Großbritannien: Stärker als die EU glaubt

Die Brüsseler Bürokraten unterschätzen die Macht der zweitgrößten Volkswirtschaft Europas – jeder wirtschaftliche Boom in Großbritannien wird ihnen in Zukunft schmerzhaft ihre eigene Überflüssigkeit vor Augen führen.

© AFP

Von Markus Somm

Woran manche nie geglaubt hatten, ist nun wahr geworden: Großbritannien tritt aus der Europäischen Union aus, und es handelt sich wohl um das folgenreichste historische Ereignis seit dem Fall der Berliner Mauer. Europa, insbesondere die EU, wird sich neu erfinden müssen. Von jener Euphorie, die 1989 unseren Kontinent, und zwar den Westen wie den Osten ergriffen hatte, ist wenig übriggeblieben. Die Vereinigten Staaten von Europa – denn dieses Ziel schien Anfang der 1990er Jahre in greifbare Nähe gerückt – finden so schnell nicht statt. Noch überwiegt business as usual.

Die meisten Politiker, Journalisten, zum Teil auch Wirtschaftsführer sind sich der Tragweite dieses mutigen, britischen Volksentscheides nicht bewusst. Sie gehen davon aus, die EU existiere einfach so weiter, sie denken, Großbritannien sei in erster Linie von seinem Beschluss betroffen, sie meinen, die Zeiten hätten sich kaum geändert – abgesehen davon, dass es an den Rändern des politischen Spektrums etwas rumpelt, quietscht und rumort. Barbaren kriechen herum und machen Krawall, Klimajugendliche schwänzen die Schule und reden frech, ansonsten nichts Neues im Westen. Sie irren sich. Sie übersehen die Morgendämmerung einer neuen Epoche.

 

Atomkraft mit intakter Armee

Großbritannien ist die zweitgrößte Volkswirtschaft Europas, zugleich für die EU neuerdings der wichtigste Handelspartner außerhalb des Staatenbundes, das Land ist zudem eine Atommacht und verfügt über eine der wenigen noch seriösen, will heißen einsatzbereiten Armeen. Ohne Großbritannien, das wissen die Politiker in der EU, hat jeder europäische Versuch, sich sicherheitspolitisch von den USA zu emanzipieren, den Charme eines Witzes.

Ebenso gehört London zu den bedeutendsten Finanzplätzen der Welt, gemäß dem Global Financial Centres Index ist nur New York von größerem Gewicht, weit abgeschlagen liegen Frankfurt, Paris oder Amsterdam. Selbst Zürich, ebenso eine Stadt außerhalb der EU, ist wichtiger als die erwähnten EU-Finanzplätze. Zürich in der kleinen Schweiz liegt auf Rang 6 – vor Frankfurt im großen Deutschland. Kaum eine europäische Firma kommt an London vorbei, wenn sie sich auf die Suche nach einer Finanzierung macht. Schließlich besitzt Großbritannien sieben der vierzig besten Universitäten der Welt, die EU dagegen keine, die Schweiz übrigens zwei.

Wenn die EU-Kommission sich also einbildet, die Verhandlungen mit den Briten führte sie aus einer Position der Stärke, während die Insulaner froh sein müssen, dass man mit ihnen überhaupt ins Geschäft kommen will, dann täuscht sie sich. Ebenfalls sollte die Kommission Boris Johnson nicht unterschätzen. Der britische Premierminister, den man lange als Clown verlachte, obschon man es besser wusste, hat eben eine Mehrheit erzielt von einem Ausmaß, wie das keiner der amtierenden Regierungschefs in der EU je noch erleben wird.

 

Gespenst

Die Deutsche Angela Merkel wandelt wie ein erschöpftes Gespenst durch die Gänge ihres Amtes, eine Kanzlerin, die ihren politischen Tod längst überlebt hat; Emmanuel Macron, der Franzose, wird wohl bald von Marine Le Pen abgelöst, der Rechtspopulistin, sofern er nicht schleunigst Reformen durchsetzt, wie sie das letzte Mal Napoleon Bonaparte gelungen sind. Es sieht schlecht aus.

Jahre des Selbstbetrugs. Was hat man die Briten verspottet, und ihre Demokratie, eine der ältesten der Welt, für tot erklärt, wie groß war die Vorfreude auf das Debakel, das ihrer Wirtschaft angeblich drohte: alles falsch. Immerhin, der eine oder andere Journalist ist aufgewacht. So schreibt die „Frankfurter Allgemeine“: „Die Katastrophen-Propheten zum Brexit-Votum vor dreieinhalb Jahren, die einen Wirtschaftseinbruch vorhersagten, lagen falsch. Im Gegenteil: Die Arbeitslosigkeit sank, eine Million neue Jobs wurden geschaffen.“

 

Es dürfte noch besser werden

„Singapur an der Themse“ soll, so hört man, der Albtraum der Eurokraten bedeuten, also die Vorstellung, dass Großbritannien sich von all jenen Regulierungen der EU befreit, die sich als wenig sinnvoll erwiesen haben, um Wohlstand zu schaffen. Den Wettbewerb der Systeme, wir wissen das als Schweizer nur zu gut, scheuen die Kommissäre in Brüssel wie der Teufel das Weihwasser. Niemand soll merken, wie miserabel sie regieren. Eben erst hat Michel Barnier, der Chefunterhändler der EU, dies betont: Man könne nie zulassen, dass London sich darauf kapriziere, andere, sprich: wirtschaftsfreundlichere, Regulierungen anzuwenden. Wie die katholische Kirche kann man die EU offenbar nie verlassen, auch wenn man sie verlassen hat.

 

Zuerst erschienen in der Schweizer SonntagsZeitung

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