersten Jahrestag des Novemberpogroms in Deutschland, wurden alle Synagogen sowie die zahlreichen Gebetshäuser, die Schtibel, der Stadt zerstört. Die Menschen aus den umliegenden Häusern flohen in Nachtgewändern aus ihren Wohnungen. Es gibt Berichte, dass nichtjüdische Polen in die verlassenen Wohnungen eindrangen und Hausrat und Wertsachen aus ihnen herausholten. Thora-Rollen wurden geschändet, nur Ruinen blieben übrig.

Dann die Juden. Im Frühjahr 1940 wurde ihnen ein „Bußgeld“ von einer halben Million Złoty auferlegt. Sie wurden zur Zwangsarbeit gepresst und ihrer Habe beraubt. Allein zwischen September 1943 und Februar 1944 sollen, laut eines Zeugenberichts, 200 Eisenbahnwaggons mit jüdischer Habe aus Tarnów abtransportiert worden sein. Neben dem Gewaltschub, den die Tarnówer Juden erfuhren, wurde ein Teil von ihnen seit dem Frühjahr 1942 zu Objekten rassistisch-„anthropologischer“ Untersuchungen. Eine Studie zu galizischen „Judentypen“ wurde vom Anthropologischen Institut der Universität Wien und vom Institut für Deutsche Ostarbeit Krakau (Sektion Rassen- und Volkstumsforschung) in Tarnów durchgeführt. Die Menschen wurden vermessen und fotografiert. Anschließend wurde ein Bericht über die „Vorderasiatische Rasse“ angefertigt.

Es folgten nach und nach Mord-„Aktionen“ auf den Straßen der Stadt und auf dem jüdischen Friedhof. Am 11. Juni 1942 wurden 3 500 Tarnówer Juden nach Belzec deportiert, innerhalb von drei Tagen wurden weitere 10 000 Personen ins Konzentrationslager verschleppt. So ging es weiter bis Ende 1943. Dreihundert Juden blieben in Tarnów mit dem Befehl zurück, die letzten Habseligkeiten der Deportierten zu sortieren. Nachdem man auch sie nach Płazów deportiert hatte, wurde Tarnów für „judenrein“ erklärt. 27 000 Juden wurden während des Holocaust ermordet. Die Stadt selbst blieb weitestgehend unzerstört.

Tarnów war kein Einzelfall. Im östlichen deutschen Machtbereich gab es hunderte Tarnóws. Die euphemistisch „Aktionen“ genannten antijüdischen Maßnahmen erfolgten in arbeitsteiliger Koordination, an der manchmal die Wehrmacht beteiligt war – allein zum Zwecke des Mordens. Ein Beteiligter schrieb seiner Frau: „In den letzten Tagen konnte ich nicht an Dich schreiben, wir waren in der Gegend von Tarnow auf Judentreibjagd. Morgens um 1 hiess es heraus aus den Betten, … die Juden zusammentreiben. Tolle Dreckjuden sag ich Dir. Gestern wars am Schlimmsten. 3600 haben wir geholt, Männer, Weiber und Kinder.“

 

Ermordung oder Zwangsarbeit

Es gab Fälle von „Feilschen“ um Juden zwischen unterschiedlichen Besatzungsbehörden. Dann konnte es ein stundenlanges Gezerre geben, begleitet von gegenseitigen Drohungen zwischen SS und Wehrmacht. Dabei ging es um das utilitaristische Verständnis von Juden als Arbeitskräfte zu Sklavenbedingungen, die für die deutsche Kriegswirtschaft von Nutzen seien, und dem Vernichtungswillen des NS-Polizeiapparats, der bereits die „Endlösung“ in Gang gesetzt hatte. Dieses Beispiel zeigt die Handlungsoptionen der diversen Entscheidungsträger auf.

Auf dem Marktplatz von Tarnów vollzogen die Besatzer ihre Gewaltexzesse und breite Bevölkerungsschichten nahmen aktiv daran teil. Der Marktplatz mit seinen jüdischen Verkaufsständen wurde sozusagen „entjudet“. Das öffentlich ausgetragene Gemetzel und buchstäbliche Blutbad im Zentrum der Stadt zeigt, dass der Holocaust nicht nur als industriell betriebenen Massenmord in weit entfernten Vernichtungslagern zu verstehen ist – die „killing fields“ in Osteuropa waren mehr als die Gaskammern von Auschwitz.

Dadurch dass ein erheblicher Teil der jüdischen Bevölkerung nach den Massakern und den „Aussiedlungen“ nicht mehr „da waren“, eröffneten für die nichtjüdische urbane Bevölkerung Leerstellen in jenen sozialen und ökonomischen Positionen, die die ethnischen Polen seit Längerem für sich eingefordert hatten. Zudem gab es Polen, die auf die Totalität der Vernichtung spekulierten und an ihrem neuen Besitz, das ehemals Juden gehört hatte, festhalten wollten.

Agnieszka Wierzcholska schildert die Ereignisse in Tarnów schonungslos und scheut sich nicht, auch nur das kleinste Detail dieser Blutorgie unerwähnt zu lassen, was dem Leser einiges abverlangt.

 

Komplizenschaft unter den Polen

Das polnische Volk, selbst Opfer des NS-Terrorregimes, trennte sich von seinen Juden ohne besonderes Bedauern. Es hatte mit angesehen, wie Juden in Ghettos gesperrt wurden, Juden in Gräben, die sie selbst ausheben mussten, erschossen wurden, in Synagogen verbrannten, in die Vernichtungslager deportiert wurden. Das polnische Volk sah es und schwieg, auch wenn viele Polen Juden geholfen, sie versteckt, sich und ihre Familien dadurch in Gefahr gebracht und später von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem die Auszeichnung „Gerechte der Nationen“ erhalten hatten. 23 Familien aus Tarnów wurden von Yad-Vashem geehrt. Andere wiederum hatten Juden eigenhändig umgebracht, denunziert oder sie an die Nazis ausgeliefert, meist aus Geldgier.

Es gab individuelle Helfende in Tarnów, die große Empathie und Mut bewiesen, um ihren jüdischen Mitmenschen zu helfen, obgleich sie sich selbst und ihre Familien dabei in Gefahr brachten. Doch nicht alle Helfenden waren von edlen Motiven geleitet. Oft konnte die Linie zwischen Habgier und Altruismus sehr dünn sein. Auf dem Land gab es regelrechte „Helferindustrie“, die dadurch entstand, dass sich Helfende ihre Unterstützung teuer bezahlen ließen.

Als die Rote Armee am 18. Januar 1945 Tarnów einnahm, fanden sie noch 232 Juden in der Stadt vor. Nach dem Krieg herrschten in Polen weiterhin ausgeprägte antisemitische Ressentiments, die den nationalsozialistischen Judenmord überdauert haben. Obwohl es in Tarnów nach dem Holocaust, wie z.B. im Juli 1946 in Kielce, keinen Pogrom gab, konnte sich ein jüdisches Leben hier nicht mehr etablieren. Dennoch: Die antisemitische Stimmung war so angeheizt, dass die Stadt einem Pulverfass zu gleichen schien.

Als im Juni 1945 in der Nachbarschaft von Tarnów ein junges Mädchen umgebracht wurde, fiel der Verdacht sofort auf die Juden und das Gerücht einer Ritualmordlegende machte die Runde. Die Atmosphäre in der Stadt nahm pogromähnliche Züge an. Die Tarnówer Sicherheitsbehörden griffen mit dem Zug fliehende Juden auf und misshandelten sie. Auch wenn die große Gewalteskalation in Tarnów ausblieb, ereigneten sich antisemitisch motivierte Übergriffe und vereinzelte Morde. Mit der sogenannten Gomułka-Aliyah verließen die wenigen überlebenden Juden Stadt. Alle bis dahin noch in der Stadt verbliebenen jüdischen Institutionen wurden aufgelöst. Und zum zweiten Mal war jüdisches Leben beendet. Hier, im Jahre 1956, endet auch die Studie.

Im Jahre 1993 reiste der ehemalige Arzt Amos Lavyel aus Haifa in seine Heimatstadt Tarnów, wo er eine Rede zum 50. Jahrestag der Ghettoliquidierung hielt. Er führte aus: „Wenn wir durch Tarnów schreiten, erkennen wir jede Straße, jeden Winkel, jedes Haus. Jeder Ort ruft uns unsere Nächsten ins Gedächtnis, die nicht mehr da sind. Das blieb von unserem Tarnów: Erinnerungen und Steine“.

 

Agnieszka Wierzcholska: Nur Erinnerungen und Steine sind geblieben. Leben und Sterben einer polnisch-jüdischen Stadt: Tarnów 1918-1945, Brill/Schöningh Paderborn 2022, 665 S., 89 Euro.

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